Predigt Talkirche, Heiligabend, 24.12.2017

Predigt für die Christvesper

Text: Jes 9,1-6

„Uns ist ein Kind geboren“ – dieser Satz verbindet die beiden Bibeltexte, die wir vorhin gehört haben: die Verheißung des Propheten Jesaja und die Erzählung von der Geburt Jesu.
„Uns ist ein Kind geboren“ – unabhängig von diesen biblischen Geschichten ist das ist erst einmal eine sehr alltägliche Feststellung. In jeder Minute, ja in jeder Sekunde an jedem Tag des Jahres haben Eltern irgendwo auf der Welt Anlass, diesen Satz zu sagen – hier im langsam vergreisenden Europa etwas seltener, dafür umso häufiger in Afrika – weltweit rund 136 Millionen mal im Jahr. Also: Kinder bekommen die Leute immer, das wusste schon Konrad Adenauer, und nur ganz selten ist eins dieser Kinder eine Schlagzeile wert.
„Uns ist ein Kind geboren“ – je nach Situation können diese Worte sehr verschieden klingen. Zum Beispiel kann daraus große Sorge sprechen: „Uns ist ein Kind geboren, und wir wissen nicht wie wir ihm das geben sollen, was es zum Leben braucht: Essen, Kleidung, ein Dach überm Kopf, eine gute Ausbildung.“ So werden es viele Eltern in den armen Ländern der Erde sagen. Aber so ähnlich sagt es auch manche arbeitslose, allein erziehende Mutter hier in Geisweid. Wohlhabende Eltern haben stattdessen andere Sorgen: „Uns ist ein Kind geboren“, heißt es bei ihnen, „aber werden wir ihm auch wirklich gute Eltern sein können? Werden wir die nötige Zeit für es übrig haben? Werden wir es schaffen, es ordentlich zu erziehen und seine Gaben richtig zu fördern? Wird unser Kind überhaupt noch eine Zukunft haben in dieser verrückten Welt?“
Und trotzdem: Neben der Sorge wird bei fast allen Eltern, ob arm oder reich, immer auch die große Freude mitschwingen: „Uns ist ein Kind geboren – ist das nicht wunderbar? Wir haben es uns so sehr gewünscht, wir haben so lange gewartet, wir haben alles vorbereitet, gehofft, gebangt – und nun ist es da: unser Kind, dieses kleine Wunder, ein Stück von uns und doch schon eine eigene kleine Persönlichkeit. Und wir können eigentlich gar nicht anders, als dieses kleine Menschlein lieb zu haben.“
„Uns ist ein Kind geboren“ – auch bei Jesaja klingen Jubel und Freude aus dieser Ansage: Freude wie nach reicher Ernte, Jubel wie beim Beuteteilen. Aber hier sprechen nicht einfach nur die stolzen Eltern. Es geht um mehr: Hier kommt ein Königskind zur Welt, ein künftiger Herrscher – und was für einer: Er wird sein Volk aus der Finsternis ins Licht führen, er wird es aus Knechtschaft und Unterdrückung befreien, er wird dem Land Frieden bringen und bei seinen Bewohnern für Gerechtigkeit sorgen. Gewaltig klingen seine Namen: Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst. So sehr es auch üblich war und ist, einem Thronfolger volltönende Titel zu geben – was diesem Kind hier in die Wiege gelegt wird, übersteigt alles.
Wahrscheinlich hat Jesaja damals an ein ganz bestimmtes Kind gedacht: ein Kind, das dem Königshause David zu Jerusalem geboren wurde. Wir wissen über diesen kleinen Prinzen sonst nichts. Aber selbst wenn es der künftige König Hiskia gewesen sein sollte, hätten diese Namen mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun. Denn Hiskia war zwar ein tüchtiger und gottesfürchtiger Herrscher, aber Wunder konnte er nicht vollbringen, und er war kein göttergleicher Held, der seinem Land ewigen Frieden verschafft hätte. Mit Müh und Not erreichte er lediglich, dass Juda von den Assyrern nicht ganz vernichtet wurde, sondern nur fast.
Nein, so ein Kind wurde nie geboren auf Erden – weder damals noch später. Viele haben zu ihrer Zeit als weise gegolten, manche sogar zu Recht, aber niemand hat je wundersamen Rat gewusst gegen alle Übel dieser Welt. Mancher wurde wie ein Gott verehrt, aber keiner hatte es je verdient. Etliche hätten gern ewig geherrscht, ein „tausendjähriges Reich“ gegründet, aber mit den meisten von ihnen nahm es ein böses Ende. Und viele haben sich gebrüstet, der Welt den Frieden zu bringen, aber sie haben ihn doch bestenfalls erzwungen – auf Zeit und mit Waffengewalt.
Und das Kind in der Krippe, dessen Geburtstag wir heute feiern? War es mit dem anders? Nein, wenn wir ehrlich sind, war auch Jesus nicht das Kind, „von dem Jesaja sagt“. Er konnte von Gott reden wie kein anderer, als er erwachsen war. Er konnte Kranke auf wundersame Weise gesund machen. Aber er hat weder die Gottlosigkeit, noch das Leid und das Elend aus der Welt geschafft. Er sprach von Gott als seinem Vater im Himmel, und die an ihn glauben, bekennen ihn als Gottes Sohn, aber man konnte ihm das nicht ansehen, und wir können es nicht beweisen. Er gründete kein ewiges Reich, sondern starb mit gut dreißig Jahren am Kreuz wie der gemeinste Verbrecher – machtlos gegen die, die ihn verurteilten, misshandelten und töteten. Und er pries zwar die Friedfertigen selig und ging ihnen mit bestem Beispiel voran, aber er konnte nicht verhindern, dass der Krieg auf Erden weiterging – manchmal sogar in seinem Namen. Jesaja hat sich das sicher anders vorgestellt.
Die Menschen, die sich zuerst die Geschichte von Jesu Geburt erzählten, wussten das natürlich alles. Und doch hielten sie daran fest: Mit diesem Kind geht nun endlich in Erfüllung, was Jesaja verheißen hat: „Siehe, ich verkündige euch große Freude; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ und „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ Wie konnte man darauf kommen? Waren und sind die Menschen, die dieser Erzählung Glauben schenken, einfach nur naiv? Waren sie halt ein bisschen gefühlsduselig, wie wir es heute unterm Tannenbaum gern werden? Oder waren sie gar durch religiösen Wahn verblendet?
Nein, ich glaube, nichts von alledem ist richtig. Ich glaube vielmehr, dass wir eine tiefe Wahrheit entdecken, wenn wir die Weihnachtsgeschichte wirklich ernst nehmen. Diese Wahrheit nämlich: Wenn die Verheißung des Jesaja überhaupt in Erfüllung gehen sollte, dann konnte das nur auf eine Art und Weise geschehen, die seinen Worten scheinbar völlig widerspricht. Strahlende Helden besiegen das Böse nämlich bestenfalls auf Zeit, weil sie es immer nur mit den eigenen Waffen zu schlagen versuchen. Deshalb kann man von Heldengeschichten à la „Star Wars“ endlos Fortsetzungen schreiben. Und deshalb ist Nachkriegszeit immer auch Vorkriegszeit.
Gott macht es deshalb anders, und zwar ganz radikal. Er marschiert mit seinen himmlischen Heerscharen nicht auf Erden ein, als er Mensch wird, sondern er lässt sie gerade mal ein Lied für ein paar Hirten singen. – Wir sind daran so gewöhnt, dass wir gar nicht mehr merken, was das für eine seltsame Beschäftigung ist für eine Armee, und sei es eine aus Engeln! Gott lässt seinen Sohn nicht im Palast zu Jerusalem zur Welt kommen, wo die Weisen ihn natürlich zuerst suchten, sondern in einer primitiven Behausung im abgelegenen Bethlehem. Und Jesus wird später nicht der Held des Widerstands gegen Rom, obwohl er dafür sicher das Zeug gehabt hätte und mancher ihm diesen Weg nahe gelegt hat, sondern er lässt sich ohne Gegenwehr ans Kreuz nageln. Er bekämpft das Böse nicht, sondern er lässt es ins Leere rennen und nimmt ihm so die Macht. Bildlich gesprochen: Indem der Teufel Gottes Sohn zu vernichten suchte, vernichtete er sich selbst, weil es über seinen Horizont ging, dass jemand bereit sein könnte, aus reiner, selbstloser Liebe in den Tod zu gehen. Wer jetzt findet, dass das doch arg nach „Harry Potter“ klingt, der hat natürlich Recht! Fantasy-Autoren haben sich eben ihre Ideen immer schon gern aus der Bibel geholt.
Aber zurück zu uns: Wir feiern heute Weihnachten, weil uns dieses Kind Jesus damals in Bethlehem geboren wurde – und zwar weil es genau so geboren wurde, so lebte und so starb, wie es uns die Bibel erzählt.
Deshalb ist es gut, dass wir dieses Fest bei Nacht und in der dunklen Jahreszeit feiern. Denn wir sind ja immer noch das Volk, das im Finstern wandelt, das nach Orientierung sucht, das Angst hat vor den Schatten des Todes in uns und um uns herum. Wir versuchen das alles gern zu verdrängen, weil doch Weihnachten ist, das Fest der Liebe und des Friedens. Aber die Dunkelheit ist ja noch da, unser Leben ist noch bedroht, die Liebe muss noch leiden, der Friede ist noch in Gefahr. All das gehört zum Weihnachtsfest dazu. Denn es sind ja die im Finsteren, die das große Licht sehen, nicht die, bei denen sowieso alles taghell erleuchtet ist.
Deshalb ist es auch gut, dass wir zu diesem Fest viele Lichter anzünden. Wir können die Dunkelheit damit nicht vertreiben, egal, wie viele Kilowattstunden wir verbrauchen. Aber wenn wir es denn wollen, können wir die Lichter auf das konzentrieren, worauf es ankommt. Um das Kind in der Krippe zu sehen, dafür reicht das Licht aus. Und es reicht aus, um uns zu zeigen: Die Nacht ist noch dunkel, aber sie wird vergehen. Der erste Schimmer des neuen Tages ist da. Gott ist hier in unserer Mitte und macht es hell genug, damit wir ihn sehen und ihm glauben können – und damit wir eine Ahnung bekommen, wie es sein wird, wenn die Finsternis dem Anbruch der neuen Welt Gottes weicht und der Tod vernichtet ist auf ewig.
Zum Schluss sei es noch mal mit den Worten von Jochen Klepper gesagt, die wir vorhin gesungen haben:

Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und –schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte
hält euch kein Dunkel mehr,
von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her.
Amen.

Ihr Pastor Martin Klein