Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 05.05.2019

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG MISERICORDIAS DOMINI

Text: Joh 10,11-16

Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte setzt sein Leben ein für die Schafe. Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe.

Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich setze mein ein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.

Jesus Christus, der gute Hirte – wo ist er mir nicht überall schon begegnet! Als jungen Mann mit Schaf auf der Schulter sah ich ihn an der Wand einer römischen Katakombe – eine der ältesten Jesus-Darstellungen überhaupt. Bis heute sind ihr unzählige gefolgt, meist näher am Kitsch als an der Kunst. Als Mittelpunkt einer romantischen Schäfer-Idylle hing der gute Hirte zum Beispiel über dem Bett meiner Großmutter – ich könnte das Bild heute noch beschreiben. Und dann kommt mir noch ein altes Lied aus der Sonntagschule in den Sinn:

Weil ich Jesu Schäflein bin, 
freu' ich mich nur immerhin
über meinen guten Hirten,
der mich wohl weiß zu bewirten,
der mich liebet, der mich kennt
und bei meinem Namen nennt.
Unter seinem sanften Stab
geh' ich aus und ein und hab'
unaussprechlich süße Weide,
dass ich keinen Mangel leide;
Und sooft ich durstig bin,
führt er mich zum Brunnquell hin.
Sollt' ich denn nicht fröhlich sein,
ich beglücktes Schäfelein?
Denn nach diesen schönen Tagen
werd' ich endlich heimgetragen
in des Hirten Arm und Schoß:
Amen, ja mein Glück ist groß!

Das war schon damals nicht mehr zeitgemäß und kindgerecht, aber seltsam: ich kann das Lied immer noch fast auswendig. Und offenbar geht es nicht nur mir so, sondern vielen anderen Menschen auch. Kein Bibelwort wird häufiger für Beerdigungen gewünscht als Psalm 23. Und kein Jahr vergeht, wo nicht mindestens ein Konfirmand „Der Herr ist mein Hirte“ als Konfirmationsspruch wählt.

Aber warum ist das so? Vor allem: Warum ist es immer noch so? Zu biblischen Zeiten prägten Hirten mit ihren Herden den Alltag. Viele biblische Gestalten werden uns als Hirten vorgestellt: von Abel über die Erzväter und König David bis zu den „Hirten auf dem Felde“ der Weihnachtsgeschichte. Der Herrscher als Hirte und die Untertanen als seine Herde, das war überall im alten Orient eine stehende Metapher. Naheliegend also, dass auch Gott immer wieder als Hirte seines Volkes erscheint. Kein Wunder, dass dieses Bild im Neuen Testament auch auf Jesus übertragen wurde. Und konsequent, dass dann Jesu Nachfolger von Petrus an den Auftrag bekamen: „Weide meine Schafe!“ Daher also die Gemeinde-Hirten – lateinisch: pastores – und ihre „Schäfchen“. Aber heute, im 21. Jahrhundert?

Gelegentlich treibt noch ein Hirte seine Schafe über Siegerländer Wiesen, aber es wird immer seltener. Der Hirte als Berufsstand ist vermutlich ebenso vom Aussterben bedroht wie der Hufschmied oder der Hutmacher. Als Bild für politische Verhältnisse taugen Hirt und Herde auch nicht mehr. In einer Demokratie wählen die „Scha-fe“ schließlich ihre „Hirten“ selber, und das nur auf Zeit und ohne sich deshalb bevormunden zu lassen. Selbst Despoten können mit dem Bild des guten, fürsorglichen Hirten nicht mehr wirklich punkten. Und Sie, liebe Gemeinde, mögen mich zwar immer noch Pastor nennen, aber Sie wollen mir damit hoffentlich nicht sagen: „Du musst uns armen, unmündigen Schafen sagen, wo’s langgeht, und musst uns jederzeit mit allem versorgen, was wir für unser geistliches Leben brauchen – dann tun wir auch brav, was du willst!“

Kurz gesagt: Hirten sind nicht mehr das, was sie mal waren – weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinne – und für die Schafe gilt das Gleiche. Aber trotzdem: Das Bild vom „guten Hirten“ sitzt immer noch tief in uns drin. Es weckt Erwartungen, Sehnsüchte, wehmütige Erinnerungen an Zeiten, wo das Leben und das Glauben vermeintlich noch einfacher waren. Noch einmal: Warum ist das so?

Nun, es liegt wohl daran, dass wir im Innersten eben doch so jemanden brauchen. Wir sind gern frei und unabhängig, wir lassen uns nichts vorschreiben und wir wollen nicht ohne Begründung und Erklärung irgendwohin getrieben werden. Und doch hätten wir gern einen letzten, unhinterfragten Halt. Etwas oder noch besser Jemanden, auf den wir uns voll und ganz verlassen können. Einen, der alles für uns einsetzt und uns in der Not nicht im Stich lässt – auch, wenn sie selbstverschuldet ist. Einen von dem das gilt, was die biblischen Texte uns eingeprägt haben: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir.“ – „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen; ich will sie weiden, wie es recht ist.“ – „Meine Schafe hören meine Stimme, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“

Diesen guten Hirten suchen wir, immer noch. Denn die „Mietlinge“ kennen wir inzwischen zur Genüge, und wir haben die Nase voll von ihnen: Politiker und Ratgeber, die unser Vertrauen nicht wert waren, Freunde und Familienangehörige, die uns bitter enttäuscht haben, leider auch Pfarrer und andere kirchliche Mitarbeiter, die ihr Hirtenamt missbrauchen oder vernachlässigen. Immer wieder leidet unser Zutrauen zu Menschen und menschlichen Institutionen Schaden, und wenn diese Menschen Christen sind, leidet der Glaube gleich mit.

Vielleicht wäre das alles gar nicht so schlimm, wenn wir uns wenigstens auf uns selber verlassen könnten. „Vergiss die anderen – glaub lieber an dich selber“, heißt es dann oft. Aber ich weiß nicht, wie’s Ihnen geht: Beim Glauben an mich selber kommen mir die Zweifel noch schneller als beim Vertrauen auf andere. Denn ich kenne ja meine Macken und Schwachpunkte. Ich weiß, wie oft ich versage und meinen eigenen Maßstäben nicht genüge. Und wenn andere mir Vertrauen entgegen bringen, frage ich mich manchmal: Bin ich das eigentlich wert? Nein, es bleibt dabei: Wenn ich als Schaf versuche, mein eigener Hirte zu sein, komme ich auch nicht weit. Ich kann mir selber kein letzter Halt sein, so wie der alte Baron Münchhausen sich eben nicht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen konnte.

Also bleibt mir wohl doch nur eine Hoffnung: Dass es wahr sein möge, was unser Predigttext mir zuspricht, dass das Bild vom guten Hirten, dass ich von kleinauf im Herzen trage, kein Trugbild ist, sondern ein Hinweis auf den, der immer bei mir ist, der sein Leben für mich einsetzt, aus dessen Hand mich niemand reißen kann. Nur Gott kann dieser gute Hirte sein, denn er hat mich geschaffen, er kennt mich durch und durch, und er liebt mich trotzdem, wie ich bin. Und ich kann das nur deshalb wissen und mich darauf verlassen, weil Gott in Jesus selber Mensch geworden ist, sein Leben für mich gelassen hat und mich Teil seiner einen großen Herde sein lässt.

Mag sein, dass es dafür noch andere gute Bilder gibt. Schon im Johannesevangelium ist Jesus ja nicht nur der gute Hirte, sondern auch die Tür, der Weinstock, das Brot des Lebens, das Licht der Welt. Und wenn diese Bilder den Menschen eines Tages nichts mehr sagen, dann müssen wir eben andere finden, die sie mit ihrem täglichen Leben verbinden können. Aber noch ist das Bild vom Hirten für viele ein starkes Bild, ein Bild, das mir die Wahrheit vermittelt, die in ihm steckt. Und solange möchte ich es nicht missen.

Ein letzter Hinweis ist mir allerdings noch wichtig: Manche biblische Aussagen verführen uns dazu, das Verhältnis von Schaf und Hirte allzu exklusiv zu verstehen. „Der Herr ist mein Hirte“, heißt es in Psalm 23. Und der Hirte in Lukas 15 sucht das eine verlorene Schaf und lässt dafür die 99 in der Wüste. Es ist gut, dass es so da steht; denn Gottes Liebe und Fürsorge gelten in der Tat jedem und jeder von uns persönlich. Aber wir sollten trotzdem nicht vergessen, dass Schafe keine Einzelgänger sind, sondern Herdentiere. Gut also, dass in unserem Predigttext die Schafe nur in der Mehrzahl vorkommen. Ebenfalls gut, dass die Herde hier keine geschlossene Gesellschaft ist, sondern auf Zuwachs angelegt: „Ich habe noch andere Schafe“, sagt Jesus, „die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.“

Also: Nicht nur ich bin „Jesu Schäflein“, sondern die anderen auch – ob mir das nun passt oder nicht. Und auch wenn ich das Gefühl habe, dass sich das Zahlenverhältnis von verlorenen und da gebliebenen Schafen dramatisch verschoben hat, bleibt es doch dabei: auch die verlorenen Schafe sind immer noch Teil der Herde. Auch die, die heute nicht hier sind, vielleicht auch sonst nie, auch sie haben nur den einen Hirten und gehören zu der einen Herde.

Ein stärkerer Herdentrieb unter Christen wäre also durchaus wünschenswert. Nicht deshalb, weil wir immer brav und fraglos mit der Masse laufen müssten. Wohl aber, weil Jesus, unser Hirte, es liebt, wenn er seine Schafe möglichst zahlreich um sich hat, und diese Freude sollten wir ihm und uns ruhig öfter mal gönnen. Und es spricht auch für mehr Herdentrieb, dass man gemeinsam viel stärker ist allein. Das können wir von einem Schaf namens Shaun lernen – kennen Sie vielleicht aus der „Sendung mit der Maus“. Shaun, das Schaf, ist alles andere als dumm oder lammfromm. Oft muss er die Dinge selber in die Hand nehmen, weil der Bauer zu faul und der Hund zu treudoof ist. Aber dann braucht er dazu immer seine Kumpels aus der Herde. Und gemeinsam schaffen sie dann fast alles. Wenn wir als „Jesu Schäflein“ es auch so halten, dann ist es ganz im Sinne des „guten Hirten“. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein