Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 3. November 2019

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWANZIGSTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: Gen 8,14-22

Und am siebenundzwanzigsten Tage des zweiten Monats war die Erde ganz trocken. Da redete Gott mit Noah und sprach: „Geh aus der Arche, du und deine Frau, deine Söhne und die Frauen deiner Söhne mit dir. Alles Getier, das bei dir ist, von allem Fleisch, an Vö­geln, an Vieh und allem Gewürm, das auf Erden kriecht, das lass mit dir herausgehen, dass sie sich regen auf Erden und fruchtbar seien und sich mehren auf Erden.“ So ging Noah heraus mit seinen Söhnen und mit seiner Frau und den Frauen seiner Söhne, dazu alles wilde Getier, alles Vieh, alle Vögel und alles Gewürm, das auf Erden kriecht; das ging aus der Arche, ein jedes mit seinesgleichen.

Noah aber baute dem Herrn einen Altar und nahm von allem reinen Vieh und von allen reinen Vögeln und opferte Brandopfer auf dem Altar. Und der Herr roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Men­schen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Her­zens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schla­gen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“

Ein versöhnlicher Schluss einer schlimmen Geschichte, jedenfalls auf den ersten Blick. Die Sintflut ist vorbei. Gott hat die Bosheit der Men­schen bestraft, hat sie hinweggeschwemmt und versinken las­sen. Nun haben die Wasser sich verlaufen, und Gott macht einen neuen Anfang: Mit Noah und den Seinen, mit den Tieren, die mit ihm in der Arche waren. Nicht umsonst klingt bei ihrer Aufzählung die Schöpfungsgeschichte an. Nicht umsonst bekommen sie erneut den Auftrag, fruchtbar zu sein und sich zu mehren. Die Geschichte Gottes mit seinen Geschöpfen geht weiter. Und die Vernichtung soll sich nicht wiederholen: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Danach wird dann noch erzählt, dass Gott einen Bund mit Noah schließt, um diesen Vorsatz zu bekräftigen, und dass er als Zeichen dafür seinen bunten Bogen in die Wolken setzt.

Ende gut, alles gut, könnte man sagen – wenn da nicht dieser selt­same Nebensatz wäre, der alles in Frage stellt: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dich­ten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“ Ja, ist das denn immer noch so? Und warum heißt es „denn“ und nicht „obwohl“?

Wer die ganze Sintflutgeschichte gelesen hat, der weiß, dass dieser Satz am Anfang schon einmal vorkam: „Als aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, dareute es den Herrn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und er sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde.“ (Gen 6,5-7) Mit fast den gleichen Worten begründet Gott also erst die Vernichtung und dann das Nicht-mehr-vernichten-Wol­len. Das klingt ganz schön widersprüchlich und inkonsequent. Wenn die Men­schen durch und durch böse sind, warum hat Gott sie dann nicht alle vernichtet? Warum hat er dann doch einen gerettet? Okay, Noah galt als „frommer Mann ohne Tadel“ (Gen 6,9), aber offenbar waren er und die Seinen trotzdem nicht frei vom Keim der Bosheit. Und wenn Gott in seiner Barmherzigkeit die Menschheit dann doch nicht ganz vernichten wollte, obwohl sie von Grund auf böse ist und bleibt, warum hat er die Sintflut dann überhaupt kom­men lassen?

Diese Fragen würden wir wohl auch stellen, wenn der Satz von der menschlichen Bosheit nicht noch mal am Ende der Geschichte stünde. Dass er aber da steht und das Happy-End versaut, das heißt für mich, dass wir diese Fragen stellen dürfen, ja, stellen müssen. Gerade wir Heutigen müssen das, denn diese uralte Geschichte holt uns ja in vieler Hinsicht wieder ein.

Gott bereut die Erschaffung des Menschen, heißt es am Anfang der Sintflutgeschichte. Und wenn ich mich heute in die Lage der übrigen Geschöpfe versetze, kann ich diese Reue bestens nachvollziehen. Denn das Geschöpf, das die ganze Schöpfung aus dem Gleichge­wicht bringt, ist einzig und allein der Mensch. Fruchtbar sein und sich mehren – das gilt nur noch für ihn und seine Nutz- und Schoß­tiere. Sie beanspruchen fast alle Lebensräume und Lebensmittel, und für alle anderen bleibt kaum was übrig. So konnte es zum Bei­spiel passieren, dass Deutschland in nur 30 Jahren drei Viertel seiner Insekten verloren hat – und die fehlen jetzt als Nahrung für die Vö­gel und auch als Bestäuber für die Pflanzen. So konnte es passieren, dass für unseren Fleischkonsum Tiere gequält, Wälder gerodet und vielerorts mehr Futter fürs Vieh als Nahrung für Menschen produ­ziert wird. So konnte es passieren, dass das Weltklima aus den Fu­gen geraten ist, so dass nun vielen Menschen tatsächlich die Sintflut droht.

So ist es gekommen, einfach, weil der Mensch so ist, wie er ist: hochin­telligent und extrem anpassungsfähig, aber auch egoistisch und rücksichtslos. Wenn man nicht an Gott glaubt, muss man sich fragen, ob der Homo sapiens nicht eine Fehlentwicklung der Evolu­tion ist. Wenn man ihn mit den Augen Gottes betrachtet, kann man kaum umhin, sein Urteil zu teilen: „das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“. Das heißt nicht unbe­dingt, dass Menschen immer nur bewusst Böses tun. Es heißt aber, dass ihr Handeln und ihre Lebensweise böse Folgen haben – auch wenn sie sich nichts Schlimmes dabei denken, auch wenn sie vielleicht sogar die besten Absichten haben.

Wie konnte das passieren? Wie konnte das Ökosystem Erde so in Gefahr geraten – ausgerechnet durch die höchste und begabteste Lebensform, die es bis jetzt hervorgebracht hat? Wie konnte der Mensch, zum Bilde Gottes erschaffen, so böse werden? Darauf hat die Evolutionstheorie keine Antwort, aber die Bibel hat letztlich auch keine. Sie stellt nur fest, dass es passiert ist: Der Mensch ließ sich in Versuchung führen, missbrauchte seine Freiheit und landete jenseits von Eden. Länger hält sich die Bibel mit der Frage auf, was Gott denn nun machen soll mit seinem Ebenbild, das sich so sehr von ihm abgewendet hat.

Eine mögliche Antwort: Das Experiment abbrechen und das missra­tene Geschöpf aus dem Verkehr ziehen. Sintflut. Oder modern gespro­chen: Wenn die Menschheit es nicht hinbekommt im Frieden und im Einklang mit der Natur zu leben, dann muss sie eben die Konse­quenzen tragen. Dann sterben halt zuerst die Insekten, dann die Vögel und irgendwann der Mensch. Dann gibt es halt Über-schwem­mungen, Wirbelstürme, Dürre, vergiftetes Wasser, ver-pestete Luft, Kriege und Katastrophen – bis der Mensch ausgestor­ben ist wie die Dinos oder bis die letzten Überlebenden ihre Lektion gelernt haben.

Die Sintflutgeschichte spielt diese Möglichkeit durch – mit dem Ergeb­nis, dass es so nicht geht. Und zwar geht es deshalb nicht, weil Gott seine Menschen trotz allem liebt und weil er es nicht auf sich sitzen lassen kann, dass es mit ihnen nicht so geworden ist, wie er sich das vorgestellt hat.

Deshalb gibt Gott eine zweite Antwort, und bei der bleibt es: Er leis­tet sich die Inkonsequenz, doch einen am Leben zu lassen – weil er Gnade vor ihm gefunden hat, heißt es ausdrücklich (Gen 6,8), nicht weil er’s ver­dient hätte – und er fängt mit mit ihm und den Seinen neu an. Er tut das in dem vollen Bewusstsein, dass an den Menschen durch die Flut nichts besser geworden ist. Ihr Dichten und Trachten ist böse wie eh und je, und Noahs Nachfahren werden das nur zu bald unter Beweis stellen.  Aber nun kommt das eigentlich Span­nende, ja Uner­hörte an der Geschichte: Eben weil das so ist, eben weil die Mensch­heit sich nicht ändern wird und nicht ändern kann – deshalb muss Gott sich ändern. Denn wenn er das nicht tun würde, wenn auch bei Gott alles beim Alten bliebe, dann wäre die nächste Sintflut vorprogrammiert. Und die übernächste ebenfalls. Und dann gäbe es heute erst recht für die Menschheit keine Hoffnung mehr.

Aber: Gott tut, was wir nicht können. Er ändert sein Dichten und Trachten. Und so fasst er in seinem Herzen einen Entschluss: „Ich will hinfort nicht mehr verfluchen die Erde um der Menschen wil­len.“ Denn sonst müsste ich es wieder und wieder tun, weil die Men­schen böse sind und bleiben. Besser würde dadurch gar nichts. Also, ihr Menschen, weil ihr es nicht schafft, die Schöpfung vor euch zu bewahren, deshalb tue ich es. Ich garantiere für ihren Fortbe­stand. Und ich verspreche euch, dass es keine Sintflut mehr geben wird.

Hat Gott damit zuviel versprochen? Kann er seine Schöpfung über­haupt bewahren, wenn er uns Menschen gewähren lässt? Hat er sträflich unterschätzt, wieviel Zerstörungskraft unser Dichten und Trachten noch freisetzen würde? Nein, das glaube ich nicht. Und zwar deshalb nicht, weil Gottes Bund mit Noah noch nicht sein letz­tes Wort war. Dass er trotz unserer Bosheit die Welt erhalten will, heißt nicht, dass er sich damit abgefunden hat. Sonst wäre er nicht selber Mensch geworden, um das Böse zu überwinden und letztlich aus der Welt zu schaffen. Seit Jesus muss das Dichten und Trachten des Menschen nicht mehr böse bleiben. Seitdem ist Sinnesände­rung, Umkehr, Buße möglich. Seitdem können wir Böses durch Gu­tes überwinden. Wenn wir noch Hoffnung haben können für unsere Welt, dann nur deshalb. Und bis sich diese Hoffnung erfüllt, lasst uns Zeichen dafür setzen. Lasst uns dem Frieden, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung dienen, so gut wir können. Und lasst uns Gott immer wieder um seinen guten Geist bitten, der Um­kehr möglich macht. Solange wir das tun, wird „nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“. Dazu hat Gott sich entschlossen, das hat er uns versprochen und darauf will ich mein Vertrauen setzen. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein