Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 01. Februar 2015

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG SEPTUAGESIMAE

Text: Phil 2,12-13

Also, meine Lieben, – wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit, – schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Voll­bringen, nach seinem Wohlgefallen.

Ich beginne mit einer Rückblende: Wittenberg im Jahre 1512. In seinem Studier­zimmer im Turm des Augustinerklosters sitzt der Mönch und Theo­logieprofessor Dr. Martin Luther und grübelt über seiner lateinischen Bibel. Er ringt mit einer Stelle aus dem Römerbrief: „Im Evangelium wird Gottes Ge­rechtigkeit offenbart“, heißt es da in Kapitel 1, Vers 17. Und diesen Ausdruck „Gottes Gerechtigkeit“ hat Luther hassen gelernt.

Denn man hat ihm beigebracht, ihn so zu verstehen: „Gott ist gerecht, in­dem er die Sünder straft.“ Und als genauso einen Sünder fühlt sich Martin Luther – als einer, der nichts als Gottes Zorn ver­dient hat. All sein eifriges Bemühen, vor Gott untadelig zu leben, hat daran nichts ändern können. Und nun heißt es bei Paulus, dass die strafende Ge­rechtigkeit Gottes nicht nur durch sein Gesetz, seine Gebote offenbar wird, sondern auch noch durch das Evangelium, das doch eigentlich die frohe Botschaft von des Menschen Rettung sein soll. Wie soll man da bloß selig werden?

Was für Luther schließlich den Knoten löst, ist der Zusammenhang der Worte: „Im Evangelium wird Gottes Gerechtigkeit offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben.“ Also: Gottes Ge­rechtigkeit ist gar keine unerfüllbare Forderung, sondern ein Ge­schenk. Gott macht mich gerecht durch den Glauben, und das ist meine Rettung. „Da hatte ich das Empfinden“, schreibt Luther viele Jahre später, „ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöff­nete Tore in das Para­dies selbst eingetreten.“ Alles was danach ge­schah, Thesenanschlag, Reichstag zu Worms, Bibelübersetzung und so weiter, hat seine Wurzel in diesem Aha-Erlebnis beim Bibelstu­dium.

Und jetzt mache ich einen Zeitsprung:

Tübingen im Jahre 1986. Im Hörsaal 25 des so genannten „Kupfer­baus“ der Uni sitzen ein paar Hundert Theologiestudierende und hö­ren eine Vorlesung über den Römerbrief. Einer davon kommt aus dem frommen Siegerland und hat mit den paulinischen Vokabeln auch so seine Probleme. Bei ihm ist es weniger der Ausdruck „Gottes Gerechtigkeit“, der ihn umtreibt, denn dass kein Mensch durch eige­nes Tun vor Gott gerecht wird, das sehen auch Siegerländer Gemein­schaftsleute so – man ist ja schließlich evangelisch und hält auf Luther große Stücke. Aber das Stichwort „Glaube“ bereitet ihm Mühe. Denn vom Glauben hat er in Kirche und Vereinshaus immer gehört, dass der eine Sache eigener Entscheidung sei. „Jesus Christus ist für dich gestorben“, hieß es immer, „aber nun liegt es an dir, die­ses Angebot Gottes anzunehmen, zu glauben und gerettet zu werden oder es abzulehnen und auf ewig verloren zu sein.“ Und das wirft für den jungen Theologiestudenten viele Fragen auf: „Glaube ich ei­gent­lich richtig? Müsste ich dann nicht viel mehr davon spüren? Müsste ich meinen Glauben dann nicht viel entschiedener leben? Und wo mache ich meine Entscheidung für Christus fest, wo ich doch einfach in einer christlichen Familie und Gemeinschaft groß geworden bin und keinen konkreten Zeitpunkt benennen kann, an dem ich zum Glauben gefunden hätte?“

Der Professor, der die Vorlesung hält, kennt diese Fragen gut, denn auch er kommt aus dem Siegerland. Und deshalb ist er wohl genau der richtige, um besagtem Theologiestudenten den Römerbrief nahe zu bringen und auch ihn auf den Zusammenhang der Worte aufmerk­sam zu machen: Ob ich glaube oder nicht, das ist keineswegs Sache mei­ner freien Entscheidung. Denn diese Freiheit besitze ich über­haupt nicht, solange ich als Mensch unter der Macht der Sünde stehe. Glaube ist einzig und allein Gottes Geschenk. Als Christus am Kreuz für mich starb, da hat Gott alles, wirklich alles getan, was zu meiner Rettung nötig ist. Ich kann und muss dem nichts mehr hinzufügen, sondern darf es einfach für mich wahr sein lassen und meinen Glau­ben fröhlich leben, befreit von aller Gewissenslast und Grübelei. Auch das war also ein Aha-Erlebnis beim Bibelstudium. Es hatte nicht so gewaltige Folgen wie bei Martin Luther, aber zumindest wäre ohne dieses Erlebnis aus dem Theologiestudenten kein mit sei­nem Beruf zufriedener Pfarrer geworden.

Aber nun steht im heutigen Predigttext, vom gleichen Apostel Paulus geschrieben, ein Satz, der dem allem völlig zu widersprechen scheint: „Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.“

Also doch! könnte man denken, wenn man das liest und hört. Es wäre ja auch zu schön gewesen mit der Rettung allein aus Gnaden. Mit diesem Satz scheint der Mensch wieder auf sich gestellt zu sein. „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“, so lau­tet der göttliche Spruch am Ende von Goethes „Faust“. Und während man das wohl so verstehen muss, dass auch der Erlösung findet, der wie Faust mit seinem Be­mühen scheitert, deutet der Ausdruck „mit Furcht und Zittern“ in eine andere Richtung: Hier der heilige und Ehrfurcht gebietende Gott, der sein unerbittliches „Du sollst“ in Stein meißeln lässt und auch die kleinste Übertretung nicht übersieht – dort der schwache Mensch, der nur in Staub versinken kann vor Gottes Allmacht und Majestät und der nur vage hoffen kann, dass sein völ­lig unzulängli­cher Gehorsam den Zorn Gottes besänftigt und ihn dazu bringt, Gnade vor Recht ergehen zu lassen.

Machen wir uns nichts vor: Im Unterschied zu allen menschlichen Tyrannen, die mit ihren Unterjochten so umspringen, hätte Gott ein Recht so zu sein und so zu handeln. Der Prophet Jeremia macht es einmal am Bild des Töpfers klar: Wenn dem ein Tongefäß missrät, dann stampft er es ein und macht ein neues. Und wenn Gott feststel­len muss, dass das Geschöpf, das er zu seinem Gegenüber bestimmt hat, sich einen Teufel darum schert und sich aufführt, als ob es sei­nen Schöpfer gar nicht gäbe, dann hätte er alles Recht der Welt, die­ses Geschöpf in das Verderben rennen zu lassen, das daraus folgt, und dann noch mal von vorn anzufangen.

Aber so verhält sich Gott eben nicht. Dafür liebt er uns, seine Ge­schöpfe, viel zu sehr. Und deshalb muss man auch bei dem Satz aus dem Philipperbrief auf den Zusammenhang achten.

Erstens geht diesem Satz etwas voraus: eine großartige, hymnische Schilderung dessen, was Gott in Jesus Christus für uns getan hat:

Christus, der in göttlicher Gestalt war,

hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein,

sondern entäußerte sich selbst

und nahm Knechtsgestalt an.

Den Menschen gleich

und der Erscheinung nach als Mensch erkannt

erniedrigte er sich selbst

und wurde gehorsam bis zum Tode,

ja zum Tode am Kreuz.

Darum hat ihn auch Gott zu höchster Höhe erhoben

und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist,

dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie,

die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,

und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist,

zur Ehre Gottes, des Vaters.

Also: Die Seligkeit, die sie mit Furcht und Zittern schaffen sollen, ist für die angesprochenen Philipper längst Wirklichkeit. Denn das ist es ja gerade, was Gottes Sohn zu unserer Rettung und Seligkeit längst getan hat: sich selbst zu erniedrigen, ein schwacher Mensch wie wir zu werden, Gott gehorsam zu sein bis zum bitteren Ende am Kreuz. Und zu diesem Christus gehören alle, die an ihn glauben und sich zu ihm bekennen. „Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zit­tern“, das kann Paulus nur solchen sagen, die schon selig sind.

Aber wozu dann noch? Wenn wir schon selig sind, weil wir an Christus glauben, was sollen wir dann noch tun? Und was haben wir noch für einen Grund zum Fürchten und Zittern? Müssen wir den Satz des Paulus nicht so verstehen, dass wir das Heil, das längst gesche­hen und uns geschenkt ist, doch noch wieder verspielen kön­nen? Müssen wir Angst davor haben, unseren Glauben wieder zu verlieren und dann auf ewig verloren zu sein? Müssen wir fürchten, dass Gott am Ende zu uns sagt: „Ich hab dir viel geschenkt, aber du hast zu wenig draus gemacht, und fürs ewige Leben hat’s leider nicht gereicht“? Ich weiß von etlichen frommen Christen, die solche Fra­gen in bodenlose Verzweiflung getrieben haben. Kann Paulus, kann Gott das gewollt haben?

Die Antwort ist ein deutliches Nein, denn wir haben den Zu­sammen­hang der Worte noch nicht zu Ende bedacht. Es geht ja noch weiter: „Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch beides wirkt, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“ Gott ist es, der in uns wirkt. Das heißt: Wir können gar nicht glauben, ohne dass Gott es will. Und wir kön­nen unseren Glauben nicht in die Tat umsetzen, wenn Gott es nicht voll­bringt. Es bleibt also bei Luthers Erkenntnis: Nichts, aber auch gar nichts kann ich für mein Seelenheil tun, ohne dass Gott es be­wirkt. Gott geht also nicht 99 Schritte auf mich zu und lässt mich dann den einen verbleibenden Schritt selber tun – oder auch nicht. Dieses Bild, das die Evangelisten mei­ner Jugend gern gebrauchten, ist falsch! Gott geht alle 100 Schritte zu mir hin und nimmt mich mit auf den Weg zum Heil. Und er wird dafür sorgen, dass ich dort auch an­komme. Ich bin gerettet, ich ge­höre zu Christus, und dabei wird es bleiben.

Ja, und was heißt das jetzt für mein tägliches Leben? Kann ich mich als Christ auf die faule Haut legen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, weil ja in punkto Ewigkeit alles geregelt ist? Oh nein, natürlich nicht! Das mit dem „Schaffen mit Furcht und Zittern“ ist durchaus ernst gemeint. Als Christenmensch, dem die Größe von Gottes Geschenk wirklich aufgegangen ist, werde ich aber auch gar nichts anderes wollen. Im Gegenteil: Ich werde ganzen Einsatz zei­gen, um ihm meine Ehrfurcht, meine Dankbarkeit zu zeigen. Ich werde meinen Mitmenschen die Liebe Gottes, die mir widerfahren ist, nahe bringen, wo es irgend geht – in Wort und Tat. Das kann und wird bestimmt auch mal anstrengend werden oder Verzicht verlan­gen. Es wird auch immer wieder Zweifel geben, ob ich das Ziel auch erreiche. Aber ich kann dann doch immer wieder mit Freuden und ohne Angst ans Werk gehen, weil ich mir bei Gott weder etwas ver­dienen muss noch etwas verlieren kann, sondern zu ihm gehöre in Zeit und Ewigkeit. Und so kann ich schon hier auf Erden der Selig­keit näher kommen, die Gott für mich bereithält.

Also dann: Machen wir uns an die Arbeit! Leben wir dankbar so, wie Gott es will, bei allem, was wir zu tun haben. Er hat uns die Freiheit dazu gegeben, er gibt uns auch die Kraft. Und er wird unserem Tun seinen Segen nicht verweigern. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein