Predigt Talkirche, Sonntag, 02.07.2017

GOTTESDIENST FÜR DEN DRITTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

 
Text: Lk 15,1-7
Es nahten sich Jesus aber alle Zöllner und Sünder, um ihn zu hören. Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten murrten und sprachen: „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.“ Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach: „Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich‘s auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“

Als ich mir den Text für heute angesehen habe, bin ich erst einmal an den Zahlen hängen geblieben. Und ich habe mir gedacht: So gut möchte ich es auch mal haben. Hundert Schafe besitzt der Hirte; davon bleiben neunundneunzig brav bei der Herde, und eins geht verloren. Da ist es ja keine Kunst, dem einen Schaf nachzugehen und es zurückzuholen. Und selbst wenn man’s nicht wieder findet, sind ja immer noch 99 % der Herde vorhanden. Ich komme mir oft eher vor wie ein Hirte, dem ein Schaf bei der Stange bleibt, während neunundneunzig verloren gehen. Knapp 7000 Glieder hat unsere Gemeinde. Davon fühlt sich vielleicht ein Zehntel mit der Gemeinde eng verbunden, etwa vier Prozent beteiligen sich irgendwo aktiv, und wenn zwei Prozent auch mal ohne besonderen Anlass zum Gottesdienst kommen, dann ist es viel. Auf der anderen Seite gibt es sehr viele alte Menschen, die gebrechlich und einsam sind und öfter mal Besuch bräuchten. Viele unserer Konfirmanden leben mit persönlichen und familiären Schwierigkeiten, die eigentlich dringend mehr beachtet werden müssten. Viele junge Eltern versprechen bei der Taufe, ihre Kinder christlich zu erziehen, bräuchten dabei aber viel mehr Unterstützung, damit es gelingen kann. Und dann sind da noch die vielen Bedürftigen, Flüchtlinge, Austrittswilligen und so weiter – ich könnte die Aufzählung noch um Einiges verlängern.
Da ist guter Rat teuer: Welchem Schaf soll ich zuerst nachrennen? Dem jungen Hüpfer, der aus lauter Übermut von der Herde weggerannt ist? Oder dem alten Schaf mit dem verkrüppelten Fuß, das irgendwo zurückgeblieben sein muss? Oder welchem sonst? Und was passiert in der Zwischenzeit mit dem einen Schaf, das ich allein zurücklasse? Hinterher finde ich keins der neunundneunzig wieder, und wenn ich zurückkomme, ist das letzte Schaf auch noch weg! Da scheinen mir nur zwei Alternativen zu bleiben: Entweder ich hege und pflege das letzte Schäfchen, bis es mir wegstirbt, oder ich hetze so vielen Schafen wie möglich hinterher, bis mich noch vor Erreichen des Pensionsalters der Schlag trifft. In beiden Fällen wäre die Herde futsch und der Hirte womöglich gleich mit. Schöne Aussichten sind das!
Mit solchen Gedanken kann man sich natürlich um den Schlaf bringen – zumal die Zahl der hauptamtlichen Hirten bald rapide schrumpfen wird und auch ehrenamtliche Hilfshirten und Hütehunde (hier hinkt das Bild natürlich) nicht alles auffangen können. Aber war es das, was Jesus wollte, als er dieses Gleichnis erzählte? Wollte er uns schlaflose Nächte bereiten? Dann hätte er auch an seiner eigenen Arbeit verzweifeln müssen; denn es gab bestimmt viel mehr Zöllner und Sünder in Israel als selbst Jesus in seinem kurzen Leben zur Umkehr bewegen konnte. Aber ihm ging es ja gar nicht um eine möglichst große Mitgliederkartei der Jesus-Bewegung. Ihm ging es um etwas ganz anderes. Im Gleichnis nennt er das die „Freude im Himmel“: die Freude im Himmel über jeden einzelnen, der umkehrt. Was das für mich heißt, dazu möchte ich drei Dinge sagen:
Erstens: Wenn das Freudenfest über das wiedergefundene Schaf im Himmel stattfindet, dann ist auch die Suche nach dem verlorenen Schaf zuallererst eine himmlische Angelegenheit. In allem, was Jesus gesagt und getan hat, geht es genau darum: Gott selber macht sich auf die Suche nach den Menschen, die den Kontakt zu ihm verloren haben. Er wartet nicht darauf, dass sie von selber in sich gehen und ihr Verhältnis mit Gott ins Reine bringen oder dass sie gar in die Kirche kommen, um Gott zu finden. Da könnte er auch lange warten! Nein, Gott macht sich selber auf den Weg – dahin, wo die Menschen sind. Dazu muss er sich ganz klein machen – so klein, dass er in eine armselige Futterkrippe passt. Er muss auf seine Allmacht verzichten – so gründlich, dass man ihn widerstandslos ans Kreuz nageln kann. Und er muss von Mensch zu Mensch mit uns reden – so wie Jesus es getan hat und wie wir es in der Bibel lesen können. So findet er die Menschen, die Zöllner und Sünder, und isst mit ihnen. Und die merken dadurch, dass sie nicht länger Zöllner und Sünder bleiben können, denn Gott selbst hat das überwunden, was sie von ihm trennt. Es werden andere, neue Menschen aus ihnen, und die Freude darüber schlägt Wellen bis zum Himmel.
In Jesus sucht und findet Gott die verlorenen Menschen. Das war nicht nur damals so. Jesu Tod und Auferstehung haben es für alle Zeiten gültig gemacht. Und deshalb gilt das Zweite: Wenn wir uns heute auf den Weg zu anderen Menschen machen, dann gehen wir nur die Wege nach, auf denen Gott uns schon vorausgegangen ist. Immer, wenn Eltern ein Kind zur Taufe bringen, hat Gott zu diesem Kind schon Ja gesagt, und dabei bleibt es, auch wenn sie es nicht schaffen, es im christlichen Glauben zu erziehen. Immer wenn ich alte oder kranke Menschen besuche, ist Gott schon da, noch ehe ich an der Tür klingele oder klopfe. Und auch dadurch, dass jemand aus der Kirche austritt, lässt Gott sich nicht davon abhalten, ihn oder sie zu lieben, zu suchen und wiederzufinden. Wenn das stimmt, dann kann ich aufatmen und muss mich von Zahlenspielen nicht nervös machen lassen. Denn dann bin ich es ja gar nicht, der die neunundneunzig verlorenen Schafe finden muss. Gott hat sie längst gefunden. Meine Aufgabe ist es, dass möglichst viele etwas davon spüren, dass Gott sie gefunden hat. Sie sollen erfahren, dass Gott bei ihnen ist und darüber froh und getrost werden. Dazu kann ich etwas beitragen. Und ich muss es auch nicht allein tun. Denn anderen etwas von ihrem Glauben mitteilen durch Wort und Tat, das können alle, die selber etwas davon gespürt und erfahren haben, dass Gott sie gefunden hat. Ich weiß, dass viele von denen, die heute hier sitzen, ihren Teil dazu beigetragen haben und es noch tun: Menschen besuchen, in Gruppen und Kreisen mitarbeiten, sich für andere einsetzen. Und ich glaube, dass Sie dabei immer auch etwas von der Nähe Gottes vermitteln, auch wenn Sie vielleicht nicht immer ausdrücklich darüber reden. Das weiß ich sehr zu schätzen und sage danke dafür! Und ich wünsche mir und will meinen Teil dazu beitragen, dass es noch mehr Menschen werden, die sich trauen, auf die eine oder andere Weise etwas von ihrem Glauben und von Gottes Liebe weiterzugeben.
Und nun noch das Dritte und Letzte, das mir an diesem Gleichnis wichtig ist: Wenn wir uns aufmachen, um die Wege Gottes zu den Menschen nachzugehen, dann brauchen wir etwas, das uns Mut macht und Kraft dafür verleiht. Ich glaube, das ist die Freude, von der Jesus im Gleichnis redet. Freude steckt an, und so ist das auch mit der Freude im Himmel über die verlorenen Menschen, die Gott wiedergefunden hat. Mir fällt dazu etwa der Kreiskirchentag letzte Woche ein: Die viele Musik – von Felix Mendelssohn bis Dieter Falk, vom Glockengeläut bis zum Kinderchor: viele Menschen, fromme und weniger fromme, hat sie bewegt und ihnen frohe Herzen beschert. Der Gottesdienst in der Siegerlandhalle, der uns gezeigt hat: Hey, wir sind ja doch noch ganz schön viele, und gemeinsam können wir stark sein oder besser: kann Gott uns stark machen. Dann die gute und entspannte Atmosphäre an den Ständen zwischen Bahnhof und Siegufer: vielen Christen, die dort standen, war die Freude an ihrem Tun anzumerken, und es kam zu vielen guten Gesprächen und Begegnungen – mit anderen Christen, die da unterwegs waren, aber auch mit zufälligen Passanten jeder Art, bis hin zu den kräftigen Jungs mit Migrationshintergrund, die unheimlich viel Spaß bei „Hau den Luther“ hatten. Eine ganz handfeste Art des interreligiösen Dialogs war das, und es sage keiner, dass nicht auch da Gottes guter Geist am Werk war.
Klar, der Kreiskirchentag war ein besonderes Highlight, das es nicht alle Tage gibt. Aber auch in meinem Alltag kann ich die Freude im Himmel entdecken, die Menschen ansteckt und bewegt. Da lese ich zum Beispiel einer alten, bettlägerigen Frau den 23. Psalm vor. Auf einmal geht ein Strahlen über ihr Gesicht, als sie die Worte erkennt: „Du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“. Das gibt mir wieder Kraft für die nächsten zehn Besuche, bei denen so etwas nicht geschieht. Oder ich feiere Gottesdienst im Kindergarten. Die Kinder begrüßen mich fröhlich, sie hören gespannt zu, wenn ich biblische Geschichten erzähle, und wenn wir gemeinsam singen, dann sind sie so begeistert dabei, dass ich erst mal wieder ganz gelassen bleibe, wenn ich düstere Prognosen über die Zukunft der Kirche höre.
Ich hoffe, Sie haben es auf die eine oder andere Weise auch schon erlebt, wie die Freude im Himmel auf die Erde überspringt und Menschen sich davon anstecken lassen. Und ich wünsche Ihnen und mir, dass wir es immer wieder erleben. Denn wenn wir uns eines Tages nicht mehr freuen können, über das, was Gott trotz allem immer noch Gutes tut an uns Menschen und an seiner Kirche, erst dann sind wir wirklich am Ende. Aber wir dürfen fest darauf vertrauen, dass Gott es so weit nicht kommen lässt. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein