Christvesper am Heiligen Abend
Text: Jesaja 11,1-9
Diese Kerze ist ein Friedenslicht. Es kommt von da, wo alles anfing: aus der Geburtsgrotte in Bethlehem. Dort, wo Jesus geboren sein soll, wird es jedes Jahr im Advent von einem Kind angezündet. Von Israel / Palästina aus wird es in einem Spezialbehälter nach Wien geflogen, weil das Ganze ursprünglich eine österreichische Idee war. Und von da wiederum gelangt es per Zug in viele Städte Europas. Dort wird es hauptsächlich von Pfadfindergruppen abgeholt und in Kirchen und Häuser verteilt. Seit 1986 gibt es diese Aktion, und sie zieht von Jahr zu Jahr weitere Kreise, inzwischen bis nach Amerika. Dieses Licht hier habe ich von Andrea Stötzel, und die hat es aus Dortmund bekommen. Es soll ein Zeichen dafür sein, dass der „Friede auf Erden“, von dem die Engel gesungen haben, kein Traum bleiben muss, sondern eines Tages Wirklichkeit werden kann.
Ich habe das Friedenslicht mitgebracht, weil es gut zum Predigttext passt. Denn auch der spricht von einem kleinen Zeichen, aus dem der große Friede Gottes hervorwächst:
Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais
und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.
Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn,
der Geist der Weisheit und des Verstandes,
der Geist des Rates und der Stärke,
der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.
Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des Herrn.
Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen,
noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören,
sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen
und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande,
und er wird mit dem Stab seines Mundes den Gewalttätigen schlagen
und mit dem Hauch seiner Lippen den Gottlosen töten.
Gerechtigkeit wird der Schurz seiner Lenden sein
und die Treue der Gurt seiner Hüften.
Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen
und die Panther bei den Zicklein lagern.
Kälber und junge Löwen werden sich miteinander mästen,
und ein kleiner Knabe wird sie treiben.
Kühe und Bären werden zusammen weiden,
dass ihre Jungen beieinander liegen,
und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder.
Und ein Säugling wird am Loch der Otter spielen,
und ein entwöhntes Kind wird seine Hand in die Höhle der Natter stecken.
Man wird nirgends Sünde tun noch freveln
auf meinem ganzen heiligen Berge;
denn das Land wird voll Erkenntnis des Herrn sein,
wie Wasser das Meer bedeckt.
Hier ist das Zeichen also kein Licht, sondern eine Pflanze: ein frischer Trieb, der aus der Wurzel eines gefällten Baumes hervorwächst. Der gefällte Baum, das ist das Haus David, die gescheiterte Königsdynastie von Jerusalem. Mit großen Verheißungen hatte deren Herrschaft einst begonnen: „Der Herr verkündigt dir, dass der Herr dir ein Haus bauen will“, so hatte der Prophet Nathan zu König David gesprochen. „Wenn nun deine Zeit um ist und du dich zu deinen Vätern schlafen legst, will ich dir einen Nachkommen erwecken, der von deinem Leibe kommen wird; dem will ich seinen Königsthron bestätigen ewiglich.“ Entsprechende Erwartungen hatte das Volk an seine Könige geknüpft. Völker würde der Herr ihnen zum Erbe geben und die Enden der Welt zum Eigentum, heißt es in Psalm 2. Und in Psalm 72 wird gebetet: „Gott, gib dein Gericht dem König, dass er dein Volk richte mit Gerechtigkeit und deine Elenden rette. Zu seinen Zeiten soll blühen die Gerechtigkeit und großer Friede sein, bis der Mond nicht mehr ist.“
Aber die Erwartungen wurden zutiefst enttäuscht. Viele Könige aus Davids Haus waren genauso üble Tyrannen und Ausbeuter wie die Herrscher anderer Völker. Andere bemühten sich wenigstens, versuchten, ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen gerecht zu werden. Aber auch sie waren zu schwach, um ihrem Volk dauerhaft Frieden und Gerechtigkeit zu sichern. Schließlich mussten sie sich der brutalen Fremdherrschaft der Assyrer beugen, konnten nicht verhindern, dass sie das Land ausplünderten und dem Gott Israels ihre eigenen Götter vor die Nase setzten. Und als die Herrschaft der Assyrer zu Ende ging, wurden sie kurz darauf von den Babyloniern weggefegt. Sie eroberten und zerstörten Jerusalem, und sie blendeten den letzten König aus Davids Haus, nachdem er vorher noch die Ermordung seiner Söhne mitansehen musste; dann verschleppten sie ihn in Ketten nach Babylon. Der einst so stolze Baum war umgehauen; nur ein Wurzelstumpf war von ihm geblieben.
Auch der Prophet, von dem die Worte aus Jesaja 11 stammen, ist vom Hause David bitter enttäuscht – egal, ob zu seiner Zeit noch einer von ihnen auf dem Thron saß oder ob ihre Herrschaft schon zu Ende war. Er erwartet nichts mehr von diesen unfähigen Provinzfürsten oder deren machtlosen Nachfahren. Trotzdem gibt er aber die alten Verheißungen nicht auf. Er richtet sie zurück nach Bethlehem, zu Davids Vaterhaus, dem Haus Isai. Dort, wo damals alles begann, dort wächst ein neuer Spross aus dem Baumstumpf. Noch ist er klein und zart, aber er wird groß werden, Frucht bringen, die Verheißungen endlich erfüllen. Weil der Geist Gottes auf ihm ruht, wird er mit Weisheit und Vernunft regieren. Er wird das strategische Geschick und die Entschlusskraft eines großen Feldherrn haben, aber er wird diese Gaben nicht mehr für den Krieg, sondern für den Frieden einsetzen. Er wird seine Herrschaft im Vertrauen auf Gott ausüben und seinen Geboten gehorsam sein. Er wird sorgfältig abwägen, wenn er Urteile spricht, und sich nicht von Äußerlichkeiten und bloßem Hörensagen leiten lassen. Er wird den Armen ihr Recht verschaffen und ihre Unterdrücker und Ausbeuter der gerechten Strafe zuführen. Und so wird Friede einkehren, umfassender Friede, der selbst im Tierreich regiert.
Eine wunderbare Vision. Wer möchte sie nicht teilen, wenn er sich unter den Herrschenden unserer Tage umschaut? Denn das wäre doch mal was: Politiker, die mit Weisheit, Vernunft und planender Vorausschau regieren statt nur mit dem Blick auf den nächsten Wahltermin. Regierungen, die zuallererst nach dem fragen, was die schwächsten Glieder der Gesellschaft brauchen, statt danach, was der Wirtschaft nützt und den Staatssäckel füllt – oder gar die eigenen Taschen. Eine Welt, in der endlich keine Waffenarsenale mehr angehäuft werden, sondern wo stattdessen keiner mehr verhungern muss und alle eine Chance auf Bildung haben. Und Gerichte, wo wirklich ohne jedes Ansehen der Person Recht gesprochen wird. Was gäben wir darum, wenn endlich alle Ausbeuter, alle Kriegstreiber, alle gewissenlosen Folterer und Mörder in Staatsdiensten ihrer gerechten Strafe zugeführt würden! Was gäben wir für eine Welt, wo – auf Menschen übertragen – Wölfe und Lämmer friedlich zusammenleben: Wo Selbstmordattentäter ihre Sprengstoffgürtel ablegen und sich mit denen, die sie in die Luft jagen wollten, an einen Tisch setzen. Wo Kinder keine Angst mehr vor Soldaten haben müssen, weil die mit ihnen spielen statt auf sie zu schießen. Wo Israelis und Palästinenser in einem Land leben und zusammen Feste feiern. Wo christliche, jüdische und islamische Fundamentalisten sich nicht bekriegen, sondern friedlich ihren Streit austragen und dann gemeinsam Gott loben. Und wo auch kein Tier mehr qualvoll leben und sterben muss, nur damit das Fleisch schön billig bleibt und die Profite stimmen. Seit den Verheißungen der Propheten, seit der Botschaft der Engel ist diese Sehnsucht in der Welt. Und alle Erfahrungen, die ihr widersprechen, können sie nicht ersticken, sondern nur noch stärker machen.
Aber wird die Sehnsucht denn auch eines Tages gestillt werden? Wann kommt es denn endlich, das Friedensreich Gottes? Jesaja hat den Messias, den Friedenskönig aus Davids Haus, noch zu seinen Lebzeiten erwartet. Unser Predigttext legt sich da schon nicht mehr so genau fest. Und auch 2000 Jahre nach dem Engelsgesang von Bethlehem ist der „Friede auf Erden“ noch nicht eingekehrt. Auch Jesus ist eben nicht der Messias gewesen, den Jesaja und seine Nachfolger sich vorgestellt haben.
Nein, wir leben immer noch nicht in einer friedlichen Welt. Im Gegenteil: Im letzten Jahr mussten wir den Eindruck gewinnen, dass alles immer nur schlimmer wird – von der Ukraine über Syrien und den Irak bis nach Nigeria oder nach Pakistan, wo kurz vor Weihnachten über 100 Schulkinder sinnlos sterben mussten. Sogar wir im reichen, satten Deutschland werden inzwischen vom Elend der Welt aus unserer Ruhe gescheucht – in Gestalt von immer mehr Menschen, die bei uns Zuflucht suchen.
Wir leben also immer noch in der Zeit der kleinen Friedenszeichen: des unscheinbaren Sprosses, der aus einem abgestorbenen Baumstumpf wächst, der zaghaften Kerzenflamme aus Bethlehem, der kleinen Gesten, mit denen Menschen sich gegenseitig trösten, sich miteinander versöhnen, sich und anderen Mut zusprechen, der bescheidenen Hilfsaktionen, mit denen wir das Leid wenigstens ein bisschen lindern.
Aber diese Zeichen, Gesten und Taten sind nicht vergeblich. Sie kommen auch in einem tieferen Sinn aus Bethlehem, aus dem Ort, wo Gott als kleines Wickelkind in einer Futterkrippe lag. Anscheinend ist das viel weniger als Jesajas große Vision vom Friedensreich. In Wirklichkeit ist es aber viel mehr. Denn der Prophet konnte sich zwar vorstellen, dass Gottes Geist auf einem Menschen ruht, aber dass Gott selber Mensch werden könnte, das lag jenseits seines Horizonts. Wenn es aber so ist, dann hat Gott den einen entscheidenden Schritt längst getan, um die Welt heil zu machen. Dann ist er einer von uns geworden, um uns mit sich zu versöhnen. Und dann können wir als versöhnte Menschen uns daran machen, Gottes Versöhnung in die Welt zu tragen. Denn auch auf uns ruht doch seit Pfingsten der Geist des Herrn. Wir müssen uns also nicht mit ungestillter Sehnsucht nach einem Friedensbringer umschauen, sondern können uns selber ans Werk machen, selber Friedensboten werden – jeder an seinem Ort und nach seinen Gaben. Wo und wann auch immer auf Erden bisher Frieden eingekehrt ist, wenn auch nur begrenzt und auf Zeit, da waren solche Friedensboten am Werk, ob sie nun bewusst im Namen Jesu aufgetreten sind oder nicht. Sie können uns Vorbilder sein, ihnen können wir nacheifern. Und dann gilt auch für uns der Zuspruch Jesu: „Selig sind die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Amen.
Pfarrer Dr. Martin Klein