Predigt Wenschtkirche, 01. November 2015

GOTTESDIENST FÜR DEN REFORMATIONSTAG

 

Text: Ps 46,2-12

Gott ist unsre Zuflucht und Stärke,

eine große Hilfe in den Nöten, die uns getroffen haben.

Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge

und die Berge mitten ins Meer sänken,

wenngleich das Meer wütete und wallte

und von seinem Ungestüm die Berge einfielen.

Der Herr Zebaoth ist mit uns,

der Gott Jakobs ist unser Schutz.

Der Strom mit seinen Bächen erfreut die Stadt Gottes,

die heiligen Wohnungen des Höchsten.

Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie festbleiben;

Gott hilft ihr früh am Morgen.

Die Heiden müssen verzagen und die Königreiche fallen,

das Erdreich muss vergehen, wenn er sich hören lässt.

Der Herr Zebaoth ist mit uns,

der Gott Jakobs ist unser Schutz.

Kommt her und schaut die Werke des Herrn,

der auf Erden solch ein Entsetzen verbreitet,

der den Kriegen ein Ende macht in aller Welt,

der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt

und Wagen mit Feuer verbrennt.

„Seid stille und erkennt, dass ich Gott bin!

Ich will der Höchste sein unter den Heiden, der Höchste auf Erden.“

Der Herr Zebaoth ist mit uns,

der Gott Jakobs ist unser Schutz.

 

Gestern geriet ich beim spätabendlichen Zappen durchs Fernsehpro­gramm in eine seltsame Talkshow. Das Studio gab wenig her: Clubses­sel und ein niedriger Tisch mit Wassergläsern – das kennt man. Auch der Moderator war nicht weiter auffällig. Wohl aber die beiden Talk-Gäste. Der eine war ein Mann mit dunklem Bart, nicht besonders groß und eher schmal gebaut, offensichtlich irgendwo aus dem Nahen Osten. Er trug ein weißes Gewand und eine Art Tur­ban, und auf seiner Brust prangte eine goldene Amtskette. Der an­dere kam mir vage bekannt vor. Glatt rasiert und fülliges Gesicht, darunter ein schwarzer Talar, der einen ordentlichen Bauch ver­barg. Man sah ihm an, dass er statt des Wassers lieber einen Hum­pen Bier vor sich gehabt hätte.

Der Moderator war gerade bei der Begrüßung: „Liebe Zuschauer, ich begrüße Sie herzlich zur Sonderausgabe des ,Literarischen Terzetts‘ zum Reformationstag. Dem Anlass gemäß steht heute ein Text im Mittelpunkt, der für die Reformation und die evangelischen Kirchen immer eine besondere Bedeutung gehabt hat: Psalm 46, oft überschrie­ben mit „Ein feste Burg ist unser Gott“. Als Gesprächs­partner begrüße ich dazu zwei ganz besondere Gäste, Herrn Levi Ben-Korach aus Jerusa­lem und Herrn Dr. Martin Luther aus Witten­berg!“

Ah, ich wusste doch, dass ich den Dicken im Talar schon mal gese­hen hatte! Aber von dem anderen hatte ich noch nie gehört. Der Moderator schien damit zu rechnen, denn er sprach den Weißgewande­ten zuerst an:

„Herr Ben-Korach: Sie sind Chormeister am Tempel von Jerusalem. Wie habe ich mir das vorzustellen?“

„Nun“, sagte der, „ich mache ungefähr das Gleiche, was Ihre Krchenmu­siker auch tun: Ich bin verantwortlich für den Gesang und die Musik in den Gottesdiensten, die im Tempel stattfinden.“

„Wie wird man Chormeister?“ fragte der Moderator. „Muss man dafür ein Studium absolvieren?“

Ben-Korach schüttelte den Kopf. „Nein, es ist ein Amt, das von Genera­tion zu Generation in einer Familie weitergegeben wird. Al­les, was ich weiß und kann, habe ich von meinem Vater gelernt, und der von seinem Vater und so weiter. Auch alle anderen Mitglieder unseres Chores gehören übrigens zur Familie Ben-Korach. Es gibt mehrere solcher Sängerfamilien. Sie wechseln sich beim Dienst im Tempel ab.“

„Sie gelten als der Autor von Psalm 46, aber in Wirklichkeit stammt er gar nicht aus Ihrer Feder, richtig?“

„Ja, so ist es. Meine Vorfahren haben diesen Psalm schon zu König Salomos Zeiten gesungen. Er gehört zu einer uralten Familientradi­tion, und die hal­ten wir in Ehren. Wir singen ihn oft, aber einen beson­deren Platz hat er beim Fest der Tempelweihe.“

„Worum geht es da?“

„Der Tempel ist für uns der Ort, den der Herr, unser Gott, sich zu seinem Wohnsitz erwählt hat. Gott ist natürlich überall, aber an diesem Ort können und dürfen wir ihm begegnen, seine Nähe spü­ren, ihm Opfer darbringen und zu ihm beten. Deshalb ist uns der Tempel heilig, und die Stadt Jerusalem, in der er steht, ist es auch. Beide stehen unter Gottes besonderem Schutz. Und das feiern wir einmal im Jahr mit einem großen Fest.“

An dieser Stelle hatte der Moderator einen Einwand: „Jerusalem und der Tempel stehen unter Gottes Schutz, haben Sie gesagt. Trotz­dem sind sie zweimal von Feinden erobert und zerstört wor­den, und nach dem zweiten Mal wurde der Tempel nie wieder aufge­baut. Wie passt das zusammen?“

„Das haben meine Vorfahren sich nach der ersten Zerstörung auch gefragt“, gab Ben-Korach zur Antwort. „Im Psalm heißt es: Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie fest bleiben. Und sie hatten das im­mer so verstanden, dass Jerusalem niemals in Feindeshand fallen würde. Sie hatten sich sicher gefühlt hinter den Mauern und ge­dacht: Uns kann nichts passieren, wir haben ja den Tempel des Herrn! Jetzt war es doch passiert, und deshalb wollten sie den Psalm schon aus ihrer Liedersammlung streichen. Stimmt ja alles nicht, haben sie gesagt. Aber dann haben sie noch mal genauer nachge­lesen und gemerkt: Da steht gar nicht, dass der Tempel un­sere Zu­flucht ist und dass Jerusalem uns Schutz gewährt. Nein, da steht: Gott ist unsre Zuflucht und Stärke, der Gott Jakobs ist unser Schutz. Von diesem Gott aber hatten sich meine Vorfahren abgewen­det. Sie hatten nicht mehr getan, was er ihnen geboten hatte. Trotzdem glaubten sie einen Anspruch auf seinen Beistand zu haben, denn sie hatten ja den Tempel. Aber dabei macht Gott nicht mit. Seine Zusa­gen sind kein Freibrief. Der Tempel war seine heilige Wohnung wie es im Psalm heißt, aber er konnte das auch jederzeit rückgängig machen. Als wir ihn dann wieder aufgebaut haben, war uns wichtig, dass das nicht noch ein­mal passiert, dass wir uns nie wieder auf ei­nen Tempel aus Stein verlassen, sondern nur noch auf Gott selbst.“

„Und“, fragte der Moderator, „ist Ihnen das gelungen?“

Der Chormeister seufzte resigniert. „Offensichtlich nicht, denn der Tempel wurde ja wieder zerstört, diesmal endgültig. Denn Men­schen sind nun mal so: Sie verlassen sich lieber auf das, was sie se­hen können, als auf einen unsichtbaren Gott. Aber das geht regelmä­ßig schief, denn nichts, was sichtbar ist, hält für immer. Des­halb ist es gut, dass es den Tempel nicht mehr gibt. Das sage ich, obwohl er mein Leben war.“

Jetzt wurde der Moderator politisch. „Heute steht an der Stelle des Tempels ein muslimisches Heiligtum“, sagte er, „und es gibt gerade mal wieder blutige Auseinandersetzungen darum, wer dort beten darf und wer nicht. Was sagen Sie dazu?“

„Es macht mich traurig“, sagte der Chormeister. „So viel Hass auf beiden Seiten! Ich würde sie alle gern an die Worte erinnern, die Gott im Psalm selber sagt: Seid stille und erkennt, dass ich Gott bin! Ich will der Höchste sein auf Erden. Also nicht nur der Höchste für die Juden oder für die Muslime oder für die Christen, sondern für alle Menschen. Sie sollten also endlich aufhören zu streiten und die Waffen niederlegen und gemeinsam den Herrn anrufen – auf dem Tempelberg und überall.“

„Ein frommer Wunsch“, stichelte der Moderator, „aber der scheint unerfüllbar zu sein – gerade in Ihrer Heimatregion!“

„Trotzdem“, sagte Ben-Korach, „ich vertraue darauf! Eines Tages wird Gott den Kriegen ein Ende machen, Bogen und Raketen zerbre­chen, Spieße und Gewehre zerschlagen, Wagen und Panzer mit Feuer verbrennen. Und wer darauf vertraut, der kann sich auch jetzt schon dafür einsetzen.“

„Herr Dr. Luther“, wendete der Moderator sich nun an seinen ande­ren Gast, „sehen Sie das auch so?“

„Ja und Nein“, antwortete der ausweichend, „aber dazu müsste ich weiter ausholen.“

„Okay“, sagte der Moderator, „aber bevor wir darauf zurückkom­men, fangen wir erst mal vorne an: Sie haben zu Psalm 46 ihr bekanntes­tes Lied gedichtet: Ein feste Burg ist unser Gott. Wie kam es dazu?“

Luther begann zu erzählen: „Ich hatte immer ein enges Verhältnis zu den Psalmen. Ich war als Mönch nicht besonders glücklich, wie Sie wissen, aber den Psalmengesang in den Stundengebeten, den habe ich geliebt. Später habe ich immer wieder Vorlesungen über die Psalmen gehalten, und ich habe sie ins Deutsche übersetzt, in eine Sprache, die die Leute verstehen konnten. Die Worte der Psal­men haben mir in meinen Anfechtungen immer wieder Trost gespen­det, und das wollte ich auch anderen Menschen ermögli­chen. Deshalb habe ich auch das Lied geschrieben: als Trost und Ermutigung für mich selbst und für alle, die es singen und hören würden.“

„Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen“, zitierte der Moderator. „Hatten Sie dabei eine bestimmte Not im Blick?“

„Es gab keinen konkreten Anlass“, sagte Luther. „Es war mehr die allgemeine Situation damals. Sie müssen sich mal klar machen, wie das war, 1529, als das Lied zuerst gedruckt wurde: Da standen Heerscha­ren aus dem Osten vor Wien – nicht als mittellose Flücht­linge wie heute, sondern als schwerbewaffnete Armee. Die Türken wollten damals wirklich am liebsten das ganze Abendland erobern und dem Islam unterwerfen. Und dann war da die Kirche mit Papst und Kaiser an der Spitze. Für sie waren wir Evangelischen gefährli­che Ketzer, die man ausmerzen musste. In Sachsen war ich ge­schützt, aber anderswo hätte man mich auf dem Scheiterhaufen verbrannt wie einige meiner Freunde. Für mich war hinter alledem der Teufel am Werk, der altböse Feind. Denn der hasst nichts so sehr wie das Evangelium von Jesus Christus. Und er bedient sich aller Mittel und aller Menschen, die er finden kann, um es zum Schwei­gen zu bringen. Aber es wird ihm nicht gelingen, darum geht es im Psalm, und darum geht es auch in meinem Lied.“

„Da muss ich jetzt mal einhaken“, meldete Ben-Korach sich zu Wort. „Mich stört an Ihrem Lied, Herr Dr. Luther, dass große Teile unseres Psalms darin gar nicht vorkommen. Kein Wort vor allem von der Stadt Gottes, und auf die kommt es doch an. Ich hab deshalb nicht den Eindruck, dass es in Ihrem Lied wirklich um das gleiche geht wie im Psalm.“

„Nun, Herr Ben-Korach“ wehrte sich Luther, „Sie haben es ja eben selbst gesagt: Man kann sich auch in falscher Sicherheit wiegen, wenn man sich auf Dinge wie den Tempel und die Stadt Gottes ver­lässt. Die Kirche zu meiner Zeit hat den gleichen Fehler gemacht. Sie hat sich auf Äußerlichkeiten verlassen, und sie hat sich selber an die Stelle Gottes gesetzt: „Buße tun? Kannst du dir sparen, kauf lieber Ablassbriefe!“ – „Selber in der Bibel lesen und dem eigenen Gewis­sen folgen? Lass mal lieber, die Kirche sagt dir schon, was du glau­ben und was du tun sollst!“ Darauf haben sich viele Menschen verlas­sen, aber sie haben damit auf Sand gebaut. Ich habe ihnen dagegen gesagt: Verlasst euch nicht auf die Kirche, verlasst euch lieber auf Gott selber – er ist unsre feste Burg. Und er begegnet uns nicht anders als in Jesus Christus. Ihr habt gesagt: Gott wohnt im Tempel. Wir dagegen glauben: Gott wohnt in Jesus. In ihm ist er Mensch geworden. In ihm begegnen wir Gott selbst. Nur auf ihn können wir deshalb felsenfest vertrauen. Deshalb musste ich auch in einem Lied über einen alttestamentlichen Text von Christus re­den.“

„Können Sie das akzeptieren, Herr Ben-Korach?“ fragte der Modera­tor.

„Auf Gott allein ist Verlass“, lenkte der ein, „nur er ist unsere Zu­flucht und Stärke – darin sind wir uns einig, auch wenn ich als Israe­lit nicht glauben kann, dass Jesus Gottes Sohn ist. Aber was ich in Ihrem Lied immer noch vermisse, Herr Dr. Luther, das ist eine Hoff­nung für diese Welt. Gott macht den Kriegen ein Ende, heißt es im Psalm. Und das ist mir unheimlich wichtig. So viele Menschen verlie­ren durch Krieg und Gewalt das Leben oder Gut, Ehr, Kind und Weib, wie Sie sich ausdrücken. Sie vertrösten diese Menschen aufs Jen­seits. Das Reich muss uns doch bleiben, sagen Sie und mei­nen damit das Himmelreich. Ich glaube aber an einen Gott, der die Erde erneu­ern will – und der es auch tun wird.“

„Ich glaube das auch“, gab Luther zurück, „aber ich glaube, dass es erst am lieben jüngsten Tag soweit sein wird. Bis dahin muss man das Reich Gottes und das Reich der Welt unterscheiden. Im Glauben ist die Herrschaft Gottes schon angebrochen, und das kann uns nie­mand mehr nehmen, so schlimm uns irdisches Leid auch treffen mag. Aber auf Erden herrschen noch Sünde, Tod und Teufel. Gegen sie haben wir zu kämpfen – mit friedlichen Mitteln, wo immer es möglich ist, aber manchmal auch mit Gewalt, wo es nicht anders geht.“

„Sie würden also sagen“, fragte der Moderator, „dass sich zum Bei­spiel der ,Islamische Staat‘ letztlich nur mit Waffen besiegen lässt?“

„Ich fürchte, so ist es“, sagte Luther. „Alles andere wäre gefährliche Schwärmerei.“

„Eine letzte Frage“, sagte der Moderator. „Sie beide betonen in Ih­ren Liedern, dass wir uns nicht zu fürchten brauchen, weil Gott mit uns ist. Im Moment fürchten sich aber viele Menschen in unserem Land. Sie haben Angst, dass wir nicht mehr Herr werden über die vielen Flüchtlinge, die zu uns kommen. Was sagen Sie diesen Men­schen?“

„Ich sage: Habt keine Angst“, antwortete Ben-Korach. „Die Flücht­linge wollen euch doch nichts Böses, sondern sie suchen Schutz und Hilfe, Frieden und ein bisschen Wohlstand. Das alles haben sie ge­nau so verdient wie ihr. Natürlich gibt es Probleme – mit der Spra­che, mit der Religion, mit unterschiedlichen Werten und Moralvorstel­lungen. Und je mehr Menschen kommen, desto schwe­rer ist es zu verkraften. Ich weiß etwas davon, denn in schweren Zei­ten war unser Tempel auch immer ein Zufluchtsort für viele Men­schen – Einheimische und Fremde. Manchmal war es kaum zu bewälti­gen. Aber mit Gottvertrauen und Nächstenliebe ist es uns immer gelungen.“

„Und ich sage“, fügte Luther hinzu, „meine lieben Deutschen sind satt und bequem geworden. Es schadet nicht, dass ihnen die Not der Welt nun näher auf die Pelle rückt, denn es tut ihnen nicht wirk­lich weh, wenn sie ihren Wohlstand mit anderen teilen müssen. Und wenn unser Gott noch ihre feste Burg wäre, dann müssten sie auch keine Angst vor einer ,Islamisierung‘ haben. Christenmenschen ha­ben doch hierzulande alle Freiheit, ihren Glauben zu leben, und sie sind immer noch viel zahlreicher als die Muslime es jemals sein wer­den. Wenn sie also nicht so kleingläubig wären, sondern fest zu ih­rem Glauben stehen und danach handeln würden, dann müssten sie keine Andersgläubigen fürchten.“

Der Moderator kam zum Schluss: „Herr Ben-Korach, Herr Dr. Luther, ich bedanke mich für Ihre klaren Worte. Ich möchte da gar nichts mehr hinzufügen, sondern wünsche allen unseren Zuschauern eine gute Nacht!“

In diesem Moment wurde ich wach, weil mir der steife Nacken weh­tat. Ich stellte fest, dass ich auf dem Sofa eingeschlafen war. Der Fernseher war aus, also hatte ich diese interessante Talk-Show wohl nur geträumt. Trotzdem gingen mir die Worte der beiden Gäste noch nach, also habe ich Ihnen heute davon erzählt. Vielleicht ist ja auch für Sie der eine oder andere Denkanstoß dabei. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein