Predigt Talkirche, Sonntag, 12. Januar 2014

Gottesdienst für den ersten Sonntag nach Epiphanias

Text: Jes 42,1-4

„Was fällt, das soll man nicht auch noch stoßen.“ So lautet ein Sprichwort. Und wie es häufig mit solchen Sprichwörtern ist, reagiert es auf etwas, das leider sehr oft geschieht. Wir Menschen haben an­scheinend einen unbezähmbaren Drang danach, etwas den Rest zu geben, das ohnehin im Abgang begriffen ist. Schon bei Kindern lässt sich das beobachten: Ist bei einem Spielzeug irgendetwas kaputt, wird es mit Wonne ganz auseinandergenommen, auch wenn es durchaus noch brauchbar wäre. Oder ist bei einem leerstehenden Haus erst einmal eine Fensterscheibe eingeworfen, dann sind die übrigen unter Garantie auch bald hin. Aber auch wir gesitteten Er­wachsenen verhalten uns nicht viel anders. Wir mögen uns zwar dar­über beklagen, dass bei allem technischen Gerät ständig neue Mo­delle auf den Markt geworfen werden, aber im Zweifel kaufen wir uns dann doch die High-Tech-Kaffeemaschine oder den neusten Flachbildfernseher und verschrotten ihre Vorgänger, obwohl die vielleicht noch tadellos funktionieren.

Nicht so harmlos und viel schlimmer ist es natürlich, dass wir uns im Bezug auf Menschen auch nicht viel anders verhalten: Kassiert ein Fußballtrainer mit seinem Team mehrere Niederlagen hintereinander, ist er bei den Fans abgemeldet und ruckzuck weg vom Fenster. Schlägt bei einem beliebten Schauspieler die Demenz oder ein ande­res Leiden zu, wird sein hilfloser Zustand in den Medien ge­nüsslich breitgetreten. Ist der Opa krank und kann nicht mehr mit den Enkeln spielen, mögen sie ihn auch nicht mehr besuchen. Bleiben Menschen länger am Leben, als sie sich selber versorgen können, ist sehr schnell von „nicht mehr lebenswert“ und von „Sterben in Würde“ die Rede. Kommt ein Land wirtschaftlich nicht auf die Beine, wird dort auch nicht mehr investiert. Ist ein Unternehmen erst einmal ange­schlagen, treibt der Wettbewerb es erst recht in die Pleite, und die Belegschaft steht auf der Straße.

So sind wir Menschen. Mögen wir äußerlich noch so kultiviert sein, verhalten wir uns doch innerlich wie wilde Tiere, bei denen nur die Starken überleben und die Schwachen gefressen werden. Und was wir damit anrichten, merken wir oft erst, wenn wir selber die Schwa­chen sind.

Der heutige Predigttext aus Jesaja 42 stellt uns einen vor, der anders ist. Einen, der uns ein Gegenbild liefert zum Fressen und Gefressen­werden. Einen, der anders ist, weil Gott ihn uns geschickt hat:

Siehe, das ist mein Knecht – ich halte ihn – und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte und die Inseln auf seine Weisung warten.

„Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ Da ist also endlich einer, der aus­schert aus dem Drang, dem Alten, Schwachen, Angeschlagenen, Überholten den „Gnadenstoß“ zu versetzen. Manchmal tun wir das ja auch, und zwar immer dann, wenn uns etwas oder jemand besonders viel wert ist. Die alte Uhr unseres Großvaters heben wir sorgfältig auf, auch wenn sie schon längst nicht mehr funktioniert – weil daran so viele Erinne­rungen hängen. Um die kranke Mutter, den pflegebe­dürftigen Vater, den hinfälligen Ehepartner kümmern mir uns mit großem Einsatz – weil wir daran denken, wie viel sie früher für uns getan haben, oder schlicht weil wir sie lieb haben.

Auch bei dem Knecht Gottes aus dem Predigttext ist das so: Er sieht in dem verdreckten Bettler auf der Straße, in der hilflosen Jammerge­stalt auf dem Krankenlager immer noch das geliebte Ge­schöpf Got­tes. Dass Gott sie liebt, das verleiht ihnen eine Würde, die ihnen auch Armut, Alter, Krankheit und Entstellung nicht nehmen können. Und diese Würde, und wenn es nur noch ein letzter Rest davon ist, tastet der Knecht Gottes nicht an. Und so richtet er man­ches geknickte Rohr wieder auf und bringt manchen glimmenden Docht wieder zum Brennen, und wenn nicht, so lässt er sie zumindest in Ruhe verwel­ken und in Frieden verlöschen.

Ein Geheimnis umgibt diesen „Knecht“, den Gott uns hier vorstellt. Sein Name wird uns nicht verraten, seine Gestalt bleibt rätselhaft. Ist er ein König? Ein Prophet? Ein Priester? Eine Symbolfigur? Oder alles zusammen? Aus unserer christlichen Sicht hat Jesus dieses Ge­heimnis gelüftet. „Siehe, das ist mein Knecht, an dem ich Wohlge­fallen habe“, heißt es im Jesaja-Buch. „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“, sagt die Himmelsstimme bei der Taufe Jesu. Und bei dem, was uns die Evangelien dann von Jesus berichten, wird konkret, was im Alten Testament nur angedeutet ist. Da begeg­net uns der glimmende Docht zum Beispiel in dem Gelähmten am Teich Bethesda, der dort seit 38 Jahren liegt und vergeblich auf Hei­lung wartet. Er begegnet uns in der Prostituierten, die mit ihren Trä­nen der Verzweiflung Jesus die Füße wäscht. Und er begegnet uns noch in dem sterbenden Terroristen, der neben Jesus am Kreuz hängt und ihn um Vergebung bittet. Keinen von ihnen hat Jesus seinem Schicksal überlassen, mochte es nach damaligen Maßstäben auch noch so verdient sein. Für sie alle hatte er mindestens ein helfendes Wort, oft auch eine heilende Tat.

Seine Umgebung konnte das auf Dauer nicht ertragen. Sie konnte es nicht hinnehmen, dass hier einer das Recht zu den Schwachen hi­naustrug und damit das Recht des Stärkeren aufhob. Und so ist Jesus an seiner Liebe zu den „geknickten Rohren“ und „glimmenden Dochten“ schließlich selber zerbrochen und erloschen. Aber das neue Recht, das er gesetzt hatte, das konnten seine Henker nicht mehr aus der Welt schaffen. Mit der Botschaft von seiner Auferstehung ging es hinaus über die ganze Erde bis hin zu den fernsten Inseln.

Natürlich ist das Recht des Stärkeren damit noch nicht abgeschafft. Das erleben wir Tag für Tag. Aber seit Gott uns Jesus geschickt hat, gilt es nicht mehr unangefochten. Seit er es durchbrochen hat, ist es nicht mehr unangreifbar. Alle, die sich weigern, das Fallende auch noch zu stoßen, können seitdem Gott auf ihrer Seite wissen.

Und sie haben ja manches erreicht im Lauf der Jahrhunderte. Zwar gibt es immer noch Menschen, die Sklavenarbeit leisten müssen. Aber wenigstens kann heute niemand mehr behaupten, dass Sklave­rei rechtens oder gar Gottes Wille ist – und dazu haben christliche Geg­ner der Sklaverei entscheidend beigetragen. Zwar werden Behin­derte immer noch diskriminiert und benachteiligt. Aber wenigstens kann heute niemand mehr ungestraft ihr Leben als „lebensunwert“ bezeichnen – auch weil Christen im „Dritten Reich“ den Mut aufge­bracht haben, gegen das „Euthanasie“-Projekt der Nazis zu protestie­ren.

Das sind nur zwei Beispiele von vielen. Aber sie zeigen, dass es sich lohnt im Namen Jesu für die Schwachen einzutreten und für ihre Menschenwürde zu kämpfen. Möge Gott uns den Mut geben, dass wir das tun, wo wir die Möglichkeit dazu haben. Dass wir nicht mit­machen, wo über sogenannte gescheiterte Existenzen hergezogen wird. Dass wir uns hüten, einem Leben den Wert und den Sinn abzu­sprechen, nur weil wir ihn nicht erkennen können. Dass wir uns wei­gern, vor dem Elend der Welt zu kapitulieren und die Augen vor der Not anderer Menschen zu verschließen, auch wenn es bequemer er­scheint und dem Seelenfrieden anscheinend dienlich ist.

Und wenn Sie schon in dem Alter sind, wo Sie nicht mehr so viel tätige Hilfe leisten können, dann wünsche ich Ihnen, dass Sie selber aufrichtende, helfende Hände finden, wenn ihre Kräfte nachlassen und irgendwann zu versiegen drohen – seien es die liebevollen und dankbaren Hände Ihrer Kinder und Enkel oder auch die geübten und hoffentlich trotzdem liebevollen Hände von Pflegekräften.

Aber ob wir nun helfen oder Hilfe brauchen: Wir alle können Kraft aus der Gewissheit schöp­fen, dass das Recht der Schwachen seit Jesus längst in der Welt ist. Und dass es sich durchsetzen wird – ge­gen allen Augenschein, gegen alle Erfah­rung. Da können wir uns auf Gott verlassen: er hält seinen Knecht und mit ihm auch uns, und er wird dafür sorgen, dass sein Auftrag zum Ziel gelangt. Amen.

(Pfarrer Dr. Martin Klein)