Predigt Wenscht- und Talkirche, Sonntag, 25.09.2016

GOTTESDIENST FÜR DEN ACHTZEHNTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: Röm 14,17-19

Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerech­tigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist. Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen ge­achtet. Darum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.

Darf man das als Christ? Diese Frage ist so alt wie das Christentum selbst. Und die beliebteste, wenn auch meistens falsche Antwort auf diese Frage ist genauso alt: Wenn du dies oder jenes denkst und tust oder nicht denkst und tust, dann stimmt mit deinem Christsein etwas nicht.

Ein hier und heute aktuelles Beispiel für diese Streitfrage ist folgen­des: Darf man es als Christ gut finden, dass der Islam sich in Deutschland etabliert? Soll man es befürworten oder zumindest ak­zeptieren, dass Muslime ein sichtbarer Bestandteil unserer religiösen und kulturellen Landschaft werden: dass sie Moscheen bauen (mit Minarett), Religionsunterricht an Schulen erteilen – oder gar im „Burkini“ ins Schwimmbad gehen?

Vertreter unserer Kirche haben in ihren öffentlichen Äußerungen immer gesagt: Ja, man darf das gut finden, man sollte es sogar! Denn schließlich herrscht in unserem Land Reli­gionsfrei­heit. Die nehmen wir als Christen gern für uns in Anspruch, also können wir sie den Muslimen nicht verwehren, zumal es vieles gibt, was ihren und unseren Glauben verbindet. Und wir sollten es umso mehr beja­hen, wenn es sich um Muslime handelt, die friedlich ge­sinnt sind und an guter Nachbarschaft mit christlichen Deutschen ein ehr­liches Inte­resse haben – was auch nach meinem Eindruck für die meisten von ihnen gilt.

Nun gibt es allerdings eine Menge Christen, auch in unserer Ge­meinde, die finden es ganz und gar nicht gut, dass die evangelische Kirche diese Position vertritt. Sie schauen auf die unbestreitbaren und manchmal tiefgreifenden Unterschiede zwischen Christen und Muslimen und können dann zum Beispiel die verschiedenen Grade weiblicher Verhüllung nur als Zeichen für die Unterdrückung von Frauen werten. Sie fürchten, dass in bestimmten Wohnvierteln mus­limische Parallelwelten entstehen, die mit dem Rest der Gesellschaft nichts zu tun haben wollen. Sie verdächtigen Moscheen und musli­mische Kulturvereine als Brutstätten von islami­stischem Terror. Und sie haben ganz generell Angst vor einer Über­fremdung unserer Ge­sellschaft, deren christliche Prägung ohnehin schon stark gelitten hat.

Ich persönlich bin überzeugt, dass die offizielle Haltung unserer Kir­che richtig ist, und ich versuche mich entsprechend zu verhalten im Umgang mit Muslimen – ob sie nun schon lange hier leben oder erst kürzlich als Flüchtlinge bei uns angekommen sind. Trotzdem leugne ich nicht, dass auch eine kritische Einstellung An­halt an der Realität hat – sowohl gegenüber dem Islam im Allgemei­nen als auch gegen­über der Art und Weise, wie viele Muslime ihn leben. Allerdings wird darüber selten sachlich diskutiert, erst recht nicht in Wahl­kampfzeiten, sondern man neigt dazu, sich gegenseitig Vorurteile an den Kopf zu werfen. „Ihr verharmlost den Islam und nehmt euer Christsein nicht ernst“, sagen dann die einen. Und die anderen kon­tern: „Ihr versteht nichts von Toleranz und Nächsten­liebe, und Ras­sisten und Fremdenfeinde seid ihr auch!“ Auf solche Weise kommt man natürlich nicht weiter.

Dieses aktuelle Problem war dem Apostel Paulus noch unbekannt. Aber die Grundsatzfrage, was man als Christ darf oder nicht darf, was man befürworten, was man ablehnen muss, mit der musste er sich auch schon herumschlagen: mit seiner Gemeinde in Korinth und auch hier im Brief an die Christen in Rom. Damals ging es um die Frage: Darf man als Christ Fleisch essen?

Wenn Sie nicht gerade eingefleischte Vegetarier oder Veganer sind, wundern Sie sich vielleicht über diese Frage. Sicher, allzu viel Fleisch ist unge­sund – erst recht, wenn es hormon- und antibiotika­verseucht aus der Massentierhaltung kommt. Und wenn man sieht, wie bestialisch die armen Tiere oft leiden, bis sie schließlich im Schlachthof landen, kann einem schon mal der Sonntagsbraten im Hals stecken blei­ben. Trotzdem gilt es uns nicht gerade als eine Glaubensentschei­dung, ob wir Fleisch essen oder nicht.

Damals war das allerdings anders. Denn in den Städten des römi­schen Reiches lagen die Metzgereien meistens gleich neben den heidnischen Tem­peln. Und das Fleisch, das dort verkauft wurde, stammte von Opfer­tieren. Für die Juden, die dort lebten, war die Sa­che klar: dieses Fleisch war nicht koscher und durfte nicht gegessen werden. Aber wie sollte man sich als Christ verhalten? Die einen nahmen das Ganze locker. Sie sagten: Es gibt nur einen Gott, der die ganze Welt ge­schaffen hat. Die Götzen, die in den heidnischen Tem­peln verehrt werden, gibt es gar nicht, sie können also auch das Fleisch, das für sie geschlachtet wird, nicht unrein machen. Auch dieses Fleisch stammt von Tieren, die Gott geschaffen hat. Also kann ich mir als Christ ruhig ein gutes Stück davon kaufen und zubereiten, ein Dank­gebet darüber sprechen und es mir schmecken lassen. Aber andere Christen, vor allem solche mit jüdischem Hintergrund, sahen die Sa­che enger. Sie sagten: Aller Götzendienst ist für Gott ein Gräuel. Wenn ich dieses Fleisch esse, mache ich mich damit unrein und ma­che gemeinsame Sache mit den Götzendienern. Wenn diese beiden Auffassungen in der Gemeinde aufeinander prallten, dann gab es natürlich Streit, und beide sprachen sich gegenseitig das Christsein ab: „Ihr habt ja noch nichts von christlicher Freiheit begriffen“, sag­ten die einen. – „Ihr seid ja noch halbe Götzendiener“, sagten die an­deren. Sie sehen also: Auch damals ging es letztlich um das Zusam­menleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen – also ist die Sache mit dem Fleisch doch nicht so weit weg von unseren aktuellen Problemen.

Paulus versucht, den Streit zu schlichten. Er sagt: Was an Eurem Verhalten richtig und was falsch ist, das entscheidet Gott, wenn er Gericht hält. Ihr könnt darüber letztlich gar nicht urteilen – nicht ein­mal bei euch selbst, und erst recht nicht bei anderen. Überlasst also die Urteile Gott, und bis dahin tut alles, was ihr mit gutem Gewissen vor Gott tun könnt. Wenn ihr mit gutem Gewissen Fleisch essen und Gott dafür danken könnt, dann esst es ruhig. Wenn ihr aber nur mit schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen Fleisch essen könntet, dann lasst es bleiben. Und für den Umgang untereinander gilt dann zweierlei. Erstens: Wenn jeder mit seinem Verhalten dem eigenen Gewissen verantwortlich ist und das endgültige Urteil darüber Gott vorbehalten bleibt, dann könnt ihr euch nicht gegenseitig verurteilen und euch das Christsein absprechen. Und zweitens: Zwingt nie einen Bruder oder eine Schwester dazu, gegen ihr Gewissen zu handeln, auch wenn ihr die bessere Einsicht zu haben glaubt. Denn, sagt Pau­lus – und damit bin ich wieder beim Predigttext:

Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geist. Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen geachtet. Da­rum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Er­bauung untereinander.

Also: Gottes Herrschaft auf Erden, sein Wille für diese Welt besteht in Gerechtigkeit, Friede und Freude, und zwar erst einmal als sein Geschenk, erst dann als unsere Tat. Wer das verstanden hat, der muss sich um so etwas wie Essen und Trinken nicht mehr streiten, sondern kann sich in allen Fragen des täglichen Lebens nach dem richten, was der Gerechtigkeit und dem Frieden dient. Das eröffnet Frei­räume für verschiedene, ja sogar für gegensätzliche Ansichten – vo­rausgesetzt, man kann auf friedliche und aufbauende Weise damit umgehen. Denn frei nach Rosa Luxemburg ist die Freiheit des christlichen Glaubens immer auch die Freiheit derer, die aus diesem Glauben andere Konsequenzen ziehen.

Was heißt das nun für unseren Umgang mit den Muslimen?

Erstens halte ich es für richtig, wenn wir nicht ständig um den heißen Brei herumreden, sondern klar und deutlich Position beziehen, so oder so. Denn es ist immer gut, wenn jeder weiß, wo man selber steht.

Zweitens halte ich es – wie schon gesagt – auch für richtig, dass un­sere Kirche für einen offenen und toleranten Umgang mit dem Islam wirbt und die Religionsfreiheit auch für Muslime verteidigt. Denn so wie Paulus denen Recht gab, die mit aller Freiheit und gutem Gewis­sen auch Opferfleisch aus Gottes Hand nehmen konnten, so gebe ich denen recht, die auf der Freiheit des Glaubens auch dann bestehen, wenn es um die Freiheit eines anderen Glaubens geht. Ob das Chris­tentum für unsere Gesell­schaft noch prägende Kraft besitzt oder wie­der gewinnen kann, das hängt ohnehin nicht davon ab, ob Muslime bei uns Moscheen bauen dürfen oder nicht, sondern daran, ob wir selber unseren Glauben ernst und wichtig nehmen, ob wir der Ge­rechtigkeit, dem Frieden und der Freude im heiligen Geist bei uns Raum geben. Wenn wir als Christen auf Gottes guten Geist vertrauen und ihn an uns wirken lassen, dann müssen wir friedliche Konkur­renz nicht fürchten. Im Gegenteil: vielleicht belebt sie sogar das Ge­schäft.

Und drittens halte ich für richtig, auch die Bedenken und Ängste derjenigen ernst zu nehmen, für die der Islam nicht zu Deutschland gehört – weder jetzt noch in Zukunft. Denn es gibt sie ja nun mal, die Muslime, die Toleranz als Schwäche auslegen und sie für Zwecke ausnutzen, die wir niemals akzeptieren können. Natürlich verursacht es Probleme, wenn Muslime unter sich bleiben, nur türkisch oder arabisch reden und nicht bereit sind, sich in unsere Gesellschaft zu integ­rieren. Und natürlich ist es gefühlsmäßig schwierig zu ver­dauen, wenn bisher Fremdes die vertraute Umgebung verändert – und sei es nur die ungewohnte, aber ansonsten völlig harmlose Bade­bekleidung einer frommen Muslimin. Nicht alle Menschen, und erst recht nicht alle Christenmenschen, die mit dem Islam in Deutschland ihre Schwierigkeiten haben, kann man einfach in die rechte Ecke schie­ben. Man kann sie nur durch Wort und Tat zu überzeugen ver­suchen, und da sehe auch ich zuallererst die Muslime selber in der Pflicht. Manches geschieht schon in dieser Richtung, aber es dürfte in der Tat ruhig mehr sein.

Was mich hoffen lässt: Manche Fragen, über die sich Christen in der Vergangenheit die Köpfe heiß geredet haben, sind heute längst erle­digt. Das war schon bei der Sache mit dem Opferfleisch so. Die nächste Generation von Christen hatte die religiösen Skrupel beim Essen und Trinken bereits überwunden. Die Freiheit des Paulus hatte sich durchgesetzt – sicher auch deshalb, weil sie mit Geduld und Rück­sichtnahme verbunden war. Anderes, was noch in meiner Ju­gend heiß diskutiert wurde, zum Beispiel ob nun der Wehr- oder der Zivil­dienst das deutlichere Friedenszeichen ist, ist heute auch Schnee von gestern. Vielleicht geht es ja mit der Frage „Gehört der Islam zu Deutschland?“ genauso. Vielleicht haben wir auch hier in Siegen eines Tages Verhältnisse wie ich sie vor etlichen Jahren in San Fran­cisco beobachten konnte. Da stehen die Gotteshäuser verschiedenster Konfessionen und Reli­gionen kunter­bunt durcheinander, oft in der­selben Straße, keiner stört sich dran, und die Kir­chen sind in der Re­gel voller als bei uns. So kann der aktuelle „Kul­turkampf“ auch aus­gehen, und daran sollten wir arbeiten, ein jeder auf seine Art und mit Gottes Hilfe. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein