Predigt vom 15. Juni – Festgottesdienst Wenscht

ÖKUMENISCHER GOTTESDIENST
ZUM WENSCHTER
SIEDLERFEST
UND ZUM 50-JÄHRIGEN BESTEHEN
DER EV. WENSCHTKIRCHE

Sonntag, 15.6. 2008, 9.30 Uhr, Ev. Wenschtkirche
Pfr.
Dr. Martin Klein

Thema: „Auf Adlerflügeln getragen“ (Ex 19,3b-8)

Und der Herr rief Mose vom Berg her zu:
„Das sollst du dem Haus Jakob sagen und den Israeliten verkünden:
Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan habe, wie ich euch
auf Adlerflügeln getragen und hierher zu mir gebracht habe. Jetzt
aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet
ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört
die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und
als ein heiliges Volk gehören. Das sind die Worte, die du den Israeliten
mitteilen sollst. Mose ging und rief die Ältesten des Volkes zusammen.
Er legte ihnen alles vor, was der Herr ihm aufgetragen hatte. Das
ganze Volk antwortete einstimmig und erklärte: Alles, was der Herr
gesagt hat, wollen wir tun. Mose überbrachte dem Herrn die Antwort
des Volkes.

„Auf Adlerflügeln getragen“ – das ist das
Motto, unter das wir diesen Gottesdienst gestellt haben. Ich weiß
nicht, welche Gedanken und Gefühle diese Worte bei Ihnen wecken.
Mich fasziniert es einerseits, wenn ich mir vorstelle, auf dem Rücken
eines starken Vogels durch die Lüfte zu fliegen. Denn das wäre ja
fast, als könnte ich selber fliegen, als könnte ich mich unbeschwert
hinauf schwingen, allem entkommen, was mich auf dem Erdboden niederdrückt
und bedrängt und irgendwo hinfliegen, wo ich wirklich frei und ungebunden
leben kann.

Andererseits wird mir bei dem Gedanken auch
ziemlich schwindelig. Denn ich kann ja nun mal selber nicht fliegen,
sondern höchstens von weit oben runterfallen. Ich bin also völlig
darauf angewiesen, dass auf den Adler Verlass ist, der mich trägt.
Dass er mich nicht irgendwann einfach abschüttelt, weil ich ihm
zu schwer oder zu lästig bin. Und dass er mich nicht in einen Horst
irgendwo auf einer Felsnase schleppt, sondern mich an einem Ort
absetzt, von dem ich mich auf meinen zwei Beinen auch wieder wegbewegen
kann.

Noch faszinierender und Schwindel erregender
muss diese Vorstellung zu Zeiten gewesen sein, als man noch keine
Flugzeuge und Hubschrauber kannte, als es eine Rettung von oben
aus horizontal auswegloser Lage eigentlich gar nicht gab und man
sich deshalb um so mehr danach sehnte. Unsere Mythen, Märchen und
Sagen bis hin zur Fantasy-Literatur von heute sind deshalb voll
von solchen Geschickten: Dädalus und Ikarus, die sich selber Flügel
bauen, um der Gefangenschaft zu entkommen, Nils Holgersson, der
mit den Wildgänsen fliegt, Harry Potter, den der Phönix aus der
„Kammer des Schreckens“ trägt.

Auch in 2. Mose 19 wird das Bild von den Adlerflügeln
in diesem Sinne gebraucht: Immer wieder auf dem Weg von Ägypten
zum Berg Sinai hat Gott Israel aus auswegloser Lage gerettet. Als
sie alle in der Falle saßen – vor sich das Schilfmeer und hinter
sich die ägyptischen Streitwagen, da schickte er einen Wind, der
das Meer gerade lange genug zur Seite blies, um Israel trockenen
Fußes hindurch ziehen, die nachsetzenden Ägypter aber ertrinken
zu lassen. Als sie in der Wüste am verdursten waren, ließ er sie
Wasser finden; als sie Hunger litten, ließ er Manna und Wachteln
regnen. Als Räuberhorden über sie herfielen, verhalf er ihnen zum
Sieg über sie. Nun sind sie da angekommen, wo Gott sie haben wollte:
an seinem heiligen Berg, wo er einen Bund mit ihnen schließen und
ihnen seine Gebote, seine Regeln für ein Leben in Freiheit geben
will.

Ich weiß nicht, ob sich die Menschen, die
vor fünfzig Jahren bei der Einweihung dieser Kirche dabei waren,
auch in diesem Sinne „auf Adlerflügeln getragen“ gefühlt haben.
Viele von ihnen waren ebenfalls Flüchtlinge: der Rachsucht von Polen
und Russen entronnen, die selber durch Deutsche Schlimmes erlitten
hatten. Gerettet, wenn auch unter Verlust ihrer Heimat, wenn auch
nur mit dem, was sie auf dem Leib trugen. Wieder sesshaft geworden
in einem freien Land und versorgt mit Arbeit, Brot und Wohnung,
wenn auch noch in bescheidenen Verhältnissen und oft beargwöhnt
von den Alteingesessenen. Viele von ihnen waren und sind Gott in
der Tat dankbar, dass er sie bewahrt und getragen hat in diesen
schweren Zeiten – das weiß ich aus zahlreichen Gesprächen. Und diese
Kirche, wie auch ein Jahr später das katholische Pendant, war ein
Ort, wo diese Dankbarkeit zum Ausdruck kommen konnte, wo man zusammen
mit dem neuen Zuhause auch eine neue geistliche Heimat finden und
die Gemeinschaft der Glaubenden pflegen konnte.

Doch an diesem Punkt bleibt der Predigttext
nicht stehen. Auf das „ihr habt gesehen“, auf das Bild von den „Adlerflügeln“
folgt ein „jetzt aber“. Israel bekommt für die Zukunft eine besondere
Stellung zugesprochen und damit eine besondere Aufgabe zugewiesen.
Dieses Volk, das so viel mit Gott erlebt hat, soll in besonderer
Weise sein Eigentum sein: „ein Reich von Priestern und ein heiliges
Volk“, das ganz und gar zu ihm gehört und auf seiner Seite steht.

Man kann das falsch verstehen, und gerade
hier im Siegerland gab und gibt es immer wieder Menschen, die es
falsch verstanden haben. Man kann es so auffassen, dass Israel und
in seinem Gefolge die Christenheit den Auftrag bekommt, sich abzusondern,
sich zu trennen von der „bösen Welt“. Dass sie nur im Kreis der
Eingeweihten nach innerer Heiligung streben soll, losgelöst und
unbekümmert von der Gottlosigkeit rings umher. Der Künstler Hermann
Kuhmichel, dem wir auch die eindrücklichen Sgraffiti in unserer
Kirche verdanken, hat an anderer Stelle im Wenscht einen solchen
Menschen in Bronze gegossen: den „Exklusiven“, ganz in sich gekehrt,
aber auch ganz allein – und inzwischen ziemlich zugewachsen und
vergessen.

Nein, so ist es nicht gemeint. Denn es geht
im 2. Buch Mose ja noch ein Satz voran. „Mir gehört die ganze Erde“
–  das sagt Gott zuerst, bevor er bestimmte Menschen in besonderer
Weise zu seinem Eigentum erklärt. Diese Menschen sollen also die
ganze Erde vor Gott vertreten – und umgekehrt Gottes Willen vor
der ganzen Erde. So wie es eben damals die Priester in Israel taten:
sie brachten die Opfer des Volkes und damit seine Schuld vor Gott
und Gottes vergebendes, Heil schaffendes Wort zurück zum Volk –
nicht nur für die anderen, sondern auch für sich selber. So verstanden,
sind also alle Israeliten und nach ihnen auch alle Christen Priester.
Sie gehören Gott genauso wie alle Menschen, sind also nicht heilig
im Unterschied zu irgendwelchen „Normalsterblichen“, sie haben lediglich
die besondere Aufgabe, in Wort und Tat „die Botschaft von der freien
Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“. So formuliert es evangelischerseits
die VI. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Und was
das zweite Vatikanische Konzil dreißig Jahre später über den „Apostolat
der Laien“ sagt, ist im Grunde nichts anderes.

Aber verlassen wir die Hochebene der theologischen
Erklärungen und Konzilsverlautbarungen und fragen uns dem Anlass
dieses Gottesdienstes entsprechend, was das alles denn ganz konkret
für uns hier im Wenscht bedeutet.

Erst einmal dies: Auch die ganze Wenschtsiedlung
gehört Gott: die alten Siedler und ihre jüngeren Nachkommen, die
„Ureinwohner“ und die später Gekommenen, die mit den Siegerländer
oder Wittgensteiner Wurzeln ebenso wie die mit den ostpreußischen
oder schlesischen, Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion
ebenso wie Migranten aus Kroatien, Italien oder der Türkei. Sie
alle sind Gottes Geschöpfe, sie alle sind Menschen, die er liebt.

Und zweitens das: Mitten in dieser Siedlung,
mal mehr auf dem „Hübbel“, mal mehr im Tal stehen nun seit (fast)
fünfzig Jahren zwei Kirchen, eine evangelische und eine katholische.
Ihre Aufgabe war es von Anfang an und ist es immer noch, nun auch
bewusst „Kirche mitten in der Siedlung“ zu sein. Sie sollen allen
Menschen in der Siedlung und darüber hinaus deutlich machen, wem
sie gehören und ihre ganze Existenz verdanken. Die Kirchen als Gebäude
sind dafür natürlich höchstens äußerliche Zeichen. Als solche mögen
sie wichtig, vielleicht sogar erhaltenswert sein. Aber Denkmäler
werden ja oft erst dann geschützt, wenn ihnen der Abriss droht,
weil sie keiner mehr braucht. So sollte es unseren Kirchgebäuden
nicht ergehen. Und dazu brauchen sie eine lebendige Gemeinschaft
von Menschen, die sich zu ihnen hält. „Die Kirche“, das sind nicht
nur ein paar Hauptamtliche, die als Dienstleister fungieren und
auf die man dann schimpfen kann, wenn man mit der Dienstleistung
nicht zufrieden ist, sondern das sind wir alle. Wir alle sind von
Gott in die Welt gesandt, die ihm gehört, um ihr seine Liebe zu
bezeugen. Nicht nur, indem wir ihnen sagen, dass Gott sie liebt,
sondern auch, indem wir es im täglichen Leben ganz praktisch werden
lassen. Indem wir gute Bürger und Nachbarinnen sind, denen die Nöte
ihrer Mitmenschen nicht egal sind, sondern die sich für sie einsetzen,
so gut sie können. Wenn das wieder mehr Menschen bewusst wird, wenn
wieder mehr getaufte Christen sich zu fragen beginnen, was sie denn
mit ihren Gaben tun können, um Gottes Liebe zu erwidern und sie
an ihre Nächsten weiterzugeben, dann muss uns um die Zukunft unserer
Gemeinden nicht bange sein, Dann werden wir es wieder erleben, dass
Gottes Adlerflügel uns tragen – hinaus in die Freiheit, hin zu den
Menschen, die uns brauchen, hin zu ihm selbst. Schwindlig muss uns
dabei nicht werden, denn Gott lässt und ganz bestimmt nicht fallen.
Und auf seinen Flügeln kommen wir sicher ans Ziel.

Amen.