Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 15. Februar 2015 (Estomihi)

GOTTESDIENST

ZUM ABSCHLUSS DES GOSPELWORKHOPS 

Text: Amos 5,21-24.27

Ist das nicht ein toller Gottesdienst heute Morgen? Die Kirche ist so voll wie selten. An die hundert begeisterte Gospelsängerinnen und -sänger zeigen ihr frisch erworbenes Können, stecken uns an mit ihrer Freude an der Musik, singen und spielen uns das Lob Gottes ins Herz und – zumindest ansatzweise – auch in Arme und Beine. Wir singen mit, wenn alles singt, und gehen nachher beschwingt und fröh­lich nach Hause. Und mancher mag dabei denken: „Ach, wenn es doch jeden Sonntag so wäre!“

Aber jetzt stellen Sie sich mal folgendes vor: Da hat der Chor gerade eines seiner Lieder beendet. Der Schlussakkord schwebt noch im Raum, und gleich wird es Applaus geben. Doch dann steht in den hinte­ren Reihen jemand auf und ruft: „Halt!“

Die Chormitglieder schauen verdutzt, alle drehen sich um, um zu sehen, was da los ist. Der Mann, der jetzt in den Mittelgang tritt, ist fremd in Geis­weid. Auch im übrigen Siegerland kennt ihn nie­mand. Was will der hier, und was hat er bloß? Aber noch bevor sich die erste Verwirrung legt, be­ginnt der Mann mit erho­bener Stimme zu sprechen: „Hört auf! Gott hasst eure Gottesdienste – er kann sie nicht ausstehen. Eure Kollek­ten sind ihm egal, und er pfeift auf eure Spen­den. Lasst ihn in Ruhe mit eurer ewigen Singerei – Choräle, Gospels, Worship-Songs, ganz egal! Euer Geklatsche und Gedudel geht ihm auf die Nerven. Geht lieber nach Hause und setzt euch für eure Mitmen­schen ein: Besucht die Einsamen, küm­mert euch um die Kran­ken, vertei­digt die, denen Unrecht ge­schieht, lindert mit eurem Geld die Not der Ärmsten, statt es für Beleuchtung und Beschal­lung rauszu­schmeißen! Aber weil ihr das ja sowieso nicht tun werdet, wird Gott euch strafen. Immer mehr Leute werden euch wegster­ben und aus der Kirche aus­treten, ihr werdet immer weniger Kirchen­steuern einnehmen, ihr werdet auf Pfarrer und anderes Perso­nal ver­zichten und noch mehr Häuser verkaufen müs­sen, bis ihr irgend­wann nur noch ein kleines, vergessenes Häuflein seid, das wehmü­tig der guten alten Zeit nach­trauert. Wundert euch nicht, wenn es so kommt, denn ihr habt es nicht besser verdient!“

Was würde wohl nach diesem Auftritt passieren? Wahrscheinlich wäre erst einmal Totenstille. Für einen Moment wären alle ge­schockt, und mancher würde dar­über nachdenken, ob der Mann nicht Recht haben könnte. Aber dann würde sich doch die Entrüstung Bahn brechen: „Das ist ja wohl der Gipfel! Wie kann der sich nur so aufblasen? Wie kann der sich einfach hier rein schleichen und unse­ren Gottesdienst stören? Er ist ja noch nicht mal von hier! Wie kann er sich da herausnehmen, über uns zu Gericht zu sitzen, und das auch noch im Namen Gottes? Er kann doch gar nicht beurteilen, ob das wahr ist, was er uns vorwirft! Der gehört bestimmt zu einer Sekte, zu irgend so einem Verein von fundamentalistischen Spinnern, die glau­ben, dass sie die Wahrheit für sich gepachtet haben.“ Dann würden die anwesenden Presbyter den Störenfried höflich aber be­stimmt hinausgeleiten und ihm für die Zukunft Hausverbot erteilen. Wahrschein­lich wäre der Vorfall noch eine Zeit lang Stadt- und Dorf­gespräch, vielleicht gäbe es auch einen Artikel in der Siegener Zei­tung mit anschließender Leserbriefdebatte, aber irgendwann würde der nächste Aufreger kommen und das Ganze wäre vergessen.

Aber was wäre, wenn der Mann tatsächlich im Namen Gottes reden würde? Wenn er ein Prophet wäre, wie Amos einer war? Von dem sind uns nämlich ganz ähnliche Worte überliefert, und der Zufall hat ergeben, dass ich im Rahmen der Erprobung einer Neuordnung der Predigttexte darüber heute predigen soll:

Ich hasse eure Feiertage und verachte sie

und mag eure Versammlungen nicht riechen.

An euren Speisopfern habe ich kein Gefallen

und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen.

Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder;

denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!

Stattdessen sollte das Recht strömen wie Wasser

und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Und ich will euch wegführen lassen bis jenseits von Damaskus,

spricht der Herr.

Das ste­ht heute in der Bibel. Deshalb gehen wir davon aus, dass Amos recht hatte, als er mit diesen Worten die Opfergottesdienste im Reichsheiligtum zu Bethel verurteilte. Die Israeliten, zu denen er sprach, sind für uns Heuchler und Schurken: feiern präch­tige Got­tesdienste, aber kümmern sich nicht um die Not der Armen. Dagegen gilt uns der Prophet Amos als mutiger Kämpfer für Recht und Ge­rechtigkeit und für Gottes Gebot. Damals jedoch war diese Rollenvertei­lung keineswegs klar. Die Menschen im Heiligtum von Bethel waren genauso überzeugt, zur Ehre Gottes beisammen zu sein, wie wir das sind. Sie hielten sich bestimmt genauso für anstän­dige Men­schen, wie wir es heute tun. Und der Priester Amazja, der Amos aus Bethel nach Juda, in seine Heimat, abschob, war bestimmt überzeugt, im Namen Gottes zu handeln.

Könnten die Worte des Amos also auch uns gelten, unserer Kirchenge­meinde, dem Gospel-Workshop, allen, die heute da sind? Geschähe uns Recht mit einer solchen Strafpredigt? Wir sollten es uns mit der Antwort nicht zu leicht ma­chen!

Natürlich gibt es vieles, wofür wir froh und dankbar sein können: Dass es nun schon zum fünfzehnten Mal diesen tollen Workshop gegeben hat, dass er immer noch so viele Menschen anzieht, und dass es engagierte Leute gibt, die da immer wieder viel Arbeit reinstecken. Und was für den Workshop gilt, das gilt auch für unsere Gemeinde im Ganzen: für die vielen Ehrenamtlichen mit ihren vielfälti­gen Gaben, für den guten Zusammenhalt, für die solide Ba­sis, auch was Gebäude und Finanzen angeht. Wer schon Gemeinden erlebt hat, in denen es das alles kaum oder gar nicht gibt, weiß diese Dinge sehr zu schätzen. Und ich denke, dass sich auch Gott darüber freut.

Aber wenn an den Worten des Amos etwas dran ist, dann ist das alles kein sanftes Ruhekissen. Man kann sich wohl fühlen in einer Ge­meinde, vieles für sich mitnehmen und sich vielfältig einset­zen – das ist wahr und das ist ein Grund zur Freude. Aber es steckt auch immer eine Gefahr darin. Die Gefahr nämlich, dass die, die drin sind, sich so wohl fühlen und mit sich selber beschäftigen, dass sie gar nicht mehr an die denken, die draußen sind. Und das sind nicht wenige, sondern es ist der Großteil unserer Gemeinde­glieder – von denen, die sonst noch um uns herum leben, ganz zu schweigen. Haben wir uns da­mit abgefunden, weil es ja immer so war und immer so bleiben wird, oder macht es uns noch Gedanken?

Wenn diese Kirche so leer ist an Sonntagen, wo nicht gerade Gospel­workshop ist, liegt das zum Beispiel auch daran, dass viele, die frü­her kamen, inzwischen zu alt und gebrechlich dafür sind. Den­ken wir an sie? Wer­den wir auf sie aufmerksam, wenn sie in un­serer Nähe woh­nen? Können wir uns um sie kümmern, und wenn ja, wie?

Ein zweites Beispiel: Wir haben zurzeit verteilt auf zwei Jahrgänge rund 100 Konfirmanden. Und zu unserem Einzugsbereich gehört ein Evangelisches Familienzent­rum, das in fünf Tagesstätten rund 250 Kinder betreut. Viele der Konfis und viele der jungen Familien haben mit Kirche nicht wirk­lich was am Hut. Aber vielleicht ändern sie ihre Meinung, wenn sie merken, dass sie uns willkommen sind, dass wir bereit sind auf ihre Bedürfnisse einzugehen, auch wenn es andere sind als unsere, so dass sie bei uns einen Platz zum Dabei­sein und Mitmachen finden. Sind wir dafür offen? Tun wir genug dafür? Oder regen wir uns nur gern auf über Konfis oder Kindergarten­eltern, die sich in der Kirche nicht benehmen können?

Drittes und letztes Beispiel: Wir haben als Kirche immer auch einen gesellschaftlichen Auf­trag. Viele erwarten Orientierung von uns: Stellungnahmen zu aktuel­len Problemen und entsprechendes Han­deln. Wir mögen uns damit überfordert fühlen und es deshalb ganz gern den Hauptamtli­chen und den Experten überlassen, aber wir kön­nen trotzdem nicht daran vor­bei. Trauen wir uns noch, in Streitfragen eine christlich fundierte Position zu beziehen, auch wenn wir dafür Prügel einstecken? Nehmen wir un­ser Stück Verantwortung für die Geschicke dieser Welt wahr, auch wenn es vielleicht nur ein sehr kleines Stück ist?

Das sind nur Fragen, keine fertigen Antworten. Aber ich finde, wir müssen sie stellen. Wir werden nie alle Prob­leme lösen und alle Not beenden können, nicht einmal dann, wenn wir nur an unsere engste Umgebung denken. Aber auch wenn wir im Kleinen anfangen, kön­nen wir viel bewegen. Wir müssen es nur wol­len und müssen es dann auch tun. Mit einem „wir können doch eh nichts ändern“ gibt Gott sich jedenfalls nicht zufrieden. Wenigs­tens das sollten wir uns von Amos hinter die Ohren schreiben lassen.

Eins muss ich allerdings noch sagen: Wir könnten Amos so verste­hen, als wolle er Gottesdienst und Dienst am Menschen gegeneinan­der ausspielen, nach dem Motto: Gerechtigkeit statt Got­tesdienst, Arbeiten statt Be­ten, Handeln statt Singen. Aber dann hätten wir ihn gründlich missverstanden. Denn das Gegenteil ist richtig: Je mehr wir unsere Verantwortung für die Menschen wahr­nehmen, desto dringen­der brauchen wir den Gottesdienst. Denn wir müssen ja ir­gendwo Kraft schöpfen für das, was wir tun. Wir brau­chen Verge­bung für das, was wir falsch machen. Und wir brauchen die Gemein­schaft mit Gott und unseren Mitchristen, die uns Halt gibt. Sonst wird unser Handeln blinder Aktionismus, und uns wird bald die Puste ausgehen. Damit ist keinem geholfen. Gottesdienst und Dienst am Menschen gehören zusammen wie Einatmen und Ausatmen. Also ist es gut, wenn wir auch weiterhin schöne Gottes­dienste wie den heutigen feiern – mit Musik und mit Stille, mit Reden und mit Hören, mit Ernst und mit Freude. Und wenn wir das ausgiebig getan haben, dann können wir uns frisch gestärkt dort­hin wenden, wo Menschen uns brauchen. Gott segne uns dabei! Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein