Predigt Talkirche, Sonntag, 07.10.2018

GOTTESDIENST FÜR DAS ERNTEDANKFEST

Text: 1. Tim 4,1-5

Das Erntedankfest kann ziemlich deprimierend sein. Diese Erfahrung habe ich jedenfalls vor Jahren bei einer Mitarbeiterfreizeit im Sauerland gemacht. Am Erntedanktag besuchten wir den örtlichen evangelischen Gottesdienst – und erlebten ein Erntetrauerspiel. Außer unserer Freizeitgruppe verloren sich noch ein Dutzend graue Köpfe im geräumigen Kirchenschiff. Der Altarschmuck bestand aus zwei, drei zerzausten Getreidebündeln, die wohl schon lange Jahre im Einsatz waren, und ein paar staksigen Sonnenblumen, die still vor sich hin welkten. Passend dazu hielt der Pastor mit missmutigem Gesicht eine Predigt, auf der zentnerschwer das Elend der Welt lastete. Eigentlich könne sich doch gar keiner mehr über die Ernte freuen, war der Grundtenor – angesichts der Hungernden in Afrika, der Vernichtung von Agrarüberschüssen, dem Sterben der kleinen Bauernhöfe, der Massentierhaltung, dem Gift in unseren Lebensmitteln und so weiter und so fort. Ganz am Schluss kamen dann zwar die Stichwörter „Dank“ und „Hoffnung“ noch vor, aber so verklausuliert („irgendwie ein Stück weit“), dass sie nichts mehr retten konnten. Und dann schmeckten die Oblaten beim Abendmahl noch penetrant nach des Pfarrers Rasierwasser, so dass man auch die nicht so recht mit Danksagung empfangen mochte. Immerhin: seitdem weiß ich, wie man’s nicht macht!
Mir kam diese Episode wieder in den Sinn, als ich über den heutigen Predigttext nachdachte. Denn der hat es auch mit Leuten zu tun, die das Danken für Gottes gute Schöpfung verlernt haben. Er steht im ersten Brief an Timotheus, im 4. Kapitel:

Der Geist aber sagt deutlich, dass in den letzten Zeiten einige von dem Glauben abfallen werden und verführerischen Geistern und Lehren von Dämonen anhängen, verleitet durch Heuchelei der Lügenredner, die ein Brandmal in ihrem Gewissen haben. Sie gebieten, nicht zu heiraten und Speisen zu meiden, die Gott geschaffen hat, dass sie mit Danksagung empfangen werden von den Gläubigen und denen, die die Wahrheit erkannt haben. Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.

Natürlich sind die hier beschriebenen „Lügenredner“ noch mal ganz anders drauf als der Kollege, von dem ich gerade erzählt habe. Der hätte sicher nicht bestritten, dass Gott die Welt jedenfalls ursprünglich mal gut und dankenswert geschaffen hat. Die Gnostiker dagegen, zu denen die Irrlehrer der Timotheusbriefe gehörten, die bestritten das sehr wohl. Für sie war die irdische, sichtbare Welt von Grund auf schlecht. Nicht Gott hatte sie geschaffen, sondern ein böser Geist. Er hatte das getan, um die göttlichen Lichtfunken, die in jeder Menschenseele schlummern, gefangen zu halten: gefesselt an einen irdischen Körper, eingesperrt in eine Welt, in der sie eigentlich fremd sind. Ziel der Gnostiker war deshalb, das Göttliche im Menschen aus dieser bösen Welt zu befreien und zu Gott zurückzubringen. Und dazu hielten sie sich von allem Irdischen möglichst fern: sie heirateten nicht und bekamen keine Kinder, sie besaßen nichts und aßen möglichst wenig – oft nur Wasser und Brot. Wenn das alles zu einem frühzeitigen Ableben führte, dann umso besser. Denn dann war man endlich alle irdischen Fesseln los und konnte heimkehren zu Gott.
Wir mögen über solche Vorstellungen heute den Kopf schütteln. Aber die Zweifel, ob wirklich Gott als guter Schöpfer hinter unserer Welt steht, die gibt es heute mehr denn je. Wir machen doch alle täglich Erfahrungen, die dagegen sprechen, und viele Menschen, denen es nicht so gut geht wie uns, erleben es noch viel massiver. Man kann es zwar für unfair halten, alles Schlimme, was Menschen tun, gleich ihrem Schöpfer anzulasten – wenn er ihnen doch einen freien Willen gegeben hat. Aber vielleicht gibt es diesen Schöpfer eben gar nicht. Vielleicht ist der Mensch einfach eine Fehlentwicklung der Evolution, die das ganze Ökosystem aus dem Lot bringt. Vielleicht ist deshalb all die halbherzige Flickschusterei, mit der wir Menschen die Natur retten wollen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Vielleicht wird alles erst wieder gut, wenn der Homo sapiens endlich ausgestorben ist.
Heute mag zwar keiner mehr das Aussterben der Menschheit befördern, indem er sich durch strenge Askese selbst entleibt. Dafür leben wir dann doch zu gern, und im reichen Deutschland kann man es ja durchaus noch genießen. Aber viele tragen auch heute ein „Brandmal“ an ihrem Gewissen: Im Grunde ihres Herzens schämen sie sich dafür, dass sie zu dieser Menschheit zu gehören, die mit der Erde und miteinander so übel umspringt, und dass sie selber daran nicht ganz unbeteiligt sind. Und dann versuchen sie, es wenigstens „irgendwie ein Stück weit“ wieder gut zu machen. Immer mehr Leute essen kein Fleisch, der armen Tiere wegen, andere auch nichts mit Milch oder Eiern. Manche trinken wenigstens fair gehandelten Kaffee und kaufen Bio-Eier im Hofladen. Und manche bleiben zwar nicht ehe- oder partnerlos, aber wollen in diese schlimme Welt lieber keine Kinder mehr setzen.
Ich will das alles gar nicht schlecht machen und auch keinem die ehrenwerten Absichten absprechen. Ich mache manches davon ja selber. Aber weil es niemand schafft, dabei wirklich konsequent zu sein, werden wir unser schlechtes Gewissen so nicht los. Mancher versucht es dann damit, dass er anderen ein schlechtes Gewissen einreden will: „Wie kannst du nur dies oder jenes oder das noch tun? Weißt du denn nicht, dass …“ – setzen Sie da jetzt ein, was Sie wollen oder was Sie sich zuletzt anhören mussten! Aber auch das funktioniert nicht. Denn wer lässt sich schon gern etwas einreden? Und wer’s trotzdem versucht, bei dem gesellt sich zum Leiden an der Welt auch noch der Ärger über die Mitmenschen, die das alles einfach nicht wahrhaben wollen. Das Resultat sind unfrohe und unerfreuliche Menschen, die an dieser Welt alles nur noch furchtbar finden, auch wenn sie vielleicht noch an einen guten Schöpfer glauben. Der Pastor damals im Sauerland war wohl so einer.
Der Verfasser des ersten Timotheusbriefs hat allerdings einen ganz anderen Blick auf die Dinge. Er hat seinen Paulus gut gelesen. Und deshalb reagiert er so auf die gnostischen Irrlehrer, wie Paulus seiner Meinung nach auf sie reagiert hätte, wenn er noch am Leben wäre: „Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut“, schreibt er in der Rolle des Apostels, „und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.“
Wie unterschiedlich man doch die Welt betrachten kann! Die einen sehen immer nur das Böse und das Schlimme, die anderen kommen erst einmal ins Staunen: Was für ein wunderbarer Kosmos unsere Erde doch ist! Was für eine unendliche Vielfalt an Pflanzen, Tieren, Landschaftsformen! Welche Schönheit, welche Lebendigkeit, auch noch in der unwirtlichsten Wüste, im schroffsten Gebirge, im tiefsten Meer! Wie fein ist in der Natur alles aufeinander abgestimmt: nichts geschieht hier sinn- und nutzlos, jedes Lebewesen hat seinen Platz, an dem es genau richtig ist! Und wie reichhaltig ist das Nahrungsangebot für sie alle: Es könnten auch noch mehr als sieben, acht Milliarden Menschen davon satt werden, ohne der Tier- und Pflanzenwelt zu schaden! Und wenn ich mal an mich persönlich denke: Was habe ich doch für einen tollen Blick, wenn ich aus dem Fenster schaue – auf grüne Wiesen, Wälder und Hügel bis zum Horizont, auf das Spiel von Licht und Schatten zwischen Sonne und Wolken, auf die reifen Äpfel im Garten, auf Vögel, Eichhörnchen und Insekten, die sich dort tummeln. Wie gut tut mir der heiße Tee am Morgen, der aufmunternde Kaffee am Mittag, das kühle Bier am Abend! Was habe ich für eine Auswahl an gutem, gesundem und schmackhaftem Essen! Und wie geht es mir und meinen Lieben überhaupt so unverdient gut: wir sind gesund, wir haben keine Existenzsorgen, wir haben so viele Möglichkeiten, das Leben zu genießen!
Ja, es stimmt: Vielen anderen, vielleicht auch manchem hier im Gottesdienst, geht es nicht so gut. Aber wissen Sie was? Ich will mir deswegen kein schlechtes Gewissen mehr machen lassen. Stattdessen will ich das tun, was der Timotheusbrief mir empfiehlt, nämlich Gott dafür danken: „Danke, Vater im Himmel, dass du mich und die ganze Welt so wunderbar gemacht hast! Danke, dass ich genießen darf, was du mir schenkst! Danke für alles Gute, dass du mir widerfahren lässt! Ja“, mit Gerhard Schneider gesprochen, „danke, ach Herr, ich will dir danken, dass ich danken kann!“ Denn der dankbare Blick auf die Welt ist ja nicht einfach eine Einstellungssache. Er ist ein Geschenk, das der Glaube mit sich bringt. Es sind die Gläubigen, sagt der Timotheusbrief, die dankbar in Empfang nehmen, was Gott geschaffen hat. Es erkennt nicht jeder, der die Welt betrachtet, die Hand des Schöpfers darin, sondern nur der, dem sich Gott zu erkennen gibt. Seien wir also froh und dankbar, wenn wir dazu gehören.
Vielleicht rutscht jetzt aber mancher im Geiste unruhig hin und her: Was ist denn dann mit all dem Bösen in der Welt – dem Hunger, der Armut, der Umweltzerstörung, der Tierquälerei, der Verschwendung, den Gesundheitsrisiken durch die Massenproduktion von Lebensmitteln? Muss ich vor alledem die Augen verschließen, um noch fröhlich Erntedank feiern zu können? Nein, eben nicht! Ich sagte ja schon, dass es ein Geschenk ist, danken zu können – und zwar obwohl ich das alles sehe und weiß. Und wenn ich dankbar bin für das, was Gott mir schenkt, dann weiß ich ja auch, wie wenig ich das alles verdient habe und wie sehr all die guten Gaben allen anderen Menschen auch zustehen. Dann werde ich mich ganz freiwillig dafür einsetzen, dass auch meine Mitmenschen und Mitgeschöpfe ihren Teil an Gottes guten Gaben bekommen, auch wenn mein eigener Anteil dadurch kleiner wird. Wer immer nur sieht, wie schlecht und böse die Welt ist, wird entweder depressiv oder träumt sich davon in irgendein Wolkenkuckucksheim. In beiden Fällen wird er nichts dafür tun, dass es auf Erden anders wird. Wer aber dankbar ist für Gottes gute Schöpfung, der hat auch die Kraft, sich für sie einzusetzen – in aller Unvollkommenheit und doch mit gutem Gewissen. Denn der weiß ja auch, dass nicht wir die Welt retten müssen, sondern dass Gott sie in Christus längst gerettet hat.
Also noch mal in Kurzform das Wort zum Erntedankfest: Sei dankbar für das, was Gott dir schenkt, genieße es und dann tu Gutes damit – dann wird Gottes Segen darauf nicht ausbleiben. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der wird unsere Herzen und Sinne bewahren in Jesus Christus. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein