Predigt Talkirche, 21. Juni 2015

Text: 1.Tim 1,12-17

Wenn man so wie ich als Pastor arbeitet, dann ist man ja sozusagen ein öffentlicher Christenmensch – ein Fachmann für alles, was mit christlichem Glauben zu tun hat. Einer, der Aus­kunft geben kann über das, was man schon immer über Religion wis­sen wollte, aber bisher nie zu fragen wagte. Und solche Fragen be­komme ich dann auch öf­ters gestellt. Zum Beispiel die: „Sagen Sie mal, Herr Pastor, wie kommt man eigentlich heutzutage dazu, ausgerechnet die­sen Beruf zu ergreifen?“ Ich kann da immer gar nicht so schnell drauf antworten. Weder war mir der Beruf des Pastors in die Wiege ge­legt, noch kann ich mich an eine Stimme vom Himmel erinnern, die ge­sagt hätte: „Martin, du sollst Theologie studieren und Pfarrer wer­den!“ Ich kann eigentlich auf sol­che Fragen hin nur davon erzählen, wie ich Christ geworden bin, und das klingt bei mir nicht viel anders als bei den meisten von Ihnen ver­mutlich auch:

Ich bin in einem Land geboren, dass eine christliche Geschichte und christlich geprägte Kultur hat. Ich hatte Eltern, die einer christlichen Kirche angehören, die mich haben taufen lassen und die sich nach Kräften bemüht haben, mich im christlichen Glauben zu erziehen. Ich war in der Sonntagschule und in der Jungschar, ich bin konfir­miert worden, und habe schließlich auch selber im CVJM Jugendar­beit ge­macht. Und als ich mich dann für ein Studium entscheiden musste, da habe ich mir überlegt: „Du inter­essierst dich für Spra­chen und Ge­schichte, du kannst ganz gut mit Worten umgehen und dir liegt daran, anderen Menschen etwas von deinem Glauben weiterzu­geben – wa­rum sollst du nicht Theologie studieren und Pfar­rer werden?“ Und so ist es dann gekommen. Aber es war für mich immer klar, dass ich als Pfarrer nichts höheres und besseres leiste, als wenn ich mit meiner christlichen Überzeugung ir­gendeinem ande­ren Beruf nachgehen würde – ganz davon abgese­hen, dass der tägliche Kleinkram auch bei Pfarrern oft wenig Erhe­bendes an sich hat.

Wären Sie mit dieser Antwort zufrieden, wenn Sie mich gefragt hät­ten? Ich glaube, der Verfasser des heutigen Predigttextes wäre es nicht. Er hat etwas andere Vorstellungen davon, wie jemand Christ wird und sich von Gott in Dienst stellen lässt. Ich lese einen Ab­schnitt aus dem ersten Kapitel des ersten Timotheusbriefs:

Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt, mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmher­zigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben. Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist. Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Chri­stus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin. Aber darum ist mir Barmherzigkeit widerfah­ren, dass Christus Jesus an mir als erstem alle Geduld er­weise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben. Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.

Da spricht einer, der in seinem Leben eine radikale Wende erlebt hat. Er ist nicht in einem christlichen Land und Elternhaus aufgewach­sen, sondern in einer Umgebung, in der niemand etwas vom christlichen Glauben wusste. Und entsprechend hat er gelebt: auf eigene Faust, als ob es Gott nicht gäbe. Und als er dann zum ersten Mal mit Christen in Berührung kam, da hatte er für ihren Glau­ben nur Spott übrig – ja, er hat sich sogar an ihrer Verfolgung und Unterdrückung beteiligt. Aber dann kam plötzlich alles anders: Gott selbst hat eingegriffen und die­sen Menschen völlig umgekrem­pelt. Bis dahin war es ihm als völliger Unsinn erschienen, dass Gott Jesus Christus in die Welt ge­sandt habe, um die Sünder zu retten. Nun sagt er von dieser Aussage: „Das ist ge­wisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert“. Eben noch war sein Leben von Hass und Ignoranz gegenüber den Christen geprägt, nun teilt er aus tiefster Überzeugung ihren Glauben und ihre Liebe. Und dann sagt er noch, dass das keineswegs nur bei ihm so war. Sondern das, was an ihm geschehen sei, das habe Gott als Vorbild bestimmt für alle, die an ihn glauben sollten. Wenn Men­schen Christen werden, heißt das, dann geschieht es immer nach die­sem Grundmuster, das er an sich selbst erfahren hat.

Der Schreiber dieser Zeilen ist nach Ausweis des Briefanfangs der Apostel Paulus. Und bei ihm war es ja tatsächlich so. Eben noch hatte er die neue Lehre der Jesus-Anhänger aus tiefster Überzeu­gung ver­urteilt und die christliche Gemeinde verfolgt; dann begeg­nete ihm der auferstandene Christus, und aus dem entschiedenen Gegner wurde der eifrigste und wirkmächtigste Verkündiger, den die christli­che Bot­schaft je hatte. Aber nun ist es wichtig, dass nicht Paulus selbst diese Worte schreibt, sondern dass ein anderer ihn hier schreiben lässt: ein später Schüler des Paulus, der mehr als vier­zig Jahre nach dessen Tod den ersten Timotheusbrief verfasst. Ihn interessiert nicht mehr das Persönliche und Eigentümliche der Lebens­geschichte des Paulus, son­dern nur noch das Typische – das, was seiner Meinung nach für alle Christen gilt: die Wende um 180 Grad, die radikale Trennung zwi­schen gottloser Vergangenheit und gläubiger Gegen­wart.

Für seine Zeit um 100 nach Christus hatte er damit ja Recht. Es wa­ren schließlich meistens Heiden, die damals Christen wurden. Für sie war es eine bewusste Entscheidung, sich taufen zu lassen und Mit­glied einer christlichen Gemeinde zu werden. Und diese Entschei­dung brachte immer einen deutlichen, oft schmerzhaften Bruch mit der Ver­gangenheit mit sich. Aber die Art und Weise, wie wir heute Christen werden, lässt sich damit kaum vergleichen. Wenn ich auf mein bishe­riges Leben zurückschaue, fällt mir jedenfalls keine Zeit ein, in der ich ein Lästerer, Verfolger und Frevler war. Und es gibt zwar durchaus Wendepunkte in meinem Leben, aber ich kann kei­nen be­stimmten Zeitpunkt nennen, an dem ich aus einem gottlosen Sünder zu einem gläubigen Christen geworden wäre. Mein Glaube war nicht irgend­wann plötzlich da, sondern er hat sich allmählich entwickelt, und er wird sich weiter entwickeln bis an mein Lebens­ende.

Ich denke, dass es den meisten von Ihnen ähnlich geht. Aber es gibt auch heute noch Christen die das anders sehen. Für sie sind nur die­jenigen echte Christen, die irgendwann einmal eine bewusste Ent­scheidung für den Glauben an Jesus Christus gefällt haben und dafür eine Zeitangabe machen können. Und sie müssen auch Re­chen­schaft darüber geben können, was sich seitdem in ihrem Leben ganz konkret verändert hat. In den Siegerländer Gemeinschaftskreisen, in denen ich groß geworden bin, hatte ich viel mit sol­chen Christen zu tun. Und es hat mir zeitweise ziemlich zu schaffen ge­macht, dass ich in meinem Leben einen solchen Wendezeitpunkt ein­fach nicht benen­nen konnte. War ich dann überhaupt ein richtiger Christ – trotz Taufe, Konfirma­tion, Mitarbeit in der Gemeinde und allem Drum und Dran?

Es war mein Studium, das mir diese Art Selbstzweifel allmählich aus­getrieben hat. Da habe ich nämlich gelernt: Das, was Menschen tun oder lassen, ist gar nicht das Entscheidende dafür, ob jemand Christ wird oder bleibt. Weder christliche Erziehung ist eine Garantie dafür noch eine freie eigene Entscheidung. Es gibt nur eins, ohne das nie­mand Christ sein kann, und das ist Gottes Barmherzigkeit. Wenn Gott nicht von sich aus das überwindet, was mich von ihm trennt, dann bleibt die Trennung unüberwindlich. Wenn er nicht uns nahe kommt, dann bleiben all unsere Annäherungsversuche vergeblich. Aber diese eine notwendige Bedingung ist erfüllt: Gott ist in Jesus Mensch ge­worden; darum ist er uns nahe und bleibt uns nahe jetzt und für im­mer. Dafür muss ich mich nicht erst entscheiden; das gilt für mich, und ich kann es für mich gelten lassen. Und es spielt keine Rolle, ob das an einem einmaligen Wendepunkt meines Lebens ge­schieht oder ob es sich langsam entwickelt und mit mir wächst und sich verändert.

Wenn ich nun mit dieser Einsicht noch mal in den heuti­gen Predigt­text schaue, dann stelle ich fest, dass auch er im Grunde nichts ande­res sagt. Auch da steht ja nicht: „Ich bin Gott treu gewe­sen“, sondern: „Er hat mich für treu erachtet“, als zuverlässig angesehen. Da steht nicht: „Ich habe mich in den Dienst Jesu Christi gestellt“, son­dern: „er hat mich in das Amt eingesetzt“. Da steht nicht: „Ich habe mich für Jesus Christus entschieden“, sondern: „mir ist“ von Gott „Barmher­zigkeit widerfahren“. Und das alles hängt mit der Kernaussage in der Mitte des Textes zusammen: „Jesus Christus ist in die Welt gekom­men, um die Sünder zu ret­ten“. Oder mit den Wor­ten des Wochen­spruchs: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“

Das ist nun in der Tat das Vorbild, das Grundmuster, nach dem wir alle Christ werden und Christ bleiben. Ich finde es auch in meiner Le­bensgeschichte wieder: Ich kann ja nichts dafür, dass ich Eltern hatte, die mich lieb hatten und mir deshalb auch etwas von der Liebe Gottes vermitteln konnten. Umgekehrt können aber auch meine El­tern nichts dafür, dass ich mich nicht irgendwann von allem Christlichen abge­kehrt habe. Bei beidem sehe ich Gottes Barmher­zigkeit am Werk. Ich kann auch nichts dafür, dass ich getauft worden bin. Und weder der Pfarrer, der mich getauft hat, noch meine Eltern und Paten hatten es in der Hand, dass diese Taufe etwas bewirkt. Aber die Zusage, die Gott mir mit der Taufe gemacht hat, die gilt für mein ganzes Leben. Und ich kann auch nichts für die Begabungen, die es mir ermöglicht haben, Theologie zu studieren und Pfarrer zu werden. Im Gegenteil: Ich habe auch Eigenschaften, die mir bei mei­nem Beruf eher im Weg stehen. Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und wenn das, was ich tue, bei anderen Gutes bewirkt, dann hat auch dabei Gott seine Hand im Spiel.

Ich habe jetzt von mir gesprochen. Aber alles, was ich gesagt habe, gilt genauso für jede und jeden von Ihnen. Und dafür ist es ganz egal, wie Sie Christ geworden sind, was für eine Glaubensgeschichte Sie hinter sich haben und auf welche Weise Sie Ihren Glauben leben. Ob Sie es in stetiger Festigkeit tun oder mit vielen Zweifeln, ob Ihr Le­bens- und Glaubensweg bisher geradlinig verlaufen ist oder mit vielem Auf und Ab, ob Sie in Glaubensdingen mehr das Traditionelle schät­zen oder auf der Suche nach neuen Wegen sind: durch Gottes Gnade sind auch Sie alle, was Sie sind. Deshalb schließt der Pre­digt­text mit einem Lobpreis dieses Gottes, und wir können nichts Besse­res tun, als uns diesem Lobpreis anzuschließen: „Gott, dem ewigen Kö­nig, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen“.

Pfarrer Dr. Martin Klein