Predigt Tal- und Wenschtkirche, Sonntag, 1. Juli 2018

GOTTESDIENST FÜR DEN FÜNFTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: Gen 12,1-4a

Und der Herr sprach zu Abraham: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abraham aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte.

Dieser kurze Abschnitt ist eine Schlüsselstelle in der Bibel. Wenn man ihn aus dem Zusammenhang löst, sieht man ihm das nicht gleich an. Aber wenn man die Bibel von vorne zu lesen beginnt, erreicht man hier in 1. Mose 12 einen entscheidenden Wendepunkt. Wenn es den nicht gäbe, dann wäre die Bibel nämlich schon nach 11 Kapiteln zu Ende, und es wäre ein sehr trauriges Ende. Denn dann würde uns nur berichtet, wie Gott mit seiner Schöpfung in einer Sackgasse landet:
Da erschafft Gott den Menschen und gibt ihm alles, was er zum Leben braucht. Aber der ist damit nicht zufrieden. Er möchte mehr, und des-halb hält er sich nicht an Gottes Gebot. Gott bleibt nichts anderes übrig, als ihn aus dem Garten Eden zu vertreiben und den Acker zu verfluchen, von dem er sich nun mit viel Mühe ernähren muss.
Dann ist das erste Menschenpaar fruchtbar und mehrt sich, wie es Gott gewollt hat. Aber ihr Ältester hat nichts Besseres zu tun als aus Neid seinen jüngeren Bruder umzubringen. Gott bleibt nichts anderes übrig als den Mörder zu verfluchen. Unstet und flüchtig muss er von da an über die Erde irren.
Dann wird die Menschheit zahlreich und füllt nach Gottes Plan die Erde. Aber die Menschen scheren sich keinen Deut um ihren Schöpfer, sondern ihr Dichten und Trachten ist böse von Jugend auf. Gott bereut, dass er diese Brut überhaupt erschaffen hat, und lässt sie alle in der Sintflut ertrinken. Mit einer geretteten Familie und ein paar Tieren fängt er noch mal von vorne an. Aber schon bald trifft ein neuer Fluch einen der Überlebenden, weil er seinem Vater nicht die nötige Ehre erwiesen hat.
Wieder wird die Menschheit zahlreich, und wieder ist sie nicht zufrieden mit dem, was sie hat und kann. Sie will unbedingt noch höher hinaus und sich mit einem Turm bis zum Himmel selbst verewigen. Und wieder bleibt Gott nichts anderes übrig als strafend einzugreifen: Er sorgt dafür, dass sich die Menschen nicht mehr verstehen und sich in alle Winde verstreuen. Besser wird auch dadurch nichts.
Natürlich könnte die Bibel noch mehr dergleichen erzählen, wenn es sein müsste bis zum heutigen Tag. Aber es wäre immer wieder die gleiche deprimierende Geschichte: Die Menschen häufen Bosheit auf Bosheit und empfangen dafür von Gott Strafe um Strafe. Und man müsste letztlich zu dem Schluss kommen: Gott ist mit seiner Schöpfung gescheitert. Alles war sehr gut – bis Gott den Fehler machte, den Menschen zu erschaffen. Er sollte Gottes Gegenüber auf Erden sein, ein Bild, das ihm gleich sei. Aber was ihm Gott damit an Möglichkeiten eröffnet hat, das hat er nur missbraucht, um sich selbst zu verwirklichen – ohne Gott, und wenn nötig auch gegen Gott und gegen seine Mitmenschen. Und die Kraftakte, mit denen Gott den Schaden beseitigen oder wenigstens begrenzen will, bewirken auf die Dauer das Gegenteil. Es geht ihm wie einem Vater, der seinen schwer erziehbaren Sohn ständig verprügelt, weil er sich nicht anders zu helfen weiß, und ihn dadurch erst recht zum Gewalttäter werden lässt.
Wenn Ihnen bei diesem Vergleich unwohl wird, haben Sie natürlich recht: Denn wenn die Bibel so enden würde, dann wäre sie nicht die Bibel. Und der Gott, von dem sie spräche, wäre nicht der Gott, an den wir glauben. Trotzdem ist es gut, sich das einmal klar zu machen: Mit dem Ende der sogenannten Urgeschichte in 1. Mose 1-11 ist die Bibel an einem toten Punkt angekommen. Bis dahin hat sie nur anschaulich gemacht, was für ein Fluch auf der gefallenen Menschheit liegt.
Aber so geht es nicht weiter. So kommt Gott mit seiner Schöpfung nicht zum Ziel. Und deshalb beginnt mit Kapitel 12 des ersten Mosebuchs etwas Neues. Gott sucht sich einen Menschen namens Abraham und gibt ihm einen Auftrag und eine Verheißung:

Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.

Mit diesen Worten tut Gott etwas, was Jogi Löw und seinen Mannen irgendwie nicht gelungen ist: Er ändert seine Strategie. Bisher hat er immer nur reagiert: Der Bosheit der Menschen ließ er seine Strafe und seinen Fluch folgen. Und wenn ausnahmsweise mal einer fromm und gerecht war wie Henoch oder Noah, dann zog er ihn auf seine Seite. Und die meisten Menschen stellen sich ja immer noch vor, dass Gott genau so handelt: Die Guten werden belohnt, und die Bösen werden bestraft. Zumindest sollte Gott so handeln, denken sie. Und wenn er es nicht tut – das erleben wir ja ständig –, dann kann es wohl nichts sein mit diesem Gott. Dass die Guten, denen Böses widerfährt, dafür im Jenseits belohnt werden, damit lässt sich heute kaum noch jemand vertrösten.
Aber mit Abraham macht es Gott anders: Abraham ist ein Mensch wie jeder andere – nicht schlechter und nicht besser. Das einzige, was wir in der Bibel über ihn erfahren, bevor Gott mit ihm redet, sind seine Vorfahren. Und für die trifft all das zu, was die ersten elf Kapitel der Bibel über die Menschen sagen: über ihre Würde und über ihren besonderen Platz in der Schöpfung, über ihr Versagen und ihre Bosheit. Und weil es für Abrahams Ahnen zutrifft, gilt es auch für ihn selbst. Er ist ein ganz normaler Durchschnittsmensch. Keine Rede davon, dass Abraham besonders fromm und gottesfürchtig war. Nicht ein Wort über besondere Verdienste um die wahre Religion, die es rechtfertigen würden, dass Gott sich gerade an ihn wendet. All das haben erst spätere Legenden Abraham zugeschrieben. Sie konnten es eben nicht ertragen, dass Gott sich völlig willkürlich einen aus der Masse greift und etwas aus ihm macht. Sie dachten mit typisch menschlicher Logik: irgendetwas muss an dem doch dran gewesen sein, dass Gott sich gerade ihn ausgesucht hat.
Aber gerade das war nicht der Fall, und genau darum geht es: Gott belohnt Abraham nicht für erbrachte Leistungen, sondern er macht ihn erst zu dem Abraham, den wir kennen. Er macht ihn, den kinderlosen Mittsiebziger, zu einem großen Volk. Er verleiht ihm einen großen Namen. Und vor allem: Gott verheißt Abraham seinen Segen. Aber nicht nur ihm: Gottes Segen gilt auch den nachfolgenden Generationen, ja am Ende sogar allen Geschlechtern der Erde, also der ganzen Menschheit. Mit Abraham macht Gott sich auf den Weg aus der Sackgasse von Bosheit und Strafe. Gegen den verdienten Fluch setzt er den unverdienten Segen. Er geht mit Abraham in das Land, das er ihm zeigen will, und er begleitet Abrahams Kinder bis zum heutigen Tag.
Bleibt nur noch die Rückfrage, was denn aus der Wende mit Abraham geworden ist. Hatte Gott Erfolg mit seiner neuen Strategie? Ist Abraham tatsächlich zum Segen für die ganze Menschheit geworden?
Man könnte als Antwort natürlich auf die drei Weltreligionen verweisen, die sich heute auf Abraham berufen: Judentum, Christentum und Islam. Gemeinsam genommen umspannen sie einen Großteil der Menschheit. Aber leider sind sie einander öfter zum Fluch als zum Segen geworden. Sie haben der Verheißung an ihren Vater Abraham nur wenig Ehre gemacht. Und wenn wir mal nicht nur auf die Gegenwart schauen, haben wir Christen zu dieser Schande leider am meisten beigetragen. Also gab es keine Erfolgsgeschichte?
Vielleicht doch – zumindest wenn der Apostel Paulus Recht hat. Der sagt nämlich: Alle Glaubenden gehören zu der Nachkommenschaft, die Gott dem Abraham verheißen hat. Sie alle sind Abrahams Kinder. Denn wo immer jemand zum Glauben an Jesus Christus kommt, da geschieht das Gleiche wie bei Abraham – oder auch wie bei Petrus, von dem wir in der Schriftlesung hörten. Und das heißt: da handelt Gott. Da sucht er sich wieder einmal einen Menschen aus – zum Beispiel einen x-beliebigen Fischer vom See Genezareth – und sagt zu ihm: Egal, wo du herkommst, egal, was du mitbringst: Du bist mein geliebtes Kind, und ich will dich mit meinem Segen durchs Leben begleiten. Also komm und folge mir nach!
Wer sich das sagen lässt, wer sich dadurch froh machen lässt, und wer sich dann mit Gott auf den Weg macht, der glaubt, wie Abraham es tat. Und der kann wie Abraham wiederum anderen zum Segen werden, weil andere an ihm sehen können, wie Gott ist. Und von dieser Sorte Menschen gibt es mehr als man denkt. Gott sucht sie sich in allen Völkern der Erde, in allen sozialen Schichten, in allen Generationen. Vielleicht nennen sie sich gar nicht mal alle Christen. Vielleicht, bestimmt sogar, gibt es auch Juden und Muslime und andere, für die Gott so ist, wie Paulus sagt. Dann sollten wir als Christen sie nicht beargwöhnen und auf sie herabsehen, wenn wir ihnen begegnen, sondern uns an ihnen freuen und Gott dafür danken, dass er überall seine Leute hat. Sie alle sind ein Teil von seinem Segen, mit dem er den Fluch überwindet, der auf seiner Schöpfung lastet. Und für die Zukunft können wir darauf hoffen, dass der Fluch zum Vergehen verurteilt ist und dass der Segen wächst und wächst, bis er wirklich die Welt umspannt. Nicht, weil wir das schaffen könnten. Sondern weil Gott es will. Und weil er seinen Verheißungen treu bleibt. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein