Predigt Talkirche, Sonntag, 03.07.2016

GOTTESDIENST FÜR DEN SIEBTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: Apg 2,42-47

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, hat Hermann Hesse ge­dichtet. Und ich denke, er hat Recht damit. Wenn etwas neu beginnt, wenn alles noch frisch und unverbraucht ist, wenn das Neue voller Energie steckt, die jeden mitreißt, der damit in Berüh­rung kommt, dann sieht es in der Tat so aus, als ob nichts unmöglich ist, als ob auch die größten Wunder Wirklichkeit werden könnten. Bei frisch Verliebten oder frisch Verheirateten ist das so, bei Kindern am ersten Schultag, bei Erwachsenen am ersten Tag im lang ersehn­ten Job, ja selbst bei deutschen Fußballern, die gerade zum ersten Mal bei einer WM oder EM Italien geschlagen ha­ben.

Aber der Volksmund sagt ebenfalls zu Recht: Aller Anfang ist schwer. Und deshalb ist der Zauber, der in jedem Anfang steckt, meist schnell verflogen. Irgendwann kommt der erste Ehekrach, die erste Fünf, der erste Rüffel vom Chef, die nächste Niederlage und sorgt für Ernüchterung. Dann verblasst, was so verhei­ßungsvoll begann, im Grau des Alltags, und irgendwann kommt ei­nem das anfängliche Glücksge­fühl wie ein Märchen vor.

So geht es uns wohl auch, wenn wir als Christen des Jahres 2016 lesen, was Lukas in der Apostelgeschichte über die Anfänge der ers­ten christlichen Gemeinde schreibt. Wir hören den heutigen Predigt­text, Apg 2,42-47:

Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Ge­meinschaft und im Brotbrechen und im Gebet. Es kam aber Furcht über alle Seelen, und es geschahen auch viele Wunder und Zeichen durch die Apostel. Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Sie verkauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nach dem es einer nötig hatte. Und sie waren täglich einmütig beieinander im Tempel und brachen das Brot hier und dort in den Häusern, hielten die Mahlzei­ten mit Freude und lauterem Herzen und lobten Gott und fanden Wohlwollen beim ganzen Volk. Der Herr aber fügte täglich zur Ge­meinde hinzu, die gerettet wurden.

Nicht wahr, das klingt für heutige Ohren wirklich wie ein Märchen:

„Es war einmal, da geschahen Zeichen und Wunder durch die Apos­tel“. Und was geschieht bei Kirchens heute? Gemeindehausschlie­ßungen, die Ärger und Trauer verursachen. Fehler in überforderten Verwaltungen, die viel Geld und Nerven kosten. Und immer mehr kirchliche Groß-„Events“ mit viel Bohei und wenig Substanz.

„Es war einmal, da waren alle beieinander und hatten alle Dinge ge­meinsam. Sie ver­kauften Güter und Habe und teilten sie aus unter alle, je nachdem es einer nötig hatte.“ Und wie steht es heute um den Besitz der Kirche, der Gemeinden und ihrer Gläubigen? Da ist es schon schwer ge­nug, die Kindergarten- und Jugendarbeit in unserem Kirchenkreis solida­risch zu finanzieren. Oder wichtige diakonische Arbeitsberei­che zu erhalten, die ihre Kosten nicht wieder einfahren. Und wo übt schon mal jemand echten Verzicht zugunsten armer Glaubensge­schwister? Gespendet wird doch nur, solange es nicht wehtut und steuerlich ab­setzbar ist, oder?

„Es war einmal, da waren sie täglich einmütig beieinander und bra­chen das Brot hier und dort in den Häusern“ – und heute? Allein auf dem Gebiet unserer Kir­chengemeinde gibt es ein knappes Dutzend verschiedener Gemeinschaften von Christen, die alle ihr Eigenleben pflegen. Die meisten von ihnen begegnen sich zwar, machen man­ches gemeinsam – in der Allianz, in der Ökumene, vertragen sich auch schon viel besser als früher, aber nur, solange bestimmte The­men nicht angesprochen werden: Homo­sexualität zum Beispiel oder historisch-kritische Bibelauslegung – schon innerhalb unserer Ge­meinde kämen wir dabei kaum auf einen gemeinsamen Nenner. Und ob evangelische und katholische Christen je gemeinsam das Brot werden brechen, sprich: Abendmahl feiern können – hier und dort in den Häusern – das steht in den Ster­nen.

„Es war einmal, da fanden sie Wohlwollen bei dem ganzen Volk.“ – Auch davon kann nach allem Gesagten keine Rede sein, das versteht sich von selbst. Vielen Menschen sind wir einfach nur völlig egal. Aber eine wach­sende Zahl von Leuten hat einen richtigen Hass auf uns – aus schlechtem Grund, weil sie zum Beispiel so genannte „Gutmen­schen“ nicht ausstehen können, manchmal aber auch aus gutem Grund, weil sie zum Beispiel von Kirchenleuten sexuell miss­braucht wurden. Aber wie auch immer: Der Wind bläst uns jedenfalls deut­lich stärker ins Gesicht als in früheren Zeiten.

Nun ist es natürlich richtig, dass Lukas in diesen Versen ein Idealbild der Urgemeinde zeichnet. Mit der real existierenden Gemeinde von Jerusalem war es schon damals nicht zur Deckung zu bringen. Auch da gab es schon Streit in der Diakonie – Stichwort: Versorgung der Witwen – und Streit um Glaubensfragen, etwa darum, ob Christen weiter im Tempel Opfer darbringen sollen oder nicht. Und der „Kommunismus“ – „sie hatten alle Dinge gemeinsam“ – hat auch damals in Jerusalem nicht wirklich funk­tio­niert. Erstens gab es man­che, die dann doch heimlich ihren Teil für sich behielten – abschre­ckendes Beispiel: Ananias und Saphira – und zweitens, war die Ge­meinde bald so verarmt, dass Paulus in sei­nen Gemeinden für sie sammeln gehen musste.

Aber auch diese ernüchternden Tatsachen helfen uns nicht weiter. Denn im Grunde geben wir dem Autor der Apostelgeschichte ja Recht: Eine ideale Gemeinde, eine Kirche, die wirklich eins zu eins umsetzt, was Jesus wollte, die müsste tatsächlich so aussehen, wie Lukas sie beschreibt: beständig, einmütig, freigebig und fröhlich und damit ein Leuchtstern und Anziehungspunkt für alle Menschen. Die­ses Ideal ist nun mal in der Welt, und wir messen uns daran und wer­den daran gemessen, ob wir wollen oder nicht. Der Satz „Christen sind doch auch nur Menschen“ ist zwar unbestreitbar richtig, aber als Entschuldigung oder Selbsttröstung hilft er uns gar nichts.

„Mann, ist das eine frustrierende Predigt heute“, denken Sie jetzt vielleicht, und bis jetzt haben Sie damit ja Recht! Denn bis jetzt habe ich das Ideal, das Lukas zeichnet, in der Tat so verstan­den, dass man sich daran nur Frust holen kann. Ich habe nämlich so getan, als könnten Ideal und Wirklichkeit deckungsgleich werden. Ideale sind aber gar nicht als Beschreibung von Wirklichkeit gedacht – weder von vergangener, noch von gegenwärtiger noch von zukünftiger Wirklichkeit. Wenn wir sie so verstehen, können wir nur an ihnen scheitern und enden als gebrochene Existenzen oder als Zyniker.

Nein, Ideale sind nicht von dieser Welt und werden es niemals sein. Aber sie können uns die Richtung weisen, in die es gehen soll. Sie können uns ein Ansporn sein, uns ihnen so weit wie möglich zu nä­hern, auch wenn wir wissen, dass wir sie nie erreichen können. So ist es auch mit diesem Idealbild einer christlichen Gemeinde. Es gab sie so nie, und es wird sie auf Erden so nicht geben. Aber die Richtung stimmt, und darauf kommt es an.

Wenn wir in diese Richtung gehen wollen, wenn wir wollen, dass Menschen spüren, welches Ideal uns beseelt, dann tun wir am besten das, was Lukas im ersten Satz des Textes sagt: fest halten an der Lehre der Apostel, der Gemeinschaft, dem Brotbrechen und dem Gebet. Zu jedem dieser vier Stichworte seien mir noch ein paar Sätze vergönnt.

Erstes Stichwort: Lehre der Apostel – das ist für uns heute die Bibel, die heilige Schrift Alten und Neuen Testaments. Erfahrungen mit Gott aus mehr als einem Jahrtausend Menschheitsgeschichte haben sich in ihr niedergeschlagen. Das ist ein Schatz, der nicht seinesglei­chen hat. Was wir hier alles über Gott und die Welt erfah­ren, das ist noch längst nicht ausgelotet. Immer noch gibt es Neues zu entde­cken, und Altvertrautes zu bewahren, das seinen Wert nie verliert. Wenn unsere Kirche also noch einmal einen neuen Auf­bruch erleben soll, dann muss er aus der Bibel erwachsen – so wie es bei allen Auf­brüchen der Kirchengeschichte gewesen ist, auch bei Luthers Refor­mation, die wir nächstes Jahr groß feiern wollen. Die Kraft dazu hat die Bibel allemal – wir müssen sie ihr nur zu­trauen.

Zweites Stichwort: Gemeinschaft – die war vielleicht nie so wertvoll wie heute, wo zunehmend jeder für sich und jeder gegen jeden steht. Ich glaube, der Tag ist nicht mehr fern, an dem viele Menschen den grenzenlosen Individualismus satt haben und uns Christen fragen: Wie geht das, mit anderen zu leben, miteinander zu teilen und einan­der etwas mitzuteilen (in echt, nicht über What’s App), gemeinsam stärker zu sein als allein? Gut, wenn wir es ihnen dann noch sagen können! Wenn wir Ihnen Ge­meinschaft vorleben, wo einer des an­dern Last trägt und einer des andern Freude teilt. Wenn unsere Ge­meinschaft einladend und auf Zuwachs angelegt ist. Und wenn wir sie spüren lassen, dass es nie­mand anders als Gott selbst ist, der un­sere Gemeinschaft zusammen­hält.

Damit bin ich schon beim dritten Stichwort: beim Brotbrechen. Denn das Abendmahl ist das Herz unserer Gemeinschaft. Hier ist Gott in Christus selbst in unserer Mitte. Hier lässt er uns schmecken und sehen, wie freundlich er ist. Hier wird seine Liebe, sein Trost, seine Vergebung sinnlich erfahrbar. Eigentlich feiern wir es dafür viel zu selten, und viel zu wenige von uns nehmen daran teil. – Wis­sen Sie was ich toll fände? Wenn wir, wenn schon nicht täglich, dann we­nigstens jeden Sonntag miteinander Abendmahl feiern würden (das immerhin können wir von unseren katholischen Geschwistern ler­nen). Wenn wir endlich die falschen reformierten Skrupel ablegen würden, dass wir oder irgendein Mitchrist womöglich unwürdig sein könnte, am Mahl des Herrn teilzunehmen. Wenn wir von der Mög­lichkeit, dass bei uns auch Kinder zum Abendmahl kommen können, noch viel mehr Gebrauch machen würden, damit sie in die Gemein­schaft der Glaubenden hineinwachsen, zu der sie durch die Taufe schon gehören. Wenn an unseren Abendmählern deutlicher würde, dass wir dabei nicht eines Verstorbenen gedenken, sondern unseren lebendigen, auferstanden Herrn in unserer Mitte feiern – nicht durch aufgesetzte Fröhlichkeit, aber mit sichtbarer „Freude und lauterem Herzen“, wie es im Text heißt. Und natürlich, wenn endlich alle christlichen Konfessionen ohne Wenn und Aber am Tisch des Herrn vereint sein könnten.

Jetzt bin ich allerdings schon wieder dabei, ins Träumen zu geraten. Wenn es dabei nicht bleiben soll, dann braucht es noch das vierte Stichwort: das Gebet. Das heißt: mit Gott in Verbindung bleiben – als Einzelner und als Gemeinde. Mit ihm reden und Antwort von ihm erwarten. Und uns offen halten für sein Wirken. Denn wenn Gott durch seinen guten heiligen Geist nicht das Gelingen gibt, dann taugt das Ideal noch nicht mal als Ansporn. Auch im Text ist es der Herr selber, der täglich die Geretteten hinzufügt. Dass er das tun will, das hat er uns versprochen. Und an dieses Versprechen dürfen wir ihn jederzeit erinnern. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein