Predigt Talkirche, Sonntag, 9.November 2014

Gottesdienst für den drittletzten Sonntag des Kirchenjahres 

Text: 1. Thess, 5,1-6

Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Geschwister, ist es nicht nö­tig, euch zu schreiben; denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen wer­den: „Es ist Friede, es hat keine Gefahr“, dann wird sie das Ver­derben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entfliehen. Ihr aber, liebe Geschwister, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schla­fen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. Denn die schlafen, die schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil. Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. Darum ermahnt euch untereinander, und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.

Da steckt mal wieder viel drin, in diesem Text. Viel mehr als man in einer Predigt verarbeiten kann. Aber irgendwo muss ich ja anfangen, und deshalb beginne ich mit V.3: „Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entfliehen.“ Wenn ich diesen Vers so für sich betrachte, dann fallen mir rasch eine Menge Beispiele dazu ein. Die Passagiere der „Titanic“ zum Beispiel: Eben hatten sie noch fröhlich gefeiert oder friedlich geschlafen, aber dann war da plötzlich dieser Eisberg. Oder die Ange­stellten im World Trade Center: Eben waren sie noch mit alltäglicher Routine ihrer Arbeit nachgegangen, aber dann rasten zwei Flugzeuge in ihre Büros. Solche Dinge geschehen gottlob nicht jeden Tag, aber leider doch viel zu oft, und sie graben sich tief ins Gedächtnis der Menschheit ein. Aus heiterem Himmel von einer Katastrophe heim­gesucht zu werden, diese Angst steckt tief in uns drin, und wohl des­halb sind wir besonders erschüttert, wenn wir so etwas mit ansehen müssen oder auch nur davon hören.

Möchte Paulus mit seinen Worten an diese Ängste rühren? Möchte er uns vermitteln: „So wird das Jüngste Gericht über euch hereinbre­chen, wie der Eisberg über die Titanic und wie der Terror über die Twin Towers“? Möchte er uns sagen: „Ihr seid nirgendwo und nie­mals sicher vor dem Zorn Gottes, plötzlich wird er über euch herein­brechen, und dann ist es aus mit euch“? Solche finsteren Endzeit-Propheten gab es in der Kirchengeschichte immer wieder, und hier und da läuft immer noch einer durch die Fußgängerzonen, hält Droh­predigten und verteilt Traktätchen. Zum Glück nimmt sie heute kaum noch jemand ernst.

Aber Paulus war nicht so einer. Er wollte niemandem Angst einja­gen. Er wollte die Christen in Thessaloniki trösten, sie ermuntern, ihnen Mut machen – all das steckt in dem griechischen Wort, das unsere Bibel etwas einseitig mit „ermahnen“ übersetzt – und  er wollte dass sie das Gleiche auch untereinander tun. Die, die sich leichtfertig in Sicherheit wiegen, das sind ja die anderen, die nicht dazu gehören zu der kleinen christlichen Gemeinde in Thessaloniki. „Ihr“, sagt Paulus dagegen zu seinen Leuten, „ihr wisst ja Bescheid. Ich hab euch das doch alles schon erzählt, als ich bei euch war. Ei­gentlich müsste ich euch also gar nichts mehr darüber schreiben. Für euch ist die Nacht schon um, in der die Diebe umherschleichen. Eure Ge­sichter spiegeln schon das Licht des anbrechenden Tages wieder. Und dieser Tag, der Tag des Herrn, bringt euch nicht Angst und Schrecken, sondern er bringt euer Heil zur Vollendung.“

Na, dann ist ja alles Butter. Wenn die Christen in Thessaloniki das alles schon wissen, dann muss Paulus es ihnen ja wirklich nicht mehr schreiben. Warum tut er es dann aber doch? Ich denke, er tut es des­halb, weil den Thessalonichern trotz ihres besten Wissens eine Ge­fahr droht. Und zwar die, dass sie schon so sehr „droben im Licht“ wandeln, dass sie nicht mehr auf ihre Füße schauen. Die haben näm­lich bis zum Tag des Herrn noch ein Stück Weges zurückzulegen, sei es nun kurz oder lang. Und wenn man da blind drauflos läuft wie ein Schlafwandler oder herumtorkelt wie ein Betrunkener, dann kommt man auf dem Weg schnell zu Fall. Deshalb die Mahnung: seid wach­sam und nüchtern. Verliert das Ziel nicht aus den Augen, aber über­legt auch, wie ihr da hin kommt und was ihr dafür tun müsst. Gott gibt euch dafür das rechte Rüstzeug an die Hand: Glauben und Liebe und Hoffnung. Und nun seht ihr zu, wie ihr davon rechten Gebrauch macht.

Ich frage mich, wie wohl ein Brief aussähe, den Paulus an die Ge­meinde Klafeld schreiben würde. Bei uns könnte er wohl nicht davon ausgehen, dass wir mit dem Tag des Herrn rechnen wie mit dem Dieb in der Nacht. Wir können uns zwar wieder vorstellen, dass die Welt untergeht: durch einen Atomkrieg, durch einen Meteoriten­ein­schlag oder etwas langsamer durch die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Darin sind wir den ersten Christen wieder näher als es noch unsere Großeltern waren. Aber dass dieses Ende der Welt zugleich der „Tag des Herrn“ sein könnte, der nicht nur Zerstörung bringt, sondern einen neuen Himmel und eine neue Erde, in dem es keinen Tod und keine Vergänglichkeit mehr gibt, das liegt jenseits unserer Vorstellungskraft.

Also was würde Paulus uns schreiben? Ich denke, er müsste akzep­tieren, dass wir es so wie er nicht mehr sehen können: dass der Herr bald mit den Wolken des Himmels wiederkommt, dass dann die To­ten auferstehen, und dass dann wir, die wir noch leben, mit den Auf­erweckten zusammen „entrückt werden auf den Wolken in die Luft dem Herrn entgegen“, wie er es im Abschnitt vor unserem Predigt­text schreibt.  Aber ich denke, er könnte das auch akzeptieren, denn er war sich bewusst, dass nicht nur das Wann dieses Tages überra­schend sein würde, sondern auch das Wie. Ich denke, es würde ihn nicht stören, wenn es ganz anders vor sich ginge, als er es beschrie­ben hat.

Aber an einem würde er festhalten und uns das auch so sagen: Am Ende unseres Lebens und unserer Welt steht nicht der Untergang, nicht die Zerstörung, nicht das Nichts, sondern am Ende steht Gott. Er ist das Ziel auf das hin wir leben, er ist das Ziel auf das unsere Welt zugeht. Und weil Gott so ist, wie er sich uns in Jesus Christus gezeigt hat, müssen wir vor diesem Ziel nicht erschrecken oder es ängstlich verdrängen, sondern wir können zuversichtlich und frei darauf zugehen, weil Gottes Liebe uns erwartet. Das ist das, worauf es ankommt, wenn es um unsere Zukunft geht – alles andere ist Spe­kulation.

Die Mahnung, die Paulus den Thessalonichern mit auf den Weg gibt, die würde er uns allerdings genauso schreiben: „Seid nüchtern und wachsam“. Damals hieß das allerdings: „Tut nicht so, als ob ihr schon im Himmel wärt.“ Für uns müsste es eher heißen: „Tut nicht so, als ob sowieso alles den Bach runter geht.“ Denn Pessimismus und Euphorie sind gleichweit von der rechten Nüchternheit entfernt. Wer nämlich weiß, dass Gott das Ziel ist, der kann die Gefahren des Weges ernst nehmen, ohne vor ihnen zu erstarren wie das Kaninchen vor der Schlange. So wie man die Spannung eines Films manchmal nur aushält, weil man weiß, dass es ein Happyend gibt, so kann man die Gefahren und die Tiefschläge des Lebens nur meistern, wenn man weiß, dass sie nicht das letzte Wort behalten werden.

Wenn ich mich zum Beispiel für die Zukunft der Erde nur auf die durchaus realistischen Prognosen der Wissenschaft verlassen müsste: zwölf Milliarden Menschen, die von deutlich kleineren Ressourcen leben müssen, Wälder, Erdöl und Kohle die unwiederbringlich ver­braucht sind, aber deren Verbrennung vorher noch das Klima so ver­ändert hat, dass der Meeresspiegel steigt und die Wüste wächst, ein im­mer heftigerer Zusammenprall von unvereinbaren Kulturen, Reli­gionen und sozi­alen Gegensätzen und Heere von Flüchtlingen, die dem allen zu entkommen suchen – wenn ich sonst nichts über die Zukunft der Welt wüsste als das, dann müsste ich entweder versu­chen, das alles nicht wahrzunehmen – „es ist Friede, es hat keine Gefahr“ – oder ich müsste verzweifeln. Wenn ich aber Grund habe zu dem Glauben, dass Gott die Welt geschaffen hat und nicht will, dass sie zugrunde geht, wenn ich Grund habe zu der Hoffnung, dass er deshalb nicht zulassen wird, dass wir die Welt völlig zugrunde richten, und wenn ich Grund habe, die Liebe Gottes zu allen seinen Geschöpfen zu teilen und weiter­zugeben, dann kann ich den Gefah­ren ins Auge sehen, ohne wegzu­schauen oder vor ihnen zurückzu­weichen. Dann kann ich Zeichen des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung setzen, weil ich weiß, dass sie zumindest vor Gott nicht vergeblich sein werden. „Denn“ – so möchte ich die Worte des Paulus für uns abwandeln – „Gott hat uns nicht bestimmt zur Ver­zweiflung, sondern dazu, das Heil zu er­langen durch unseren Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit wir zugleich mit ihm leben.“ Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein