GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG NACH WEIHNACHTEN
Text: 1. Joh 1,1-4
Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens – und das Leben ist erschienen und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist –, was wir also gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. Und das schreiben wir, auf dass unsere Freude vollkommen sei.
„Hört’s, das Leben ist erschienen“ – diese Zeile aus dem Lied „Jesus Christus herrscht als König“ stammt aus dem heutigen Predigttext. Das Lied ist zwar im Gesangbuch unter „Christi Himmelfahrt“ einsortiert, aber die besagte Zeile eignet sich hervorragend zur Zusammenfassung der Weihnachtsbotschaft, die wir letzte Woche wieder vernommen haben.
„Das Leben ist erschienen“ – zunächst ganz konkret und anschaulich. Im Stall von Bethlehem wird ein Kind geboren, und jedes Mal, wenn ein Kind geboren wird, ereignet sich das Wunder des Lebens. Ein kleiner Mensch kommt auf die Welt, entstanden aus einer Ei- und einer Samenzelle, neun Monate lang herangewachsen im Mutterleib und nun – trotz allem, was das Kind noch lernen muss – mit allem ausgestattet, was es braucht, um als eigenständiges Wesen auf Erden zu leben. Das ist ein Wunder, immer wieder ein Grund zur Freude und zum Dank an Gott, den Schöpfer. Ich denke, jede Mutter, die mal ein Kind geboren hat, und jeder Vater, der dabei gewesen ist, kann das nachempfinden. Und bei allem, was an Jesus besonders war und ist, sollten wir das erst einmal festhalten: Bei seiner Geburt hat sich dieses Wunder des Lebens ereignet wie bei uns allen auch.
Aber im ersten Johannesbrief bedeutet der Satz natürlich noch viel mehr: Mit der Geburt Jesu, mit seinem Wirken auf Erden, mit seinem Tod und seiner Auferstehung ist das Leben schlechthin erschienen – das Leben, wie Gott es gemeint hat: Leben in seiner ganzen Fülle, Leben ohne Einschränkungen und Grenzen, ewiges Leben. Gott ist Mensch geworden, damit dieses Leben zu uns kommt – zu uns, die wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind; zu uns, die wir uns gegenseitig das Leben schwer machen und ums Leben bringen; zu uns, deren Leben immer nur ein Bruchstück dessen ist, was es sein könnte. Es gibt keinen anderen Weg, auf dem unser beschädigtes, belastetes, versäumtes und dem Tod verfallenes Leben doch noch zur Erfüllung finden kann – hier und jetzt und über den Tod hinaus. „Ich bin die Auferstehung und das Leben“, sagt Jesus Christus, „wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt, und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“
Starke Worte sind das, Worte, die trösten und Mut machen, wenn man sich auf sie einlässt. Aber sind sie auch wahr? Hat all das, was im Neuen Testament von und über Jesus gesagt wird, einen echten Anhalt an der geschichtlichen Gestalt des Jesus von Nazareth, dessen 2021ten Geburtstag wir gerade gefeiert haben (wahrscheinlich ein paar Jahre zu spät)? Wie passen sie zusammen: hier der Sohn einfacher Leute aus einem bedeutungslosen Dorf in Galiläa, der gelernte Bauhandwerker und spätere Wanderprediger, der mit Anfang 30 von den Römern als Aufrührer hingerichtet wurde, und dort der Sohn Gottes, das fleischgewordene Wort des Vaters im Himmel, der auferstandene Herr aller Herren, der zur Rechten Gottes sitzt? Sind sie wirklich ein und dieselbe Person: der Jesus, der von ca. 0-30 in Palästina lebte, und der Christus, an den wir glauben?
Wenn ich davon ausgehe, dass ein Mensch ein Mensch ist und nicht gleichzeitig Gott sein kann, wie es die meisten heutzutage tun, dann muss ich diese Frage mit Nein beantworten. Dann ist Jesus für mich eine historische Figur neben anderen, irgendwann geboren, irgendwann gestorben, aber ganz bestimmt nicht auferstanden von den Toten. Ich mag ihn dann zwar immer noch für ein großes Vorbild halten, an dessen Reden und Handeln ich mich orientieren kann. Aber wenn ich versuche, all die Glaubensaussagen beiseite zu lassen und zum historisch echten Jesus vorzudringen, wenn ich herausbekommen will, was er denn nun wirklich gesagt und getan hat, dann werde ich feststellen, dass da nicht viel übrig bleibt. Denn ein anschauliches Bild von Jesus liefert uns nun mal nur das Neue Testament, und dieses Bild ist durch und durch von dem Glauben geprägt, dass er der Sohn Gottes ist. Es ist wie bei einem berühmten Gemälde, von dem ich annehme, dass es mehrmals übermalt worden ist. Ich kann versuchen, die Übermalungen vorsichtig, Schicht um Schicht zu entfernen, um darunter das ursprüngliche Bild von der Hand des Meisters zu entdecken. Aber am Ende stelle ich womöglich fest, dass der Meister nur ein paar Striche auf die Leinwand gezeichnet hat, die seine Schüler dann ausgestalten sollten. Dann habe ich zwar ein paar „echte“ Striche von Rembrandt oder Rubens, aber das Gemälde ist zerstört. So ist es auch mit der Suche nach dem so genannten „historischen“ Jesus: am Ende sind beide nicht mehr da, der Sohn Gottes, an den wir glauben, und der Mensch aus Nazareth.
Der erste Johannesbrief setzt sich schon mit dem gleichen Problem auseinander, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Auch er hat es mit Leuten zu tun, die überzeugt sind, dass Mensch und Gott nicht wirklich eins sein können. Während heute allerdings viele nur nach dem Menschen Jesus fragen, zählte für diese Leute nur der Sohn Gottes. Für sie ist das Wort Gottes nicht wirklich Fleisch geworden, sondern nur scheinbar. Gott hatte nach ihrer Überzeugung in Jesus nur äußerlich irdische Gestalt angenommen, um die Menschen von allem Irdischen zu befreien. Er ist demnach auch nicht wirklich gestorben und auferstanden, sondern hatte nur seine sterbliche Hülle abgestreift und so sein wahres göttliches Wesen offenbart.
Auch Menschen, die sich Christen nennen, neigen also dazu, Gott und Mensch auseinander zu dividieren, die doch in Jesus eins geworden sind. Dabei verfallen sie mal ins eine, mal ins andere Extrem: hier Jesus als verkleideter Gott, dort Jesus als Mensch, und nichts sonst. Das Ergebnis ist in beiden Fällen das Gleiche: Sowohl der Mensch Jesus als auch der Christus des Glaubens verflüchtigen sich bis zur Unkenntlichkeit. Schließlich bleibt dann keine Grundlage mehr, auf der man überhaupt noch Christ sein kann.
Der erste Johannesbrief will dieser Gefahr wehren, dazu wurde er geschrieben. Aber was hat er ihr entgegenzusetzen? Kurz formuliert ist es die Glaubwürdigkeit der Zeugen. Es gibt Menschen, sagt der Brief, die haben Jesus gehört mit ihren ganz irdischen Ohren. Sie haben ihn gesehen mit ihren eigenen Augen. Sie haben ihn berührt mit ihren Händen. Sie können also bestätigen, dass er wirklich und wahrhaftig ein Mensch war wie du und ich. Doch auf der anderen Seite ist ihnen aufgegangen: Was Jesus sagt, das sind nicht nur schöne Worte, sondern Worte des Lebens, des ewigen Lebens. Was Jesus tut, das sind nicht nur Wunder, sondern es sind die Taten Gottes. Und als sie dann auch den Auferstandenen sahen, hörten und berührten, da wurde ihnen klar: Jesus, der Sohn, und Gott, der Vater im Himmel, sind eins.
Als der erste Johannesbrief geschrieben wurde, waren diese Zeugen schon nicht mehr am Leben. Aber sie hatten ihr Zeugnis weitergegeben, nicht als so genannte „objektive“ Berichte, mit denen man historische Fakten beweisen könnte, sondern als Zeugnisse ihres Glaubens. Und dieser Glaube hatte andere angesteckt. Er hatte dadurch seine Wahrheit erwiesen und eine Glaubens-Gemeinschaft entstehen lassen. Und diese Gemeinschaft erlebte in ihrer Mitte die Gegenwart Christi als wahrer Gott und wahrer Mensch. Deshalb kann sich der Verfasser des Briefes mit diesen Zeugen zu einem Wir zusammenschließen, obwohl er selber kein Augen- und Ohrenzeuge mehr ist. Denn er wie auch die, an die er schreibt, gehören mit ihnen zur gleichen Gemeinschaft. Sie gehören zu den Seligen, die nicht sehen und doch glauben. Und diese Gemeinschaft besteht bis zum heutigen Tag, auch hier unter uns.
Ist es also wahr? Ist mit Jesus das wahre Leben erschienen, weil Gott in ihm wirklich Mensch geworden ist? Ich kann für mich sagen: Ja, es ist wahr. Aber das ist keine Wahrheit, die ich unter Absehung vom Glauben von einem neutralen Standpunkt aus beweisen könnte. Es ist eine Wahrheit, die ich nur entdecken kann, wenn ich ein Teil der Gemeinschaft der Glaubenden bin. Denn nur dort behalten die Zeugnisse, die wir über Jesus besitzen, ihren Wert. Die Glaubenswahrheit, die in ihnen steckt, macht diesen Wert aus, nicht die historische Wahrheit, die dahinter liegt.
Trotzdem hat der Glaube an Jesus Christus nur eine Berechtigung, wenn er an dem historischen Menschen Jesus von Nazareth seinen Halt hat. Wenn da nichts gewesen wäre, was zu hören, zu sehen und zu berühren war, dann wären die Zeugnisse über Jesus entweder Lüge oder Einbildung. Denn wenn Gott wirklich Mensch geworden ist, dann muss dieser Mensch auch eine reale Gestalt sein, die zu diesem Geschehen passt. Nach allem, was man auch als skeptischer Historiker über Jesus sagen kann, war er das durchaus. Wir müssen nicht befürchten, dass eines Tages Beweise dafür auftauchen, dass Jesus doch nichts anderes als ein Terrorist war, der die Römer aus dem Land jagen wollte. Aber der ganze, der eigentliche Jesus, der ist und bleibt uns nur im Glauben zugänglich. Es lohnt sich, wenn wir uns darauf einlassen. Denn dann erscheint auch uns das Leben. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein