Predigt Wenschtkirche, Montag, 25.12.2017

Predigt für den ersten Weihnachtstag

Text: 1. Joh 3,1-3

Und, wie war Ihr Heiliger Abend? Ich nehme an, die meisten von Ihnen haben ihn irgendwie mit Familie verbracht: mit den Kindern, den Enkeln, Geschiwstern vielleicht oder auch als Ehepaar zu zweit. Aber ganz bestimmt, selbst wenn Sie ganz allein gewesen sein sollten, waren jede Menge Erinnerungen mit dabei. Denn die kommen ja ganz von allein, wenn die Tanne duftet und die Kerzen brennen. Und meistens geht es bei diesen Erinnerungen um die Zeit, als die Kinder noch klein waren oder als man selber noch Kind war.
Meine Mutter erzählte dann gern von den Bescherungen am Weihnachtsmorgen, die damals im Siegerland noch üblich waren: wie sie und ihre Schwestern in der Heiligen Nacht vor Aufregung kaum schlafen konnten und wie sie immer wieder versuchte, doch einmal einen Blick auf das Christkind zu erhaschen, bis sie schließlich überzeugt war, es gesehen zu haben und es auch genau beschreiben zu können. Ich selber denke an die vertrauten Rituale meiner Kindheit: die Weihnachtsfeier in der Sonntagschule, die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel, die mein Vater auch zu Hause vor der Bescherung noch mal vorlas, die Weih-nachtslieder aus den Tchibo-Heften, die dazu gesungen wurden, das Spritzgebäck, das meine Mutter in großen Mengen buk und das na-türlich erst zu Weihnachten auf den Tisch kam. Auch Ihnen kommt da bestimmt manches in den Sinn, und wenn ich jetzt eine Umfrage starten würde, was Ihre liebsten Weihnachts-Erinnerungen sind, dann würde es ein langer Gottes-dienst werden.
Wenn man sich das so überlegt, hat man fast den Eindruck, als könnten nur Kinder richtig Weihnachten feiern. Oder als müsste man zumindest Kinder dabei haben oder sich in die Kindheit zurück-versetzen, um richtig Weihnachten feiern zu können. Unsere Er-wachsenenwelt scheint dagegen ganz weit weg von Weihnachts-glanz und Weihnachtsfreude. Kein Christkind mehr, kein ungedul-diges Warten vor der Bescherung, keine leuchtenden Augen unterm Tannenbaum. Und die alten Lieder und Geschichten – ach, die ha-ben wir jetzt so oft gesungen und gehört, dass sie uns vielleicht noch ein bisschen rühren, aber nicht mehr wirklich bewegen. Des-halb schwingt wohl immer auch ein wenig Wehmut und Enttäu-schung mit, wenn wir wieder ein Weihnachtsfest ohne den alten Zauber erleben, auch wenn wir das vielleicht nicht gern zugeben.
Lässt sich etwas ändern an diesem nüchternen Befund? Kann man auch als Erwachsener hier und jetzt fröhlich Weihnachten feiern, ohne sich mühsam oder vergebens in die Vergangenheit zurückzu-versetzen? Ich denke, ja, und dazu müssen wir uns, glaube ich, zwei-erlei klar machen.
Das erste: Wahrscheinlich ist es wirklich so, dass Kinder uns etwas voraus haben, wenn es um das Erleben von Weihnachten geht. Nicht nur, weil sie noch ans Christkind glauben (das lässt ja auch bald nach). Nicht nur, weil ihre Lebensfreude noch ungetrübt ist von der Last der Lebenserfahrung. Sondern vor allem, weil es ja tatsächlich um ein Kind geht zu Weihnachten. Es mag die kleinste Figur in unseren Weihnachtskrippen sein, aber es ist die Hauptperson, um die sich alles dreht. Denn zu Weihnachten feiern wir, dass Gott Mensch wird. Und „Gott wird Mensch“, das heißt: Gott wird Kind. Ein Wickelkind in einem Futtertrog. Ein Kind einfacher Eltern aus einem abgelegenen Dorf im hintersten Winkel des römischen Im-periums. Ein Flüchtlingskind auf der Durchreise zwischen Nazareth und Ägypten. Ein Kind, dessen Leben in Gefahr gerät, kaum dass es geboren ist. Sprich, ein Kind wie Millionen andere, die jedes Jahr in den Flüchtlingslagern und Elendsvierteln dieser Welt zur Welt kom-men. Ein Kind aber auch, das sich erst einmal in nichts unterscheidet von den Kindern, die wohlhabenden Eltern in bestens ausgestatte-ten deutschen Geburtskliniken geboren werden. Nur dass diesen Kindern ganz andere Möglichkeiten offen stehen.
Ich glaube, das ist etwas, was Kinder ganz unmittelbar begreifen, wenn sie erfahren, warum wir Weihnachten feiern: Dieses Jesus-Kind, das ist wie ich. Es kommt aus Mamas Bauch wie ich. Es wird gewickelt, wie ich gewickelt worden bin, als ich klein war. Man freut sich über seine Geburt, so wie man sich – hoffentlich – über mich gefreut hat. Und auch der kleine Jesus bekommt zu Weihnachten Geschenke, obwohl die ein bisschen seltsam sind. (Kinder hätten für den kleinen Jesus sicher nicht gerade Gold, Weihrauch und Myrrhe ausgesucht.) Und wenn sie dann noch erfahren, dass dieses Kind Gottes Sohn ist (eine Vorstellung, mit der sie auch viel weniger Schwierigkeiten haben als wir Erwachsenen), dann geht ihnen auf: Gott ist zwar nicht wie ich, aber er tut alles dafür, um ganz nah bei mir zu sein. Wir können uns auf Augenhöhe begegnen, sozusagen von Kind zu Kind. Und das ist doch wunderbar, oder?
Wie gesagt: Wir Erwachsenen haben es damit viel schwerer. Wir sind zwar viel erfahrener und wissen viel mehr als unsere Kinder, aber gerade deshalb können wir uns kaum vorstellen, dass etwas ganz Neues passiert, das allem Wissen und aller Erfahrung widerspricht. Dass Gott und Mensch eins werden, das können wir deshalb nicht fassen. Es übersteigt schlicht und einfach unseren Horizont.
Daran können wir auch nichts ändern, denn wir können ja nicht einfach unser Wissen und unsere Erfahrung über Bord werfen. Für uns gibt es kein Zurück in die Kindheit. Das ist es, was uns zu Weihnachten immer leise wehtut. Aber – und das ist das zweite – es gibt jemand anderen, der uns wieder zu Kindern machen kann, zu er-wachsenen Kindern, und das ist Gott. Im ersten Johannesbrief, in dem Abschnitt aus Kapitel 3, der heute Predigttext ist, lesen wir dazu folgendes:

Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum erkennt uns die Welt nicht; denn sie hat ihn nicht erkannt. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Und jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist.

„Gottes Kinder“ – wir verwenden diesen Ausdruck oft viel zu selbstverständlich. Sind nicht alle Menschen Kinder Gottes, sagen wir dann, weil er sie geschaffen hat? Nein, nach biblischem Sprach-gebrauch sind sie das nicht. Gott liebt zwar alle Menschen als seine Geschöpfe, aber Gottes Kinder, das sind nur die, die an Gottes Kind, an seinen Sohn Jesus Christus glauben. Deshalb hat Clemens Brentano mit seinem Gedicht, das ich zum Eingang zitiert habe, an einer entscheidenden Stelle Unrecht. Nicht „weil wir Gottes Kinder sind, kam ein Kind, uns zu erlösen“, sondern weil ein Kind kam, uns zu erlösen, können wir Gottes Kinder sein. Und diese Kinder Gottes leben in einer Welt, die das zum größten Teil nicht erkennt, jedenfalls noch nicht.
Wir aber, die wir heute hier im Gottesdienst versammelt sind und an Jesus Christus glauben, wir dürfen das mit vollem Recht für uns in Anspruch nehmen: „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch!“ Dass der Briefschreiber hier am Ende aus dem Satzbau springt, das zeigt, wie sehr er selber immer noch staunt: Wir sind Gottes Kinder, wirklich und wahrhaftig! Wer hätte das gedacht? Wer hätte sich das jemals ausmalen können? Und doch ist es so: Das Wort ward Fleisch, Gott ist Mensch geworden, und „wie viele ihn aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden: denen, die an seinen Namen glauben.“ (Joh 1,12)
Was für ein Wunder: Gott hat zwar unter den Menschen nur einen Sohn, mit dem er ganz eins ist, aber er hat viele Kinder, und die sollen mit ihm noch gleich werden und ihn sehen, wie er ist. Zu dieser großen Kinderschar dürfen wir alle gehören, und sie wird noch weiter wachsen, bis – wer weiß – vielleicht eines Tages wirklich alle Menschen Gottes Kinder sind.
Wenn und weil wir solche Kinder Gottes sind, können wir nun aber auch als Erwachsene fröhlich Weihnachten feiern. Wir brauchen dazu keinen Kerzenschimmer, weil das wahre Licht der Welt uns leuchtet, auch wenn es in und um uns gerade finster aussieht. Wir brauchen dazu auch keine Geschenke, weil wir an dem einen großen Geschenk, das Gott uns macht, für alle Zeiten genug haben. Und wir brauchen dafür auch keinen mühsam gewahrten familiären Weihnachtsfrieden, weil der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, in unsere Herzen eingezogen ist.
Und Wetten: Gerade wenn wir uns bewusst machen, dass wir das ganze Drumherum zum Weihnachtsfest nicht brauchen, weil wir zwar keine Kinder mehr sind, aber dafür Gottes Kinder sind und bleiben – gerade dann, werden wir das Drumherum wieder viel unbeschwerter genießen können. Denn dann müssen wir damit nicht mehr vergeblich versuchen, etwas wiederzuholen, was nicht mehr ist, sondern können uns hier und jetzt an dem freuen, was das Fest uns an Schönem und Gutem bietet. Und die alten Lieder und Geschichten, die Sterne und die Kerzen, auch die leuchtenden Augen unserer Kinder oder Enkel können uns wieder neu zum Staunen bringen: Gott ist als Kind in diese Welt gekommen, und deshalb bin auch ich Gottes Kind. Ich bin es und ich werde es bleiben für Zeit und Ewigkeit. Das ist unglaublich, aber es ist wahr. Und darum sei Ehre Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein