Predigt Talkirche, 18. November 2015

ÖKUMENISCHER GOTTESDIENST ZUM BUSS- UND BETTAG

 

Text: Lk 13,6-9

Jesus sagte ihnen aber dies Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Wein­berg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand keine. Da sprach er zu dem Weingärtner: „Siehe, ich bin nun drei Jahre lang gekommen und habe Frucht gesucht an diesem Feigenbaum, und finde keine. So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft?“ Er aber antwortete und sprach zu ihm: „Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.“

Wenn man älter wird – und damit meine ich auch schon Menschen in mei­nem Alter – dann beginnt man damit, öfter mal zurückzuschauen und Bilanz zu ziehen – oder wenigstens eine Zwischenbilanz: Wie war es eigent­lich, mein bisheriges Leben? Womit habe ich es zugebracht? Und was bleibt davon? Wel­che Früchte hat es getragen?

Mancher hat dann einiges aufzuzählen: Ich habe im Beruf meinen Mann oder meine Frau gestanden, habe Spuren hinterlassen, und an meiner Arbeitsstelle weiß man mich zu schätzen oder denkt dort noch gern an mich zu­rück. Ich habe mich engagiert, im Verein, in der Politik, in der Kir­che, habe mich eingesetzt für das, was mir wichtig ist und einiges dabei erreicht. Wir haben bisher eine gute Ehe geführt und uns die Treue gehal­ten. Wir haben Kinder bekommen und großgezo­gen, und aus allen ist et­was geworden. Wir haben gut vorgesorgt, so dass wir im Alter davon zeh­ren können. Und so weiter.

Aber mancher fragt sich vielleicht auch: Was bleibt denn wirklich von mir, wenn ich einmal abtrete? Was ich damals im Krieg und da­nach erlebt und erduldet habe, davon will doch keiner mehr was wissen. Was ich im Beruf leiste, das werden die Jungen bald vergessen haben. Was ich angeschafft, gehegt und gepflegt habe, das landet wahrscheinlich auf dem Sperr­müll, wenn ich tot bin. Ich hab viel getan für meine Kinder und En­kel, aber ich kriege wenig dafür zurück. Und dann sind da die Dinge, die nicht gelungen sind: unverwirklichte Lebenspläne, geplatzte Karriere­träume, gescheiterte Beziehungen, fruchtlose Mühen, unberei­nigte Schuld. Bleibt da noch was unterm Strich auf der Ha­ben-Seite? Oder stehe ich da wie der Feigenbaum im Gleichnis – ohne Früchte, ohne jeden positiven Ertrag?

Und Gott? Wie wird er mein Leben beurteilen? Habe ich meinen Glauben in die Tat umgesetzt? Hat er in der Liebe Früchte getragen? Oder war er immer nur ein kümmerliches Pflänzchen, das weit hinter seinen Möglichkei­ten zurückgeblieben ist? Hat Gott viel­leicht auch bei mir Jahr um Jahr vergeblich auf Früchte gewartet? Und sagt dann am Ende: Tut mir leid, das war nix – weg mit dir!?

Um es gleich zu sagen: Nach den strengen Maßstäben Gottes, die wir in der Bibel lesen können, ist es bei keinem von uns mit der Frucht weit her. Für die Handvoll „Feigen“, die wir vielleicht hervorge­bracht haben, würde kein Weinbergbesitzer einen hinderlichen Baum stehen lassen.

Aber das ist ja nicht das letzte Wort im Gleichnis. Da gibt es schließ­lich noch den Gärtner, der nicht aufgibt: „Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; vielleicht bringt er doch noch Frucht.“ Zweier­lei wird an diesen Worten deutlich: Erstens ist dem Gärtner der Baum nicht egal. Er möchte dass er stehen bleibt, und er traut ihm zu, dass er doch noch Frucht bringt. Aber, und das ist das zweite, er glaubt nicht, dass der Baum das allein und von sich aus schafft. Er braucht besseren Boden, er braucht mehr Nährstoffe, und dafür kann nur der Gärtner sorgen durch Umgraben und Düngen. Wenn das gelingt, dann muss der Baum sich nicht anstrengen, um Früchte zu tragen (wie sollte ein Baum das auch ma­chen?), sondern er bringt die Frucht ganz von selbst.

Ohne Bild gesprochen: So wie der Gärtner, so tut Jesus alles, damit wir Frucht bringen. Er schafft überhaupt erst die Bedingungen dafür, dass das möglich wird, räumt alles weg, was uns von Gott trennt. Und wie der Gärt­ner auf die Natur des Feigenbaums vertraut, so traut er uns zu, dass wir ganz von selbst das tun, was vor Gott recht ist, wenn er die Voraussetzun­gen dafür geschaffen hat. Und das hat er längst getan – für jeden von uns. Nichts trennt uns mehr von Gott, nichts hindert unseren Glauben und unsere Liebe am Wachsen.

Und außerdem – ich erweitere jetzt das Bild noch etwas – sieht Jesus auch die kleinen Früchte. Sie verstecken sich vielleicht irgendwo zwischen Zweigen und Blättern, aber sie sind trotzdem manchmal süßer und schmecken besser als die großen, dicken. Er sieht auch die klei­nen Posten in unserer Lebensbilanz. Von denen denken wir viel­leicht: „Ach, das war doch nichts Besonderes“. Andere Menschen sind uns aber viel­leicht sehr dankbar dafür, ohne dass wir davon wis­sen: für ein freundliches Wort zur rechten Zeit, für spontane Hilfe in einer Notlage, für treue Pflichter­füllung auch in den kleinen Dingen des Lebens. Bei Gott ist nichts von alledem vergessen!

Am Ende des Gleichnisses heißt es freilich immer noch: Wenn das alles nichts hilft, wenn auch die beste gärtnerische Pflege dem Feigen­baum keine Früchte entlocken kann, „dann hau ihn ab“. Aber ich glaube, davor müssen wir uns bei unserem Lebensbaum nicht fürchten. Denn wir dürfen der Kunst unseres „Gärtners“ Jesus Chris­tus einiges zutrauen. Er kann das, und er wird es auch vollbringen. Er wird, wie es in Paul Gerhardts Sommer­lied heißt, seinem Geist in mir Raum geben, damit ich ihm ein guter Baum werde. Und wo ich mir vielleicht noch nicht so vorkomme, darf ich ihn herzlich darum bitten und mit seiner Erhörung rechnen.

Vielleicht machen wir uns mit dieser Zuversicht ruhig noch mal auf die Suche in unserer bisherigen Lebensgeschichte: nach den verborgenen Früch­ten, die wir hervorgebracht haben oder die uns zuteilwurden, und die wir vielleicht bisher noch gar nicht entdeckt haben. Ich glaube, da wird mehr zutage kommen, als wir vermuten. So können die Wun­den, die das Leben geschlagen hat, erträglicher werden, und so kann die Dankbarkeit und Zufriedenheit wachsen. Und am Ende dürfen wir alle unsere Lebens­ernte getrost Gottes guten Händen überlassen. Er wird schon wissen, was er daraus machen kann.

Zum Schluss sei Ihnen dazu noch kurz eine Geschichte erzählt, die der Sprachwissenschaftler, Fantasy-Autor und gläubige Katholik J.R.R. Tolkien geschrieben hat – wohl auch im Blick auf sein eigenes unvollende­tes Lebenswerk: Da war einmal ein Maler namens Tüftler. Jedenfalls wäre er gern ein Maler gewesen, nur kam er nie so recht dazu. Im Kopf sah er einen wunderbaren Baum vor sich: alt und groß gewachsen, weit ver­zweigt und mit vielen Blättern, drum herum eine herrliche Landschaft. Diesen Baum versuchte er zu malen. Und weil man ja irgendwo anfangen muss, begann er mit einem einzelnen Blatt. Er malte es mit viel Liebe zum Detail, aber kam nicht so recht voran, denn er wurde ständig unterbro­chen. Entweder brauchte sein Nachbar seine Hilfe oder er wurde selber krank und fühlte sich zu schwach. Als dann eines Tages zwei Männer ka­men, die ihn zum Bahnhof bringen wollten, um ihn auf die Reise in ein fernes Land zu schicken, hatte er immer noch nicht mehr als das eine Blatt geschafft. Er bat die beiden Herren um Aufschub der Reise, aber die ließen sich nicht überreden. So ging er schließlich schweren Herzens mit. An der Grenze zu dem fernen Land musste er eine Prüfung über sich ergehen lassen, in der es um seine Lebensbilanz ging. Das eine armselige Blatt spielte dabei eine Rolle, aber auch seine Hilfsbereitschaft gegenüber dem Nachbarn. Schließlich durfte er in das Land einreisen. Es war wunderschön dort. Tüftler machte sich daran, die Gegend zu durchstreifen, und es dau­erte nicht lang, da entdeckte er auf einem Hügel seinen Baum – genauso, wie er sich ihn vorgestellt hatte, und auch die Landschaft drum herum war genauso, wie er sie immer hatte malen wollen. Unter diesem Baum traf er seinen alten Nachbarn wieder, und für die beiden begann ein glückliches Leben.

So mag es auch uns ergehen: Auch wir kriegen vielleicht nur einen kleinen Teil von dem zustande, was uns für unser Leben vorschwebt. Aber Gott kennt das ganze Bild. Und er wird das für uns vollenden, was wir unfertig liegen lassen müssen. Darauf können wir uns verlassen und darauf dürfen wir uns freuen. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein