Predigt vom 10. August

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWÖLFTEN SONNTAG NACH
TRINITATIS

mit Taufe von Tim Edelmann, Chelsy Rick und
Vivien Samiev
Pfarrer Dr. Martin Klein
Talkirche, 10.8. 2008

Text: 1. Kor 3,9-15

Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid
Gottes Ackerfeld und Gottes Bau. Ich nach Gottes Gnade, die mir
gegeben ist, habe den Grund gelegt als ein weiser Baumeister; ein
anderer baut darauf. Ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut.
Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher
ist Jesus Christus. Wenn aber jemand auf den Grund baut Gold, Silber,
Edelsteine, Holz, Heu, Stroh, so wird das Werk eines jeden offenbar
werden. Der Tag des Gerichts wird’s klar machen; denn mit Feuer
wird er sich offenbaren. Und von welcher Art eines jeden Werk ist,
wird das Feuer erweisen. Wird jemandes Werk bleiben, das er darauf
gebaut hat, so wird er Lohn empfangen. Wird aber jemandes Werk verbrennen,
so wird er Schaden leiden; er selbst aber wird gerettet werden,
doch so wie durchs Feuer hindurch.

Wissen Sie, warum evangelische Kirchen meistens
zugeschlossen sind? Nun, das hat unterschiedliche Gründe. Die Lutheraner
wollen nicht, dass jemand was hinausträgt; die Reformierten dagegen
fürchten, dass jemand was hineinbringt. Die einen sorgen sich um
ihre Kunstschätze, die anderen um ihre bild- und schmucklose Kargheit.

Das ist natürlich nur ein Witz. Aber einer
mit realem Hintergrund: Tatsächlich sind die meisten evangelischen,
aber auch etliche katholische Kirchen fest verschlossen, wenn nicht
gerade Gottesdienst ist. Bei einer alten Dorfkirche in Dortmund,
die ich mal besichtigen wollte, war sogar der Kirchhof mit einem
hohen Gitterzaun gesichert, und in die Fenstersimse waren Glasscherben
einbetoniert. Eine Kirche muss schon hohen Sehenswert besitzen,
wenn man sie zu bestimmten Zeiten besichtigen kann, aber auch die
sind oft eng begrenzt. Auch unsere Klafeld-Geisweider Kirchen sind
in der Regel zu.

Natürlich verstehe ich die Gründe dafür. Ich
weiß ja, wie gern auch in und um Kirchen herum geklaut, randaliert
und mutwillig zerstört wird. Entsprechend unruhig wird man, wenn,
wie jüngst in der Wenschtkirche, plötzlich irgendwelche Schlüssel
und Gegenstände verschwinden. Und man kann ja vom Küster oder Pastor
auch nicht erwarten, dass er immer parat steht, um potenziellen
Besuchern aufzuschließen. Trotzdem finde ich es schade, dass man
viele unserer Kirchen nur zu Gottesdienstzeiten betreten kann. Denn
unabhängig von ihrem Alter und ihrem kunsthistorischen Wert geben
Kirchen Zeugnis von einer Kultur, die vielen der Menschen, die heute
um sie herum leben, fremd geworden ist. Sie könnten ihnen Raum bieten,
um zur Ruhe zu kommen, an eine Geschichte anzuknüpfen, die auch
ihre ist, sich ihren Wurzeln zu nähern und so letztlich das Fundament
zu entdecken, von dem Paulus spricht: „Einen anderen Grund kann
niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“

Nun könnten Sie zwar zurecht einwenden, dass
der Glaube nicht an irgendwelchen Gebäuden aus Holz und Stein hängt.
Aber für mich sind die verschlossenen Kirchen auch nur ein Symptom
für einen tiefer liegenden Mangel, den ich an uns Christen heutzutage
wahrnehme: Wir haben über die Jahrhunderte hinweg einen großen Schatz
geerbt, nämlich das Evangelium von Jesus Christus, das allen Manschen
Heil und Leben verheißt. Aber wie unsere Kirchen halten wir auch
diesen Schatz, auf den sie hinweisen unter Verschluss – außer zu
besonderen und eng begrenzten Zeiten. Viele tun es wohl deshalb,
weil sie seinen wahren Wert nicht kennen, so dass sie gar nicht
erst auf den Gedanken kommen, dass dieser Schatz ihnen selbst oder
anderen etwas bedeuten könnte. Aber selbst diejenigen, die wissen,
wie wertvoll diese Botschaft ist, lassen die Schatztruhe zu. Vielleicht,
weil sie Angst haben, etwas falsch zu machen, wenn sie anderen etwas
davon zeigen. Vielleicht, weil sie meinen, dass nur Experten – also
Theologen – damit ordentlich umgehen können. Vielleicht auch, weil
sie denken, dass die oder der es gar nicht verdient haben, diesen
Schatz zu Gesicht zu bekommen. Und so gleicht die Christenheit hier
und heute weithin einem Museum: zu bestimmten Zeiten werden sachkundige
Führungen angeboten, aber ansonsten beherbergt es Gegenstände, die
man als geschichtsbewusster Mensch zwar erhalten muss, aber im heutigen
Alltag nicht mehr gebrauchen kann. Kinder wie Tim, Chelsy und Vivien
haben so kaum eine Chance, den Glauben, auf den sie getauft sind,
kennen zu lernen und bewusst damit zu leben – obwohl wir ihnen das
doch heute versprochen haben.

Was müsste geschehen, damit sich das ändert?
Wie kann aus dem altehrwürdigen Bauwerk Kirche, das wir mit immer
weniger Erfolg gegen den Verfall sichern, wieder eine betriebsame
Baustelle werden? So eine wie die, von der Paulus im Predigttext
spricht: Wo alle mit anpacken, so dass der Bau Gottes wächst und
gedeiht? Ich finde, wir müssten dazu die Grundsätze wieder neu beachten
lernen, die Paulus aufstellt, um die Arbeit auf dem Bau Gottes zu
beschreiben. Wenn ich recht sehe, sind das vor allem zwei:

Der erste Grundsatz: Um das Fundament müssen
wir uns keine Gedankten mehr machen. Denn das Fundament ist schon
da, und es hält und trägt seit 2000 Jahren: „Einen anderen Grund
kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“
In Jesus Christus sind Gott und Mensch miteinander versöhnt, ein
für alle Mal. Das heißt: Auf dieser Basis ist Glaube überhaupt erst
möglich: ein Band des Vertrauens zwischen mir und Gott. Nur auf
dieser Basis macht es Sinn, Kinder zu taufen und ihnen Verheißungs-
und Segensworte mitzugeben. Nur auf dieser Basis können wir so etwas
wie Kirche bauen: eine Gemeinschaft von Menschen, die Gott in ihrer
Mitte hat. Es heißt aber auch: abseits von diesem Fundament müssen
wir mit unseren Bauwerken scheitern. Wenn die Kirche ihr Fundament
vergisst, wenn sie nicht mehr auf Christus baut, sondern auf ihre
Unverzichtbarkeit für das Sozialgefüge oder auf ihre Meinungsführerschaft
in Sachen Wertevermittlung oder auf ihr Auch-dabei-Sein bei allem,
was gerade „in“ ist, dann kann sie nur noch Luftschlösser bauen,
die der Wind verweht, oder Sandburgen, die von der nächsten Flut
weggespült werden. Ich habe den Eindruck, dass solche zweifelhaften
Bauwerke in letzter Zeit wie Pilze aus dem Boden schießen, während
das eigentliche Fundament der Kirche immer mehr verschütt geht.
Es wäre also an der Zeit, es endlich wieder freizulegen. Das macht
sicher mehr Mühe und weniger Eindruck, als mal eben eine schöne,
bunte Kulisse hinzustellen. Aber wenn wir wirklich eine Kirche sein
wollen, in der auch unsere Kinder noch ein geistliches Zuhause finden,
dann sollten wir diese Mühe nicht scheuen. Gott wird sie nicht unbelohnt
lassen.

Und der zweite Grundsatz: „Wir sind Gottes
Mitarbeiter“. Auf Baustellen sind Leute, die nur herumstehen und
zuschauen, nicht willkommen, denn sie bringen sich selbst in Gefahr
und sind eine Gefahr für andere. Deshalb hängt dort immer das Schild:
„Betreten der Baustelle verboten“. Auch auf Gottes Baustelle sind
bloße Zuschauer nicht gefragt. Allerdings heißt die Konsequenz dort
nicht: „Betreten verboten“ sondern „Mitmachen erwünscht“: Wer die
Baustelle betritt, der soll auch mit bauen. Denn anders als auf
einem gewöhnlichen Bau gibt es keinen, der nicht irgendetwas zum
Gelingen beitragen könnte. Da kann der eine gut reden, der andere
gut zuhören, der eine hat gute Ideen, der andere kann kräftig zupacken,
der eine kann nüchtern kalkulieren, der andere einfühlsam mit Menschen
umgehen – all diese Gaben und noch viele andere werden gebraucht.
Sicher gibt es dabei Tätigkeiten, die mehr oder weniger Gewicht
haben. Gemeinden zu gründen, wie Paulus es tat, war etwas anderes
als beim Abendmahl den Tisch zu decken. Und auch heute ist es wohl
eine größere Aufgabe, in einer Gemeinde Pfarrer oder Presbyter zu
sein als in seiner Straße den Gemeindebrief auszutragen. Trotzdem
ist es wichtig festzuhalten, dass vor Gott die großen und die kleinen
Aufgaben dasselbe Ansehen haben. Beide müssen treu erfüllt werden,
damit der Bau gedeiht. Was vor Gott mit der Größe der Aufgabe wächst,
ist nur die Größe der Verantwortung. Dazu hat Paulus mahnende Worte
zu sagen: „Ein jeder sehe zu, wie er baut, denn vor Gott wird das
Werk eines jeden offenbar werden.“ Und er rechnet damit, dass nicht
jedes Bau-Werk vor Gottes Gericht bestehen kann. Paulus nimmt also
nicht schon den guten Willen für die Tat, wie wir es bei Kirchens
so gern tun, sondern es geht ihm darum, dass jeder bei seiner Aufgabe
sein Bestes gibt. Das heißt vor allem: dass keiner das Fundament
aus den Augen verliert und jeder darauf so gut baut, wie er kann.
Und Paulus rechnet auch damit, dass die Qualität der Arbeit hier
auf Erden nicht unbedingt zu erkennen ist: da mag etwas wie Gold
glänzen und sich dann im Feuer des Gerichts doch als Heu und Stroh
entpuppen. Ich weiß also noch nicht, ob meine Arbeit als Pfarrer
vor Gott wird bestehen können. Und Sie als Eltern und Paten wissen
auch noch nicht, ob Ihnen das mit der christlichen Erziehung so
gelingt, wie Sie es heute bei der Taufe versprochen haben. Vielleicht
müssen wir zusehen, wie ein Großteil unseres Lebenswerks vor Gott
in Flammen aufgeht. Deshalb ist es mehr als ein kleiner Trost für
mich und für uns alle, dass wir selber nicht mit unserem Werk verbrennen
werden, wie Paulus sagt. Wir selber werden Gottes Gericht überstehen,
wenn auch sozusagen mit angesengten Haaren. Denn dass wir gerettet
sind für Zeit und Ewigkeit, das ist in Jesus Christus beschlossen
und besiegelt. Das ist uns allen seit unserer Taufe gültig zugesprochen.
Das ist das Fundament, das wir nicht mehr errichten müssen. Wir
sind verantwortlich für unser Tun und Lassen. Die Verantwortung
für unser Heil und Leben hat Gott auf sich genommen, weil wir sie
nicht tragen könnten. Deshalb muss uns unsere Verantwortung keine
drückende Last sein. Im Gegenteil: sie kann ein Ansporn sein, der
uns mehr erreichen lässt, als wir uns vorher zugetraut hätten. Und
auch das sagt Paulus: Gute Arbeit bekommt von Gott auch ihre Anerkennung.
Er weiß es durchaus zu schätzen, wenn wir auf seiner Baustelle mit
Eifer bei der Sache sind.

Zum Schluss eine kleine Anekdote, die uns
über das Gesagte vielleicht noch ein wenig weiter nachdenken lässt:
Drei Arbeiter an einer Dombauhütte werden nach ihrer Tätigkeit gefragt.
Der erste sagte: „Ich schleppe Steine aufs Gerüst und mauere sie
ein.“ Der zweite sagte: „Ich verdiene hier mein Geld.“ Der dritte
sagte: „Ich baue mit am Dom.“ Drei Antworten, drei Arbeitseinstellungen.
Welche wäre wohl die unsere?

Predigt vom 15. Juni – Festgottesdienst Wenscht

ÖKUMENISCHER GOTTESDIENST
ZUM WENSCHTER
SIEDLERFEST
UND ZUM 50-JÄHRIGEN BESTEHEN
DER EV. WENSCHTKIRCHE

Sonntag, 15.6. 2008, 9.30 Uhr, Ev. Wenschtkirche
Pfr.
Dr. Martin Klein

Thema: „Auf Adlerflügeln getragen“ (Ex 19,3b-8)

Und der Herr rief Mose vom Berg her zu:
„Das sollst du dem Haus Jakob sagen und den Israeliten verkünden:
Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, wie ich euch
auf Adlerflügeln getragen und hierher zu mir gebracht habe. Jetzt
aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet
ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört
die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und
als ein heiliges Volk gehören. Das sind die Worte, die du den Israeliten
mitteilen sollst. Mose ging und rief die Ältesten des Volkes zusammen.
Er legte ihnen alles vor, was der Herr ihm aufgetragen hatte. Das
ganze Volk antwortete einstimmig und erklärte: Alles, was der Herr
gesagt hat, wollen wir tun. Mose überbrachte dem Herrn die Antwort
des Volkes.

„Auf Adlerflügeln getragen“ – das ist das
Motto, unter das wir diesen Gottesdienst gestellt haben. Ich weiß
nicht, welche Gedanken und Gefühle diese Worte bei Ihnen wecken.
Mich fasziniert es einerseits, wenn ich mir vorstelle, auf dem Rücken
eines starken Vogels durch die Lüfte zu fliegen. Denn das wäre ja
fast, als könnte ich selber fliegen, als könnte ich mich unbeschwert
hinauf schwingen, allem entkommen, was mich auf dem Erdboden niederdrückt
und bedrängt und irgendwo hinfliegen, wo ich wirklich frei und ungebunden
leben kann.

Andererseits wird mir bei dem Gedanken auch
ziemlich schwindelig. Denn ich kann ja nun mal selber nicht fliegen,
sondern höchstens von weit oben runterfallen. Ich bin also völlig
darauf angewiesen, dass auf den Adler Verlass ist, der mich trägt.
Dass er mich nicht irgendwann einfach abschüttelt, weil ich ihm
zu schwer oder zu lästig bin. Und dass er mich nicht in einen Horst
irgendwo auf einer Felsnase schleppt, sondern mich an einem Ort
absetzt, von dem ich mich auf meinen zwei Beinen auch wieder wegbewegen
kann.

Noch faszinierender und Schwindel erregender
muss diese Vorstellung zu Zeiten gewesen sein, als man noch keine
Flugzeuge und Hubschrauber kannte, als es eine Rettung von oben
aus horizontal auswegloser Lage eigentlich gar nicht gab und man
sich deshalb um so mehr danach sehnte. Unsere Mythen, Märchen und
Sagen bis hin zur Fantasy-Literatur von heute sind deshalb voll
von solchen Geschickten: Dädalus und Ikarus, die sich selber Flügel
bauen, um der Gefangenschaft zu entkommen, Nils Holgersson, der
mit den Wildgänsen fliegt, Harry Potter, den der Phönix aus der
„Kammer des Schreckens“ trägt.

Auch in 2. Mose 19 wird das Bild von den Adlerflügeln
in diesem Sinne gebraucht: Immer wieder auf dem Weg von Ägypten
zum Berg Sinai hat Gott Israel aus auswegloser Lage gerettet. Als
sie alle in der Falle saßen – vor sich das Schilfmeer und hinter
sich die ägyptischen Streitwagen, da schickte er einen Wind, der
das Meer gerade lange genug zur Seite blies, um Israel trockenen
Fußes hindurch ziehen, die nachsetzenden Ägypter aber ertrinken
zu lassen. Als sie in der Wüste am verdursten waren, ließ er sie
Wasser finden; als sie Hunger litten, ließ er Manna und Wachteln
regnen. Als Räuberhorden über sie herfielen, verhalf er ihnen zum
Sieg über sie. Nun sind sie da angekommen, wo Gott sie haben wollte:
an seinem heiligen Berg, wo er einen Bund mit ihnen schließen und
ihnen seine Gebote, seine Regeln für ein Leben in Freiheit geben
will.

Ich weiß nicht, ob sich die Menschen, die
vor fünfzig Jahren bei der Einweihung dieser Kirche dabei waren,
auch in diesem Sinne „auf Adlerflügeln getragen“ gefühlt haben.
Viele von ihnen waren ebenfalls Flüchtlinge: der Rachsucht von Polen
und Russen entronnen, die selber durch Deutsche Schlimmes erlitten
hatten. Gerettet, wenn auch unter Verlust ihrer Heimat, wenn auch
nur mit dem, was sie auf dem Leib trugen. Wieder sesshaft geworden
in einem freien Land und versorgt mit Arbeit, Brot und Wohnung,
wenn auch noch in bescheidenen Verhältnissen und oft beargwöhnt
von den Alteingesessenen. Viele von ihnen waren und sind Gott in
der Tat dankbar, dass er sie bewahrt und getragen hat in diesen
schweren Zeiten – das weiß ich aus zahlreichen Gesprächen. Und diese
Kirche, wie auch ein Jahr später das katholische Pendant, war ein
Ort, wo diese Dankbarkeit zum Ausdruck kommen konnte, wo man zusammen
mit dem neuen Zuhause auch eine neue geistliche Heimat finden und
die Gemeinschaft der Glaubenden pflegen konnte.

Doch an diesem Punkt bleibt der Predigttext
nicht stehen. Auf das „ihr habt gesehen“, auf das Bild von den „Adlerflügeln“
folgt ein „jetzt aber“. Israel bekommt für die Zukunft eine besondere
Stellung zugesprochen und damit eine besondere Aufgabe zugewiesen.
Dieses Volk, das so viel mit Gott erlebt hat, soll in besonderer
Weise sein Eigentum sein: „ein Reich von Priestern und ein heiliges
Volk“, das ganz und gar zu ihm gehört und auf seiner Seite steht.

Man kann das falsch verstehen, und gerade
hier im Siegerland gab und gibt es immer wieder Menschen, die es
falsch verstanden haben. Man kann es so auffassen, dass Israel und
in seinem Gefolge die Christenheit den Auftrag bekommt, sich abzusondern,
sich zu trennen von der „bösen Welt“. Dass sie nur im Kreis der
Eingeweihten nach innerer Heiligung streben soll, losgelöst und
unbekümmert von der Gottlosigkeit rings umher. Der Künstler Hermann
Kuhmichel, dem wir auch die eindrücklichen Sgraffiti in unserer
Kirche verdanken, hat an anderer Stelle im Wenscht einen solchen
Menschen in Bronze gegossen: den „Exklusiven“, ganz in sich gekehrt,
aber auch ganz allein – und inzwischen ziemlich zugewachsen und
vergessen.

Nein, so ist es nicht gemeint. Denn es geht
im 2. Buch Mose ja noch ein Satz voran. „Mir gehört die ganze Erde“
–  das sagt Gott zuerst, bevor er bestimmte Menschen in besonderer
Weise zu seinem Eigentum erklärt. Diese Menschen sollen also die
ganze Erde vor Gott vertreten – und umgekehrt Gottes Willen vor
der ganzen Erde. So wie es eben damals die Priester in Israel taten:
sie brachten die Opfer des Volkes und damit seine Schuld vor Gott
und Gottes vergebendes, Heil schaffendes Wort zurück zum Volk –
nicht nur für die anderen, sondern auch für sich selber. So verstanden,
sind also alle Israeliten und nach ihnen auch alle Christen Priester.
Sie gehören Gott genauso wie alle Menschen, sind also nicht heilig
im Unterschied zu irgendwelchen „Normalsterblichen“, sie haben lediglich
die besondere Aufgabe, in Wort und Tat „die Botschaft von der freien
Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“. So formuliert es evangelischerseits
die VI. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Und was
das zweite Vatikanische Konzil dreißig Jahre später über den „Apostolat
der Laien“ sagt, ist im Grunde nichts anderes.

Aber verlassen wir die Hochebene der theologischen
Erklärungen und Konzilsverlautbarungen und fragen uns dem Anlass
dieses Gottesdienstes entsprechend, was das alles denn ganz konkret
für uns hier im Wenscht bedeutet.

Erst einmal dies: Auch die ganze Wenschtsiedlung
gehört Gott: die alten Siedler und ihre jüngeren Nachkommen, die
„Ureinwohner“ und die später Gekommenen, die mit den Siegerländer
oder Wittgensteiner Wurzeln ebenso wie die mit den ostpreußischen
oder schlesischen, Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion
ebenso wie Migranten aus Kroatien, Italien oder der Türkei. Sie
alle sind Gottes Geschöpfe, sie alle sind Menschen, die er liebt.

Und zweitens das: Mitten in dieser Siedlung,
mal mehr auf dem „Hübbel“, mal mehr im Tal stehen nun seit (fast)
fünfzig Jahren zwei Kirchen, eine evangelische und eine katholische.
Ihre Aufgabe war es von Anfang an und ist es immer noch, nun auch
bewusst „Kirche mitten in der Siedlung“ zu sein. Sie sollen allen
Menschen in der Siedlung und darüber hinaus deutlich machen, wem
sie gehören und ihre ganze Existenz verdanken. Die Kirchen als Gebäude
sind dafür natürlich höchstens äußerliche Zeichen. Als solche mögen
sie wichtig, vielleicht sogar erhaltenswert sein. Aber Denkmäler
werden ja oft erst dann geschützt, wenn ihnen der Abriss droht,
weil sie keiner mehr braucht. So sollte es unseren Kirchgebäuden
nicht ergehen. Und dazu brauchen sie eine lebendige Gemeinschaft
von Menschen, die sich zu ihnen hält. „Die Kirche“, das sind nicht
nur ein paar Hauptamtliche, die als Dienstleister fungieren und
auf die man dann schimpfen kann, wenn man mit der Dienstleistung
nicht zufrieden ist, sondern das sind wir alle. Wir alle sind von
Gott in die Welt gesandt, die ihm gehört, um ihr seine Liebe zu
bezeugen. Nicht nur, indem wir ihnen sagen, dass Gott sie liebt,
sondern auch, indem wir es im täglichen Leben ganz praktisch werden
lassen. Indem wir gute Bürger und Nachbarinnen sind, denen die Nöte
ihrer Mitmenschen nicht egal sind, sondern die sich für sie einsetzen,
so gut sie können. Wenn das wieder mehr Menschen bewusst wird, wenn
wieder mehr getaufte Christen sich zu fragen beginnen, was sie denn
mit ihren Gaben tun können, um Gottes Liebe zu erwidern und sie
an ihre Nächsten weiterzugeben, dann muss uns um die Zukunft unserer
Gemeinden nicht bange sein, Dann werden wir es wieder erleben, dass
Gottes Adlerflügel uns tragen – hinaus in die Freiheit, hin zu den
Menschen, die uns brauchen, hin zu ihm selbst. Schwindlig muss uns
dabei nicht werden, denn Gott lässt und ganz bestimmt nicht fallen.
Und auf seinen Flügeln kommen wir sicher ans Ziel.

Amen.

Predigt vom 18.Mai 2008

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG TRINITATIS

Tal- und Wenschtkirche, 18.5. 2008
Pfr. Dr. Martin Klein

Text 2.Kor 13,13

Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die
Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch allen!

Mit diesem Gruß beendet der Apostel Paulus seinen zweiten Brief
an die Korinther, mit ihm endet auch der für heute vorgeschlagene
Predigttext. Und dieser Text wurde deshalb für diesen Sonntag ausgewählt,
weil er eine der wenigen Stellen im Neuen Testament ist, die Gott,
Jesus Christus und den heiligen Geist in einem Atemzug nennen. Denn
heute ist Trinitatis. Die Christenheit feiert das Fest der heiligen
Dreieinigkeit Gottes aus Vater, Sohn und heiligem Geist. Mit diesem
Tag erreicht der Festzyklus des Kirchenjahres, der sich von Advent
und Weihnachten über die Passionszeit und Ostern bis Himmelfahrt
und Pfingsten erstreckt, seinen abschließenden Höhepunkt. Nach Trinitatis
werden die Sonntage dann schlicht durchnummeriert, bis wieder ein
neues Kirchenjahr beginnt.

Aber: Wird dieses Fest wirklich noch gefeiert? Schreibt noch
jemand wunderbare Kantaten dazu mit Pauken und Trompeten, wie es
der alte Bach getan hat? Gibt es aus diesem Anlass noch irgendwo
festliche Gottesdienste, denen man das auch anmerkt? Mit Pfingsten
– inhaltlich auch nicht leicht zu vermitteln – geben wir uns ja
noch Mühe, feiern ökumenische Gottesdienste, machen Pfingstausflüge
oder laden zur „Nacht der offenen Kirchen“ ein. Aber Trinitatis?
Wie um alles in der Welt sollen wir das bloß an den Mann oder die
Frau bringen, wo doch heute immer alles anschaulich, eingängig und
erlebbar sein soll? Und wissen wir überhaupt selber noch, worum
es da geht?

Die Lehre von der Dreieinigkeit scheint für die Theologie so
etwas zu sein wie die Allgemeine Relativitätstheorie für die Physik:
eine hochabstrakte Formel, mit der es für den Normalsterblichen
zwar irgendwie seine Richtigkeit haben muss, wenn ein Genie wie
Einstein sie bewiesen hat, die aber das Fassungsvermögen unserer
schlichten Gemüter weit übersteigt. Der Unterschied zwischen Relativitätstheorie
und Trinitätslehre besteht allerdings darin, dass die Physiker heute
selbstverständlich mit Einsteins Formel arbeiten, während immer
mehr Theologen die Trinitätslehre für überholt, ja für unangemessen
halten, um Gott zu beschreiben. Dass Gott zwar eines Wesens ist,
aber in drei Personen – Vater, Sohn und Heiliger Geist – existiert,
ist für sie eine theologische Spitzfindigkeit des vierten, fünften
Jahrhunderts nach Christus, die mehr griechisch-philosophisch als
biblisch gedacht ist. Denn dort, in der Bibel, steht das so nirgends,
nicht im Neuen, und erst recht nicht im Alten Testament. Auch der
Gruß aus dem zweiten Korintherbrief oder die Taufformel aus Matthäus
28, die der Sache am nächsten kommen, stellen die drei nur nebeneinander
und sagen nichts über ihr Verhältnis zueinander. Und ein Vers im
ersten Johannesbrief, der lange als biblischer Beleg der Dreieinigkeit
galt, erwies sich später als nachträglich hineingemogelt.

Demnach scheint man sich durchaus mit dem begnügen zu können,
was heute wohl die große Mehrheit der Christen über Gott denkt und
von ihm glaubt: Wenn wir von Gott sprechen, dann meinen wir in erster
Linie den Vater im Himmel, den Schöpfer der Welt. Jesus ist für
uns vor allem Mensch, vielleicht einer, der Gott besonders nahe
war, vielleicht auch „Gottes Sohn“ oder „der Herr“. Aber schlicht
und einfach zu sagen „Jesus ist Gott“, das klänge selbst in frommen
Ohren eher fremd. Und der heilige Geist, den verstehen wir als eine
Kraft, die von Gott ausgeht, als ein Band, das die Gemeinschaft
der Christen zusammenhält, aber wie soll man sich diesen Geist als
Person vorstellen – und warum auch? Dass noch Johannes Calvin damit
einverstanden war, einen Leugner der Trinität in Genf auf den Scheiterhaufen
zu bringen, scheint uns heute unfassbar und dämpft etwas die Vorfreude
auf seinen 500. Geburtstag im nächsten Jahr.

Weil die Dinge so stehen, beginnen wir unsere Gottesdienste und
taufen wir unsere Kinder zwar immer noch „im Namen des Vaters und
des Sohnes und des Heiligen Geistes“, aber weithin sprechen wir
damit eine altehrwürdige Formel nach, die für uns längst ihren ursprünglichen
Sinn verloren hat. Dann wäre allerdings die Frage, warum wir eigentlich
immer noch daran festhalten und diesen alten Zopf nicht endlich
abschneiden. Warum sagen wir nicht einfach „im Namen Gottes“? Warum
taufen wir nicht einfach „im Namen Jesu“, wie es schon in der Apostelgeschichte
öfter heißt?

Ich denke, wir sollten das deshalb nicht tun, weil der Vergleich
mit der Relativitätstheorie noch tiefer reicht, als bisher bedacht.
Denn in der Physik verhält es sich ja so: zur Erklärung und Nutzung
der Kräfte, deren Wirken wir alltäglich erleben, reichen die klassischen
physikalischen Gesetze bestens aus. Um einen Motor zu konstruieren
oder ein Gebäude zu errichten, brauche ich kein E = mc². Aber je
tiefer man in die Geheimnisse der Natur vordringt, in die Weite
des Weltraums oder ins Innere eines Atoms, desto mehr stößt die
klassische Physik an ihre Grenzen, desto mehr entdeckt man Gesetzmäßigkeiten,
die unser Vorstellungsvermögen übersteigen, aber trotzdem richtig
und nachweisbar sind. Inzwischen rechnen die Physiker ja schon nicht
mehr nur mit vier Dimensionen wie Einstein, sondern mit neun oder
noch mehr.

Genauso, denke ich, ist es auch mit Gott: Je mehr ich über ihn
nachdenke und je tiefer ich die biblischen Aussagen über ihn, über
Jesus über den heiligen Geist durchdringen will, desto mehr Dimensionen
entdecke ich, desto mehr Verschiedenes muss ich in eins zusammendenken,
wenn ich an dem biblischen Urbekenntnis festhalten will, dass Gott
einer ist. Und wenn schon die Wunder der Schöpfung vom Atom bis
zum Weltall unsere Vorstellungskraft übersteigen, wie viel mehr
muss das dann beim Schöpfer aller Dinge der Fall sein. Als denkender
Mensch, der glaubt, kann ich nicht anders, als auch über Gott nachzudenken
und doch muss ich wie Paulus immer wieder kapitulieren und zum Lobpreis
übergehen: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit
und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte
und unerforschlich seine Wege!“

Und genau das ist der Sinn des Trinitatisfestes: Dass wir nicht
meinen, mit Weihnachten, Ostern und Pfingsten sei alles über Gott
gesagt. Dass wir nicht denken, nun hätten wir ihn begriffen, wüssten
über ihn Bescheid und könnten ihn sozusagen abspeichern auf der
großen Festplatte unseres Lebens-Computers. Denn auch das Tiefsinnigste,
was je über Gott gedacht und gesagt wurde, kratzt nur an der Oberfläche
dessen, was über ihn zu sagen wäre. Das wussten auch die Väter der
Alten Kirche, die die Lehre von der Dreieinigkeit formuliert haben.
Es war ihnen klar, dass eins nie gleich drei sein kann, und doch
fühlten sie sich gerade durch das biblische Zeugnis genötigt, es
so zu formulieren. Denn da war nun mal vom Vater, vom Sohn und vom
Heiligen Geistes als Dimensionen Gottes die Rede, manchmal, wie
in unserem Predigtvers, sogar in einem Atemzug. Also mussten sie
die drei in ein Verhältnis zueinander bringen, das trotzdem festhielt,
dass Gott einer ist. Nie haben sie gedacht, damit hätten sie’s ein
für alle Mal erfasst. Und immer wieder gehen sie vom Denken und
Formulieren in den Lobpreis über: „Ehr sei dem Vater und dem Sohn
und dem heiligen Geist, wie es war im Anfang, so auch jetzt und
immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Aber noch mal zurück zu 2. Korinther 13,13. Denn dieser Vers
war mir zwar ein willkommener Anlass, einmal grundsätzlich etwas
zum Thema Dreieinigkeit zu sagen. Aber er beschränkt sich ja nicht
darauf, Jesus Christus, Gott und den heiligen Geist nebeneinander
zu stellen. Er ordnet ihnen jeweils auch noch etwas zu: Jesus Christus
die Gnade, Gott die Liebe und dem heiligen Geist die Gemeinschaft.
Und diese drei wiederum sollen „mit uns allen“ sein. Damit bin ich
bei dem einzig zureichenden Grund, warum ich mir überhaupt über
Gott Vater, Sohn und heiligen Geist Gedanken mache. Denn als bloße
Spielerei bleibt das Nachdenken belanglos, und ich kann es mir schenken.
Anders sieht es aus, wenn ich die Gnade, die Liebe und die Gemeinschaft,
von denen hier die Rede ist, selber erfahren habe. Denn dann bin
ich durch Gottes Gnade gewiss geworden, dass er mich liebt und dass
er Gemeinschaft gestiftet hat zwischen mir und ihm, aber auch mit
allen, die mit mir an ihn glauben. Und dann will ich verstehen,
so gut ich kann, warum Gottes Liebe ihn dazu gebracht hat, Mensch
zu werden in seinem Sohn Jesus Christus. Warum seine Gnade mir nicht
anders zuteil werden konnte als dadurch, dass er selber meine Schuld
und meinen Tod auf sich nahm. Und warum Gemeinschaft mit Gott und
zwischen den Gläubigen nicht anders möglich ist als dadurch, dass
Gott als heiliger Geist zu uns kommt und bei uns einzieht. Und ich
bin überzeugt: Je mehr ich das verstehe und verinnerliche, desto
mehr bin ich bereit, auch entsprechend zu handeln: selber gnädig
zu sein, Liebe zu üben und Gemeinschaft zu leben und anzugehen gegen
Unbarmherzigkeit, Hass und Vereinzelung. Vorhin habe ich festgestellt,
dass das Nachdenken über den dreimal einen Gott immer nur im Lobpreis
enden kann. Auch Akte der Gnade, Taten der Liebe und Zeichen der
Gemeinschaft – nicht nur mit Herz und Mund, sondern auch mit Händen
– , auch die sind eine Weise des Lobpreises. Vielleicht sind sie
sogar die beste Weise.

Amen.

Predigten aus Klafeld

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG
ROGATE

mit Taufe von Finya Schmidt
Wenschtkirche,
27.4. 2008
Pfr. Dr. Martin Klein

Text: Ex 32,7-14

Der HERR sprach
aber zu Mose: „Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland
geführt hast, hat schändlich gehandelt. Sie sind schnell von dem
Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes
Kalb gemacht und haben’s angebetet und ihm geopfert und gesagt:
,Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat.’“

Und der HERR
sprach zu Mose: „Ich sehe, dass es ein halsstarriges Volk ist. Und
nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge;
dafür will ich dich zum großen Volk machen.“ Mose aber flehte vor
dem HERRN, seinem Gott, und sprach: „Ach, HERR, warum will dein
Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker
Hand aus Ägyptenland geführt hast? Warum sollen die Ägypter sagen:
Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte
im Gebirge und vertilgte sie von dem Erdboden? Kehre um von deinem
grimmigen Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein
Volk bringen willst. Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und
Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: ,Ich
will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze
Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und
sie sollen es besitzen für ewig.’“ Da gereute den HERRN das Unheil,
das er seinem Volk zugedacht hatte.

 

Wäre Gott ein
Mensch, dann könnten wir seinen Zorn gut verstehen. Da hat er mit
viel Mühe und gewaltigem Aufwand sein Volk aus Ägypten befreit:
hat zehn Plagen geschickt, um den widerspenstigen Pharao klein zu
kriegen, hat schließlich sogar erreicht, dass die Ägypter den Israeliten
noch Gold und Silber hinterher warfen, damit sie nur ja endlich
abhauten, hat dann ein ganzes Meer trockengelegt, als die Ägypter
es sich anders überlegten und den entflohenen Sklaven nachsetzten,
hat Quellen für sie sprudeln lassen in der Wüste, hat Brot und Wachteln
vom Himmel regnen lassen, hat nichts ausgelassen um ihnen seine
Macht und seine Liebe zu zeigen – und was tun sie? Kaum ist sein
Knecht Mose mal ein paar Tage weg, weil er viel mit ihm zu besprechen
hat oben auf dem Berge Sinai, da haben sie ruckzuck alles wieder
vergessen: „Mose ist weg, und diesen Gott, von dem er immer geredet
hat, den sieht man ja nie, kann ihn nicht anfassen und nicht begreifen
– vielleicht gibt es ihn gar nicht!“ Und Aaron, der Priester, Moses
Bruder, hat viel Verständnis für die Leute: Die sind nun mal keine
Intellektuellen, die rein geistig mit Gott verkehren können. Sie
brauchen einen handfesten Glauben, einen, wo man etwas sehen, spüren,
anfassen kann – heute würde man sagen: etwas mit Event-Charakter.
Und das darf dann auch ruhig was kosten. „Also, ihr Israeliten,
her mit euren goldenen Ohrringen, dann sollt ihr ihn endlich zu
sehen bekommen, den Gott, der euch aus Ägypten geführt hat!“ Bald
darauf tanzen sie alle fröhlich ums Goldene Kalb. Endlich ein Gott,
mit dem man etwas anfangen kann: der immer dann zur Verfügung steht,
wenn man ihn braucht, den man aber auch wegpacken kann, wenn er
mal im Wege ist, und der sich darüber nicht beklagt.

Wie gesagt, wäre
ich Gott, dann würde mich das auch wütend machen. „Das ist nicht
mehr mein Volk“, würde ich denken, „die können mir von jetzt an
gestohlen bleiben. Sollen Sie sich doch von ihrem goldenen Blechgott
durch die Wüste führen lassen und dabei verrecken! Ich fang dann
eben mit Mose noch mal von vorn an – so wie damals mit Noah oder
mit Abraham.“

Wenn Gott ein
Mensch wäre, dann würde ich es allerdings auch genauso machen wie
Mose. Vielleicht wäre ich für einen Moment geschmeichelt von dem
Angebot, der Stammvater eines neuen Gottesvolks zu werden. Aber
dann würde wohl doch das Mitleid mit meinen Leuten überwiegen. Und
ich würde genau wie Mose mit Menschen- und Engelszungen reden, um
Gott umzustimmen. „HERR“, würde ich sagen, „nun hast du dir doch
so viel Arbeit gemacht mit diesem Volk! Was hast du nicht alles
für sie getan! Und da willst du jetzt einfach Schluss machen – von
jetzt auf gleich? Was war denn dann die ganze Mühe wert? Und was
werden die Ägypter dazu sagen? Vor denen bist du doch in alle Ewigkeit
blamiert, wenn du jetzt nicht zu Ende bringst, was du angefangen
hast! Und denk doch daran, was du zu Abraham, Isaak und Jakob gesagt
hast: Ich mache euch zu einem großen Volk und gebe euch das Land,
wo Milch und Honig fließt. Das hast du fest versprochen, und zwar
mehrmals. Willst du denn als wortbrüchig dastehen? Also beruhige
dich, lass ab von deinem Zorn! Bleib dir treu, und deinem Volk auch!
Alles andere passt nicht zu dir!“

Und wenn ich Gott
wäre, dann müsste Mose mich gar nicht lang überreden. Schließlich
bin ich von Natur aus nachgiebig, kann niemandem lange böse sein
und will es auch gar nicht. So ernst war’s ja auch gar nicht gemeint,
was ich in der ersten Wut gesagt habe. Ich hab meine Kinder doch
lieb und würde ihnen nie wirklich etwas antun. Und bei meiner Ehre
lass ich mich auch nicht gern packen. „Na gut, Mose, du hast recht“,
würde ich also antworten. „Es tut mir leid, dass ich so wütend war!
Vergiss einfach, was ich gesagt habe!“

Aber nun ist Gott
ja Gott und kein Mensch – ewig, allmächtig und gerecht sowohl in
seinem Zorn als auch in seiner Barmherzigkeit. Trotzdem läuft die
Geschichte genau so, wie ich es gerade beschrieben habe: Gott will
zuschlagen, wutentbrannt, Mose legt sich ins Zeug für seine Leute,
und Gott gibt nach. Das ist erstaunlich, wenn nicht gar unbegreiflich.
Warum ist Gott überhaupt so enttäuscht und wütend, wenn er doch
von Ewigkeit her weiß, wie die Menschen nun mal sind? Und wenn sein
Zorn gerechtfertigt ist und sein Volk die Strafe verdient hat, warum
lässt er sich dann wieder davon abbringen? Wenn das öfter passiert,
dann nimmt ihn doch irgendwann keiner mehr ernst! Er verhält sich
ja dann wie Eltern, die ihren Kindern etwas verbieten und es ihnen
dann einfach durchgehen lassen, wenn sie es trotzdem tun. So lernen
Kinder nie, Grenzen zu akzeptieren und eine ernst gemeinte Warnung
von einer leeren Drohung zu unterscheiden. Weiß Gott das denn nicht,
wo es doch in jedem halbwegs vernünftigen Erziehungsratgeber steht?

Zum Teil beantworten
sich diese Fragen, wenn man das Kapitel in der Bibel weiter liest.
Denn dann stellt man fest, dass die Strafe für Israels Abfall zwar
abgemildert, aber keineswegs aufgehoben ist. Es wird nicht das ganze
Volk vernichtet, aber 3000 Menschen müssen sterben. Das mögen wir
Heutigen auch wieder problematisch finden: Warum gerade diese 3000,
und warum muss es gleich die Todesstrafe sein? Aber die Menschen
von damals, die uns diese Dinge überliefert haben, sahen darin keine
Schwierigkeit. Für sie hatte Gott, anders als demokratische Politiker,
durchaus das Recht, das Volk aufzulösen und sich ein anderes zu
wählen, wenn es ihm die Treue aufkündigte. Verglichen damit sind
3000 Tote immer noch schlimm, erscheinen aber trotzdem als relativ
geringes Strafmaß. Und weil alle schuldig waren, hat es auch keinen
Falschen getroffen.

Aber es gibt noch
eine andere Antwort, die für uns wichtiger ist. Und die lautet schlicht:
Gott lässt mit sich reden. Wir müssen uns ihm nicht unterwerfen
wie einem blindwütigen Schicksal oder einem himmlischen Tyrannen,
vor dem wir nur demütig im Staub kriechen können. Wenn wir überzeugt
sind, dass Gott Dinge tut oder zulässt, die nicht zu ihm passen,
dann haben wir das Recht es ihm zu sagen, zu protestieren, zu versuchen,
ihn davon abzubringen. Johannes Calvin hat unseren Text so ausgelegt,
dass Gott geradezu darauf aus ist, dass Mose ihm in den Arm fällt.
Mose soll merken, dass es nicht sein Ernst sein kann, sein Volk
zu vernichten, und er soll es ihm auch sagen. Andernfalls hätte
er diese Glaubensprüfung nicht bestanden. Da mag Calvin etwas mehr
hineingelesen haben als drin steht. Aber trotzdem hat er recht:
Wenn es stimmt, dass Gott einen Bund mit seinem Volk geschlossen
hat, dann ist er nun auch selber daran gebunden. Und darauf lässt
er sich auch festnageln.

Nun könnten wir
natürlich sagen: Ja, Mose, der große Gottesmann, mit dem Gott auf
seinem heiligen Berg von gleich zu gleich geredet hat, der durfte
das. Aber wir Normalsterblichen? Gilt nicht für uns, was Paulus
sagt: „Wer bist du denn, lieber Mensch, dass du mit Gott rechten
willst?“ Doch, das gilt, für uns wie für Mose. Gottes Ratschlüsse
werden für uns immer unerforschlich bleiben. Aber auch mit uns hat
Gott einen Bund geschlossen, der mindestens genauso unverbrüchlich
ist wie der alte Bund mit Israel. „Wenn Gott ein Mensch wäre“, habe
ich vorhin rein hypothetisch gesagt. Aber ist ja nicht nur eine
Hypothese. In und durch Christus hat Gott ja tatsächlich eine menschliche
Seite. In ihm ist er einer von uns. Und dabei bleibt es. Das hat
er jedem und jeder von uns mit der Taufe zugesagt – zuletzt der
kleinen Finya heute. Er würde wortbrüchig werden, wenn er das rückgängig
machen wollte.

Das hat Konsequenzen:
Weil Gott unwiderruflich einer von uns ist, weil er eine menschliche
Seite hat, deshalb können und dürfen wir nicht mehr klaglos akzeptieren,
dass Gott mit dem Unmenschlichen in Verbindung kommt. Wenn Gläubige,
egal welcher Religion, Unmenschliches im Namen Gottes tun, dann
dürfen wir sagen: „Herr, unser Gott, der du in Jesus Mensch geworden
bist, lass nicht zu, dass solche Verbrechen als dein Wille verkauft
werden!“ Wenn solche, die sich für fromm halten, Krankheiten, Seuchen
oder Katastrophen allzu schnell als Strafe Gottes für die Betroffenen
deuten, dann dürfen wir sagen: „Herr, der du am Kreuz Jesu unsere
Strafe auf dich genommen hast, lass nicht dazu, dass jemand sich
an deiner Statt zum Richter aufschwingt!“ Und wenn wir den Eindruck
haben, dass Gott uns selber oder unseren Lieben Unmenschliches antut
oder widerfahren lässt, dann dürfen wir sagen: „Herr, der du doch
selber gelitten hast, warum lässt du uns so leiden? Kehr um und
lass ab davon um Christi willen!“ Wenn wir so bitten, wird nicht
immer geschehen, was wir uns wünschen. Aber Gott wird uns immer
geduldig zuhören. Er wird bedenken, ob wir recht haben mit dem,
was wir sagen. Und wenn es so ist, dann wird er uns ebenso erhören
wie Mose damals, davon bin ich überzeugt. Das kann freilich auch
so aussehen, dass er uns einen Auftrag erteilt: „Es stimmt, es ist
nicht in Ordnung, was da in meinem Namen geschieht. Deshalb geh
du hin, nenn die Unmenschlichkeit laut beim Namen und setze dich
dagegen ein, so gut du kannst. Ich werde mit dir sein in allem,
was du tust.“ Auch das hat Mose erlebt, als er den Auftrag bekam,
Israel aus Ägypten zu führen. Und solche Aufträge gibt es für uns
heute genauso, im Großen und im Kleinen. Gut also, wenn auch wir
mit uns reden lassen, wenn Gott uns ruft, und danach handeln, was
er uns aufträgt. Und es sage keiner: „Ich bin doch viel zu schwach
und zu unbegabt dazu!“ Denn wie heißt es in Finyas Taufspruch: „Alle
Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“

Amen.