Gottesdienst für den ersten Sonntag nach Epiphanias

Wenschtkirche, 11.01.2015

Text: Röm 12,1-2

Brüder und Schwestern, bei der Barmherzigkeit Gottes ermahne ich euch: Stellt euer ganzes Leben Gott zur Verfügung. Es soll wie ein lebendiges und heiliges Opfer sein, das ihm gefällt. Das wäre für euch die vernünftige Art, Gott zu dienen. Und passt euch nicht dieser Welt an. Gebraucht vielmehr euren Verstand in einer neuen Weise und lasst euch dadurch verwandeln. Dann könnt ihr beurteilen, was der Wille Gottes ist: Ob etwas gut ist, ob es Gott gefällt und ob es vollkommen ist.

Ich ermahne euch“, sagt Paulus. Das löst bei uns bestimmte Reak­tionen aus. „Aha“, denken wir, „da ist er wieder: der erhobene Zeige­finger!“ Den kennen wir von unseren Eltern: „Zieh dir was Warmes an – es ist kalt draußen!“ – „Du musst was essen, bevor du morgens aus dem Haus gehst!“ – „Wie, du willst weg? Bist du denn schon mit den Hausaufgaben fertig?“ – „Also gut, dann geh – aber komm nicht zu spät wieder!“ Zwei mir gut bekannte Jugendliche pflegen auf solche elterlichen Ratschläge mit Augenverdrehen, genervtem Stöhnen oder einem ärgerlichen „Ich mach’s ja gleich!“ zu reagieren. Anschließend tun sie vielleicht oberflächlich, was wir sagen, um ihre Ruhe zu haben, aber in Wirklichkeit machen sie doch, was sie wollen. Kommt euch bekannt vor? Hab ich mir gedacht!

Aber bei uns Erwachsenen ist es ja nicht anders. Je älter wir werden, desto allergischer reagieren wir, wenn uns jemand mit Ermahnungen kommt – seien es Vorgesetzte, Ärzte oder staatliche Ordnungshüter. Denn wir wissen ja selber, was gut für uns ist, und lassen uns nicht bevormunden. Und das betonen wir umso kräf­tiger, je genauer der erhobene Zeigefinger ei­nen unserer wun­den Punkte trifft. Wer gibt schon gern eine Schwä­che zu?

Und jetzt auch noch der Apostel Paulus: „Ich ermahne euch, Schwestern und Brüder“. Aber was soll man von einem kirchlichen Amtsträger auch anderes erwarten? Moral zu predigen ist doch sein Job, oder? Wenn der Rat der EKD oder die deutsche Bischofskonfe­renz sich zu Wort melden, geht es schließlich auch meistens um mo­ra­lische Fragen – jedenfalls bei dem, was in der Öffentlichkeit an­kommt. Viele finden das ja ganz in Ordnung so. Wo doch immer wieder ge­klagt wird über den Werteverlust, über den wachsenden Egoismus, über den Verfall des christlichen Abendlands. Da kann es doch nicht schaden, wenn die Kirchen ein bisschen moralische Aufrüstung betrei­ben. Wofür sollen sie auch sonst gut sein? Ein Papst wie Franziskus, der glaubwürdig und ohne Scheu allen möglichen Leuten die Leviten liest – Politikern, Wirtschaftsbossen, Finanzjongleuren, ja sogar den eigenen Kardinälen –, der erntet deshalb viel Lob, nicht nur vom Kir­chenvolk: Endlich mal einer, der Klartext redet mit diesem ganzen Pack! Nur mich selber sol­len er und seinesgleichen mit ihren Ermah­nungen bitte in Frieden lassen! Denn wie ich mich persönlich verhalte, das ist schließlich meine Privatsache; da lass ich mir von nie­man­dem Vorschriften machen.

Wenn wir so über die Ermahnungen des Paulus denken sollten, hät­ten wir ihn allerdings falsch verstanden. Nichts liegt ihm ferner, als Muni­tion für kirchliche Moralapostel zu liefern – ganz egal, ob sie sich selber dazu aufschwingen oder sich von anderen in diese Rolle drän­gen lassen. Wenn Paulus ermahnt, dann tut er das nicht mit er­hobe­nem Zeigefinger, sondern „bei der Barmherzigkeit Gottes“. Was es damit auf sich hat, dazu hat er vorher im Römer­brief eine Menge ge­schrieben. Was meint also Paulus, wenn er von der Barmherzigkeit Gottes spricht? Kurz gesagt hat er dabei eine gute und eine schlechte Nachricht für uns, aber beide gehören zusammen.

Ich fange mal – so wie Paulus auch – mit der schlechten Nachricht an: Alle Versuche, Menschen durch Ge­bote oder moralische Appelle zum Guten zu be­wegen, sind zweck­los. Das legt uns zwar auch unsere Lebenserfahrung nahe (siehe oben), aber für Paulus gilt es ganz grundsätzlich. Denn alle diese Versuche setzen voraus, dass tief in jedem Men­schen ein guter Kern steckt. Man muss ihn nur richtig akti­vieren, dann wird das schon. Diese Voraussetzung, sagt Paulus, ist falsch. Tief im Innern drehen sich vielmehr alle Men­schen nur um sich selbst, denn sie haben die Verbindung mit Gott, ihrem Schöpfer, ver­loren. Und wenn sie doch mal freiwillig Gutes tun, dann wollen sie sich damit nur ein gutes Gewissen zu verschaf­fen, damit sie vor sich selbst und anderen bestehen zu können. Zu Gott finden sie da­durch nicht zurück, und die Welt wird so auch nicht in Ordnung ge­bracht. Das ist ein vernichten­des Urteil. Und wenn es dabei bleiben würde, wäre es auch ein un­gerechtes Urteil. Denn dann hätten wir ja keine Chance. Wir müssten immer wie­der versuchen, gut und richtig zu handeln, um mit uns selbst und auch mit Gott ins Reine zu kommen, und wir müssten doch immer wie­der daran scheitern.

Deshalb muss die an­dere, die gute Nachricht immer gleich mitge­dacht werden: Gott über­lässt seine Geschöpfe nicht ihrem Schicksal. Er will sie freimachen davon, dass sie immer nur um sich selber krei­sen. Er nimmt ihnen die Sorge um ihr gutes oder schlechtes Gewis­sen ab. Er spricht ihnen zu: „Du musst nicht selber für dich gerade­stehen! Du musst dich nicht selber verwirklichen, wie das heute im­mer so schön heißt. Nein, du bist schon wirklich, weil ich, Gott, dich wirklich lieb habe – und zwar so, wie du bist, und nicht so, wie du oder andere dich gern hätten.“

Genau das ist Gottes Barmherzigkeit. Sie ist die Grundlage, auf der Paulus seine Ermahnungen ausspricht. Wenn er uns auch nur wieder zu guten Menschen erziehen wollte, dann müsste er genauso schei­tern wie alle anderen. Aber diese Sorge hat Gott ihm und uns schon abge­nommen. Wir müssen uns jetzt nicht mehr mit uns selber aufhalten, sondern können gleich anfangen das zu tun, was Gott von uns will.

Und was will Gott von uns? Paulus hat dazu eine Menge Einzelhei­ten aufzuzählen. Aber bevor er das tut, macht er einige grundsätzli­che Aussagen, und die sollen auch für die heutige Predigt reichen:

1. Gott will uns ganz.

2. Gott will, dass wir unangepasst leben.

3. Gott will, dass wir prüfen, was das Gute ist.

1. Gott will uns ganz.Stellt euer ganzes Leben Gott zur Verfü­gung“, sagt Paulus. „Es soll wie ein lebendiges und heiliges Opfer sein, das ihm gefällt.“ Wir verstehen unter „Opfer“ ja norma­lerweise etwas anderes. „Opfern“ heißt für uns: Ich gebe etwas ab von dem, was mir gehört – damit ich den Rest behalten kann. So wie ein Schachspieler einen Bauern opfert, um dadurch das Spiel zu ge­win­nen. Oder so, wie wir uns möglichst schnell lästiger Pflichten entle­gen, damit wir mit dem Rest der Zeit machen können, was wir wollen. Aber wenn wir uns Gott gegenüber so verhalten, wenn wir gelegent­lich zum Gottesdienst gehen, hier und da was spenden, ab und zu was Gutes tun, und ansonsten so leben, wie es uns gefällt, dann dre­hen wir uns wie­der nur um uns. Wenn dagegen Paulus sagt, dass wir uns selbst als Opfer zur Verfügung stellen sollen, dann steht dahinter die Einsicht, dass wir uns gar nicht selber gehören. Alles, was wir sind und haben, gehört Gott, der uns geschaffen hat. Gott verlangt also nichts anderes von uns, als dass wir diese Besitzverhältnisse akzeptie­ren und daraus Konsequenzen ziehen. Und dass das weitrei­chende Konsequenzen sind, dafür nenne ich nur ein Beispiel: Was bedeutet es etwa, dass die natürlichen Ressourcen der Erde nicht un­ser Besitz sind, erst recht nicht der Besitz von wenigen Reichen, son­dern dass sie Gottes Eigen­tum sind, das uns nur zu treuen Händen überlassen ist? Wenn wir das durchdenken und wirklich zu Herzen nehmen, müsste es an unserem Umgang mit unseren Mitge­schöpfen mehr ver­ändern als alle Weltklimakonferenzen und alle Tier- und Artenschutz­gesetze zusammen.

2. Gott will, dass wir unangepasst leben. „Passt euch nicht dieser Welt an“, sagt Paulus. Das heißt nicht: „Ihr Christen, bleibt unter euch und überlasst die böse Welt ihrem Schicksal.“ Das wäre auch zweck­los. Denn mit „Welt“ meint Paulus nicht einen begrenzten Ort, von dem man sich entfernen könnte. „Welt“ ist vielmehr das Grund­muster, das unser Leben auf Erden prägt. Ich habe es eben schon be­schrieben: Es ist das ewige Kreisen um mich selbst, der ständige Drang nach Selbstverwirklichung, der unausrottbare Zwang sich vor sich selbst und anderen beweisen zu müssen – oft genug zum Scha­den anderer und der eigenen Gesundheit. Davon hat Gott euch ein für alle Mal be­freit, sagt Paulus. Ihr habt das nicht mehr nö­tig. Ihr könnt also nicht mehr so tun, als wäre nichts geschehen, als käme es immer noch nur auf euch selber an. Ihr könnt Nein sagen zu einem Men­schenbild, bei dem nur Fitness, Erfolg und selbstbestimmtes Handeln zählen. Ihr könnt Nein sagen zu einer Gesellschaft, wo der am meisten gilt, der am meisten hat und häufigsten in allen Medien auftaucht. Ihr könnt Nein sagen zu einem Denken, das alles und jedes nur nach seinem wirtschaftlichen Nutzen beurteilt. Und ihr könnt es auf euch nehmen, wenn ihr dafür belächelt oder gar an­gefeindet werdet. Denn Gott gibt euch die Kraft dazu.

3. Gott will, dass wir prüfen, was das Gute ist. Die Menschen wa­ren sich noch nie darüber einig, was als gut und was als böse gelten soll. Aber heute sind sie es weniger denn je. Und vieles, was wir tun, hat zugleich gute und schlechte Wirkungen – zum Beispiel bei der Energiegewinnung oder der Gentechnik. Dann müssen wir abwägen, ob die posi­tiven oder die negativen Folgen überwiegen. Es ist also keine leichte Auf­gabe, zu prüfen, was das Gute ist. Paulus sagt: ihr könnt sie lö­sen, wenn ihr euren Verstand in einer neuen Weise ge­braucht. Das heißt: lasst euch leiten von Gottes gutem Geist und von dem Gebot, das alle anderen Gebote zusammenfasst: „Liebe deinen Nächsten wie sich selbst.“ Dann habt ihr einen Maßstab, an dem ihr euer Handeln prüfen könnt. Es bleibt dann immer noch schwer ge­nug, wirklich das Gute tun. Manchmal hat man nur die Entscheidung zwi­schen zwei Übeln und kann nur danach gehen, womit man weni­ger Schuld auf sich lädt. Aber auch dann hilft uns unser von Gott erneu­erter Ver­stand. Denn er weiß darum, dass wir in allem, was wir tun, von Got­tes Vergebung leben.

Wenn wir damit wirklich ernst machen, dann kommt dabei das her­aus, was nach Paulus für uns die vernünftige Art ist, Gott zu dienen. Unser ganzes Leben ist dann also ein Gottesdienst. Aber einer, der nicht im kleinen Kreis hinter Kirchenmauern statt­findet, sondern ein Gottes­dienst vor den Augen aller im Alltag der Welt. Wäre es nicht toll, wenn auf diese Weise viele Menschen un­sere „gu­ten Werke“ sehen und so dazu kommen, unseren Vater im Himmel zu preisen? Amen.