Predigt, Talkirche, Sonntag, 27.12.2015

GOTTESDIENST FÜR DEN ERSTEN SONNTAG NACH WEIHNACHTEN

Text: Mt 2,13-23

Als aber die Weisen hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: „Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen.“ Da stand er auf und nahm das Kind­lein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten und blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.«

Als Herodes nun sah, daß er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Knaben in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte. Da wurde er­füllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht: »In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.«

Als aber Herodes gestorben war, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum in Ägypten und sprach: „Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und zieh hin in das Land Is­rael; sie sind gestorben, die dem Kindlein nach dem Leben getrach­tet haben.“ Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mut­ter mit sich und kam in das Land Israel. Als er aber hörte, dass Archelaos in Judäa König war anstatt seines Vaters Herodes, fürch­tete er sich, dorthin zu gehen. Und im Traum empfing er Befehl von Gott und zog ins galiläische Land und kam und wohnte in einer Stadt mit Namen Nazareth, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch die Propheten: Er soll Nazoräer heißen.

Seit alter Zeit begeht die Christenheit kurz nach Weihnachten den „Tag der Unschuldigen Kindlein“, und der hat seine Grundlage in dem Text, den ich gerade gelesen habe. Er nimmt wahrlich wenig Rücksicht auf unsere weihnachtlichen Gefühle. Noch klingt uns die Botschaft vom Frieden auf Erden im Ohr, noch haben wir die (hoffent­lich) leuchtenden Au­gen unserer Kinder und Enkel unterm Christbaum vor Augen, da mutet er uns schon wieder eine Ge­schichte zu, die von brutalem Machtkalkül und zigfachem Mord han­delt – und die Opfer sind obendrein so unschuldig, wie man es sich nur denken kann: Säug­linge und Kleinkinder zwischen null und zwei Jahren. Sie müssen sterben, und ihren Müttern und Vätern zerreißt es das Herz, einfach nur, weil ein grausamer alter Tyrann Angst um seinen Thron hat.

Wahrscheinlich ist das alles nicht wirklich passiert. Wahrscheinlich wußte der echte Herodes nichts von der Geburt Jesu, erst recht nicht, dass dieses Kind als Nachkomme des Königs David seine Herr­schaft in Frage stellen könnte. Und deshalb hat wohl auch der Kin­dermord zu Bethlehem nicht stattgefunden. Aber das hilft uns nicht viel. Denn obwohl die Geschichte keine historischen Tatsachen berichtet, ist sie doch nur zu gut erfunden. Die unschuldigen Kinder von Bethlehem hat Herodes zwar nicht auf dem Gewissen, wohl aber viele andere, und sogar drei seiner eigenen Söhne. Er ließ sie um­bringen, sobald er auch nur vage befürchten mußte, daß sie ihm ge­fährlich werden könn­ten. Den designierten Thronfolger Antipater ließ er noch hinrich­ten, als er sich selber schon in Todesqualen wand. Da konnte man sich leicht ausmalen, was passiert wäre, wenn er von der Geburt eines möglichen Messias’ erfahren hätte. Und so entstand die Le­gende, die uns Matthäus in seinem Evangelium erzählt.

Wie gesagt, mit „Frieden auf Erden“ hat das alles wenig zu tun. Aber so geht es eben zu in unserer Welt, leider auch zur Weihnachtszeit. Denn Herodes ist ja kein Einzelfall. Immer wieder gingen und gehen die Machthaber dieser Erde über die Leichen Unschuldiger, auch über die von unschuldigen Kindern. Dazu brauchen wir heute ja nur nach Syrien zu schauen: Da klammert sich ein Diktator, den niemand mehr haben will, an die Macht, indem er das eigene Volk gnadenlos bombardieren lässt. Trotzdem wird er vom Präsidenten einer frühe­ren Supermacht immer noch unterstützt, jetzt auch militärisch, weil der seine Macht wieder ausbauen und von anderen Konflikten ablen­ken will. Islamistische Terrorbanden nutzen die Situation aus und errichten im Machtvakuum eine Schreckensherrschaft, deren langer Arm bis nach Europa reicht. Ein lange unterdrücktes Volk ergreift die Gelegenheit, um sich endlich einen eigenen Staat zu erkämpfen. Dieses Volk wird wiederum von der Regierung eines Nachbarlands mit Krieg überzeugen, weil die genau diesen unabhängigen Staat um keinen Preis haben möchte. Europa und Amerika reagieren auf all das nur halbherzig, weil man bloß nicht zu tief in dieses Chaos hineinge­zogen werden möchte. Und bei alledem sind bisher Hunderttau­sende gestorben und Millionen zur Flucht getrieben wor­den, von denen die allermeisten nichts für die katastrophale Lage können.

So sind sie, die grausamen Realitäten. Und so waren sie auch schon zu der Zeit, als die Geschichte vom Kindermord zu Bethlehem ent­stand. Aber eigentlich geht es dort ja nicht in erster Linie um die un­schuldigen toten Kinder, so sehr sie zu beklagen sind und auch be­klagt werden. Eigentlich geht es um das eine Kind, das dem Morden entkommt. Und es geht um Gott, der das Machtkalkül des Herodes durchkreuzt. Gott sieht den Mächtigen ins Herz. Er weiß um ihre Pläne und lässt den Josef davon wissen. Und er führt Jesus, seinen Sohn, den Weg, der für ihn bestimmt ist: erst ins Asyl nach Ägypten, dann zurück ins Land Israel und schließlich nach Nazaret in Galiläa. Für Matthäus und seine Gemeinde erfüllt sich in alledem das, was in ih­rer Bibel steht, in unserem Alten Testament. Sie sind überzeugt: al­les, was mit Jesus geschieht, hat so seine Richtigkeit; es kommt von Gott her so, wie es kommen sollte.

Vielleicht liegt Ihnen jetzt ein Einwand auf der Zunge: Treibt Gott auf diese Weise denn nicht auch ein egoistisches Machtspiel? Er sorgt dafür, dass sein Sohn gerettet wird, aber er rührt keinen Finger für die anderen Kinder. Ob es für die Mütter von Bethlehem wohl ein Trost gewesen wäre, wenn sie erfahren hätten, daß die ganze Aktion des Herodes vergeblich war, weil der, um den es eigentlich ging, rechtzeitig in Sicherheit gebracht wurde?

So zu denken, liegt nahe. Aber wir vergessen dabei eins: in der gan­zen Geschichte Jesu geht es ja ein einziges Mal nicht um die Macht­frage, sondern um den Machtverzicht. Mag die Angst des Herodes vor seinen eigenen Söhnen noch eine gewisse Berechtigung gehabt haben: seine Angst vor Jesus ist völlig unbegründet. Jesus hat von den Machthabern seiner Zeit nicht viel gehalten, aber nie hat er ihnen ihre irdische Herrschaft streitig gemacht; nie hat er Anspruch erho­ben auf den Thron Davids. Im Gegenteil: Jesus verzichtet auf alle äußer­liche Macht und Gewaltanwendung. Er kommt eben nicht als Prinz in Jerusalem zur Welt, wie die Weisen aus dem Morgenland dachten, sondern als Kind einfacher Leute in Bethlehem. Er wider­steht der Versuchung des Teufels, der ihm alle Reiche der Welt anbie­tet. Er wird gerade nicht zum Anführer des Widerstands gegen die Römer, obwohl das viele gern gesehen hätten. Sondern er verkün­det Gottes Herrschaft und ruft zur Feindesliebe auf. Er lässt seine Anhänger nicht zu den Waffen greifen, als er verhaftet wird, sondern lässt sich widerstandslos festnehmen, verurteilen, foltern und hinrichten. Von diesem Jesus hat Gott gesagt: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Diesen Jesus hat er von den Toten auferweckt. Mit Jesus hat sich Gott entschlossen, diesen Weg der Ohnmacht und Gewaltlosigkeit zu gehen.

Und so war es nach unserer Geschichte von Anfang an. Gott verzich­tet darauf, seine Macht zu demonstrieren. Er greift nicht direkt in das Geschehen ein. Er schickt kein Engelheer und schleudert keinen Blitz auf Herodes. Alles, was er tut, ist, Josef im Traum zu warnen. Hätte Josef die Warnung nicht befolgt, wäre der kleine Jesus dem Zorn des Herodes genauso schutzlos preisgegeben gewesen wie jedes andere Kind. Genauso schutzlos, wie der erwachsene Jesus den Scher­gen des Pontius Pilatus ausgeliefert war. Schon in dieser Ge­schichte am Anfang des Evangeliums kann man also erahnen, was Jesus bevor­steht. Nur dass jetzt die Zeit dafür noch nicht reif ist.

Gerade das ist das Entscheidende an der Geschichte Jesu, so paradox es klingt: gerade in der Ohnmacht Jesu ist seine wahre Macht verbor­gen. Mit Gewalt hätte er den Kreislauf des Fressens und Gefressen­werdens nicht durchbrechen können. Dann wäre er nur ein Macht­mensch unter vielen gewesen. Nur seine Ohnmacht, die zugleich Gottes Ohnmacht war, konnte er diesen Teufelskreis außer Kraft setzen. Nur so konnte sein Leben und Sterben Sünde, Schuld und Tod überwinden. Und deshalb dürfen wir wissen: überall, wo heute Men­schen unschuldig leiden, ob Erwachsene oder Kinder, da ist er mitten unter ihnen. Als einer, der mitleidet, aber auch als der, der dem Lei­den nicht das letzte Wort überlässt. Vorerst haben wir nur die Hoff­nung auf ein Ende der Gewaltspirale, auf echten Frieden und wahre Gerechtigkeit. Aber wenn es stimmt, was uns die Bibel von Jesus erzählt, dann hat diese Hoffnung einen festen Grund. Wohl dem, der darauf vertrauen kann. Und wohl dem, der dann auch da­nach handelt und den Unschuldigen beisteht, so gut er kann. Reich­lich Gelegenheit dafür bietet sich ja inzwischen schon dierkt vor unse­rer Haustür. Amen.

Pfr. Dr. Martin Klein