ÖKUMENISCHER GOTTESDIENST ZUM SIEDLERFEST

Rollschuhplatz, 16.6. 2019

Thema: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ 

(GG Art. 1 / Gen 1,26-31)

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Mit diesem Satz, ebenso schlicht wie gewichtig, beginnt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das vor kurzem siebzig Jahre alt wurde. 

Wer mit offenen Sinnen durch die Welt geht und schon ein bisschen Lebenserfahrung gesammelt hat, der wundert sich bei diesem Satz vielleicht über das Wörtchen „ist“. „Die Würde des Menschen soll nicht angetastet werden“ oder „darf nicht angetastet werden“ – das könnten wir als nüchterne Beobachter des Weltgeschehens bestens verstehen und als bitter nötig unterschreiben. Aber „ist unantastbar“? Das stimmt doch schlicht und einfach nicht! Es vergeht doch kein Augenblick auf Erden, in dem nicht die Würde irgendeines Menschen aufs Übelste angetastet wird. Da vegetieren Millionen Menschen in irgendwelchen Slums oder Flüchtlingslagern ohne jede Würde vor sich hin. Da sterben zahllose Unschuldige bei Bomben-angriffen oder Terror-Akten. Da ertrinken Menschen im Mittelmeer, weil Europa sie nicht haben will. Da haben unzählige Kinder keine Chance auf Bildung, werden als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, sterben viel zu früh an Hunger und Krankheiten. Da werden Unge-borene getötet, weil sie eine Behinderung haben – oder auch nur, weil sie Mädchen sind. Da wird bei pflegebedürftigen Alten aus der Menschenwürde auffällig schnell der Ruf nach dem „Sterben in Würde“. So könnte ich noch lange weiter machen. Und es legt sich der Schluss nahe, dass die Würde des Menschen leider nur zu sehr antastbar, verletzbar, auslöschbar ist.

Trotzdem steht es so in unserem Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und diejenigen, die es da so hinein-geschrieben haben, wussten sehr genau, wovon sie sprachen. Hatten sie doch gerade erst die Nazi-Herrschaft hinter sich, in der die Menschenwürde schlimmer mit Füßen getreten wurde als je zuvor. Sie müssen es wohl so gemeint haben: Trotz allem, was Menschen anderen Menschen antun, trotz all dem Morden, trotz all der der Verachtung, Unterdrückung und Ausbeutung hat jeder Mensch eine Würde, die ihm niemand nehmen kann. Er bleibt eben ein Mensch – trotz aller Unmenschlichkeit. Aber was ist der Mensch? Und woher hat er seine unverlierbare Würde?

Das Grundgesetz konnte diese Frage nicht beantworten, weil sie nicht in seine Zuständigkeit fällt. Seinen Autoren war aber bewusst, dass seine Sätze von Voraussetzungen leben, die es selber nicht machen, sondern nur akzeptieren können. Und von diesen Voraus-setzungen erzählt uns die Bibel, auch sie ganz am Anfang. Ich lese Genesis 1,26-31:

Und Gott sprach: „Lasst uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.“ Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: „Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.“ Und es geschah so. Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.

„Lasst uns Menschen Menschen machen“ – als Gott diese Worte spricht, ist die Welt ansonsten schon fertig. Der Mensch ist Gottes letztes Schöpfungswerk. Erst spät betritt er die Bühne, da sind sich die Bibel und die heutige Wissenschaft einig. Er kommt also von vornherein in eine Welt, die schon da ist, und er ist ein Teil von ihr. Die Welt könnte auch ohne ihn, aber er kann nicht ohne sie. Das sollten wir nicht vergessen, wenn es um unser Verhältnis zur übrigen Schöpfung geht.

Aber der Mensch ist dann eben doch etwas Besonderes. Denn nur seiner Erschaffung geht eine solche Aufforderung voran: „Lasst uns Menschen machen.“ Ich halte mich jetzt mal nicht damit auf, wem diese Aufforderung gilt. Ich verstehe sie einfach als Aufforderung Gottes an sich selbst. Denn es ist ja Gottes Bild, zu dem der Mensch geschaffen wird – nicht um ihn über die Schöpfung zu erheben, sondern um ihn innerhalb der Schöpfung zum Gegenüber Gottes zu machen, zu dem Gegenüber, mit dem Gott redet und von dem er Antwort erwartet. Das ist seine besondere Rolle, die so kein anderes Geschöpf hat. Es entspricht der Rolle, die im Alten Orient der König besaß, der auch oft als Ebenbild einer Gottheit galt. Wenn es also dann heißt: „Macht euch die Erde untertan und herrscht über sie!“ dann bedeutet das: Ihr sollt über die Erde so regieren, wie der König über Israel regiert. Auch wenn der den Thron besteigt, ist das Volk schon da, und es ist Gottes Volk. Ihm, dem König, ist es nur auf Zeit anvertraut, um es zu schützen und zu erhalten, sich um seine schwächsten Glieder zu kümmern und Gott dafür Rechenschaft abzulegen. So steht es auch zwischen dem Menschen und der übrigen Schöpfung einschließlich seiner Mitmenschen: Sie ist nicht sein Eigentum, mit dem er tun und lassen könnte, was er will, sondern er ist das Geschöpf, dem Gott die Verantwortung für seine Schöpfung übertragen hat.

Das ist es also, was die unantastbare Würde des Menschen ausmacht. Gott hat sie noch einmal bestätigt und unterstrichen, als er selber Mensch geworden ist. Deshalb wird auch Jesus Christus, und er erst recht, „das Ebenbild Gottes“ genannt – wir haben es eben in der Lesung gehört. Und deshalb begegnet uns, die wir an Jesus Christus glauben, in jedem Menschen erst recht Gottes Ebenbild.

Nebenbei gesagt: Schon die Schöpfungsgeschichte hat dafür gesorgt, dass wir „Mensch“ nicht mit „Mann“ gleichsetzen – was im Hebräischen noch näher liegt als im Deutschen. Denn sie macht unmissverständlich deutlich, dass Gott den Menschen „als Mann und Frau“, männlich und weiblich schuf. Nur als Mann und als Frau kann er also Gottes Ebenbild sein. Wenn also zuzeiten nur der Mann als vollgültiges Ebenbild Gottes galt oder die Vorstellungen von Gott rein männlich geprägt waren, dann war da was falsch – und ist es hier und da immer noch.

„Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“. Darum geht es unausgesprochen bei dem Wörtchen „ist“ im ersten Satz des Grund-gesetzes. Was auch immer Menschen anderen Menschen antun, sie bleiben Gottes Geschöpf. Sie bleiben sein Gegenüber, das er liebt, und sie bleiben ihm verantwortlich. Ich kann andere Menschen verachten, hassen, misshandeln und töten, aber ich kann nicht verhindern, dass Gott sie seiner Liebe würdigt. Und auch wenn ich für meine menschenverachtenden Taten auf Erden nie zur Verantwortung gezogen werde, bleibe ich doch Gott gegenüber verant-wortlich und werde von ihm zur Rechenschaft gezogen werden.

Auf dieser Grundlage bekennt sich also unser Grundgesetz zur Würde des Menschen und zu seinen „unveräußerlichen Rechten als Grundlagen jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Art. 1, Abs. 2). Und es verpflichtet den Staat und alle seine Bürgerinnen und Bürger, sich nach besten Kräften für den Schutz der Menschenwürde einzusetzen.

Nun mag es freilich für manchen ein weiter Weg sein von den Grundsätzen der Bibel oder unserer Verfassung bis in unser alltägliches Leben. Was bedeutet zum Beispiel die „Würde des Menschen“ für unser Zusammenleben hier im Wenscht? Für mich im Grunde nichts anders als Folgendes: Möge „Siedlungsgemeinschaft Wenscht aktiv“ nicht nur der Name des Vereins sein, der dieses schöne Fest veranstaltet, sondern das Motto aller Menschen, die im Wenscht leben. Denn sie alle haben die gleiche Würde, die gleichen Rechte und Pflichten: Die Ursiedler, ob sie nun von hier oder „von drüben“ kamen, und deren Nachkommen, die früheren „Gastarbeiter“ und ihre Familien, die Russlanddeutschen, die Geflüchteten aus dem Nahen Osten, aus Afrika oder woher auch immer. Die Eigen-heimbesitzer und die Zur-Miete-Wohner. Die, die ihr Leben hier verbringen, und die, die nur für ein paar Jahre Station machen. Die Evangelischen, die Katholischen und die Muslime. Die Gläubigen und die Nicht-Gläubigen. Eine Siedlungsgemeinschaft, bunt und vielfältig wie das Leben überhaupt. Eine Siedlungsgemeinschaft, die miteinander redet, aufeinander achtet und hoffentlich irgendwann auch mal wirklich miteinander feiert. Eine Siedlungsgemeinschaft, der es auffällt, wenn in der Nachbarschaft jemand Hilfe braucht – beim Einkaufen, bei Behördengängen, bei der Kinderbetreuung, beim Heimwerken, bei den Hausaufgaben, bei was auch immer. Eine Siedlungsgemeinschaft, die schlicht auf gute Nachbarschaft Wert legt. Ich weiß ja, dass da auch jetzt schon viel Schönes und Gutes passiert. Aber es wird auch viel gleichgültig nebeneinander her gelebt. Es gibt viel Einsamkeit, viel Abgrenzung, manches Misstrauen und manche Vorurteile. Das muss man vermutlich nicht denen am dringendsten sagen, die heute Morgen hier sind – das weiß ich auch. Aber wir alle können in unserem Umfeld dazu beitragen, dass Gemeinschaft gepflegt wird und wächst, dass Menschen einander sehen und einander in ihrer Würde achten. Und wo wir können, bieten wir mit unseren beiden Kirchen allen Wenschtern gern Raum dafür – nicht nur sonntags im Gottesdienst, aber da auch.

Also: Mögen wir uns alle bald wiedersehen – vielleicht beim Kinderfest in zwei Wochen. Möge die Siedlungsgemeinschaft Wenscht aktiv weiter wachsen – nach außen und nach innen. Und mögen wir dabei den Segen Gottes spüren, der uns zu seinem Bilde geschaffen hat samt allen seinen Kreaturen. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein