Auf ein Wort…

Auf ein Wort November Dezember 2014 (2)Man muss inzwischen schon auf die vierzig zugehen, um sich bewusst zu erinnern: Vor 25 Jahren, am 9. November 1989, wurde die Berliner Mauer geöffnet. Seitdem ist dieser Tag, dieses Ereignis das Symbol für das Ende der Teilung Deutschlands und Europas. Endlich „wächst zusammen, was zusammengehört“, hieß es damals, endlich waren wir Deutschen mit dem Lauf der Geschichte mal so richtig glücklich.

Wer sich allerdings mit Geschichte ein wenig auskannte und etwas nachdenklicher veranlagt war, der sagte sich schon damals: „Ausgerechnet! Ausgerechnet und schon wieder der 9. November!“ Was war hierzulande nicht schon alles an einem 9. Novem­ber passiert! 1848 erschoss ein Attentäter am 9. November den Pauls­kirchen-Abgeordneten Robert Blum – ein Fanal für das Scheitern der ersten deutschen Revolution. Auf ein Wort November Dezember 2014 (1)Am 9. November 1918 dankte Kaiser Wilhelm II. ab, und Deutschland wurde Republik – zwei Tage später endete der erste Weltkrieg mit einer überraschen­den, weil lange verschwiegenen Niederlage. Eben deshalb wählte fünf Jahre später ein gewisser Adolf Hitler den 9. November für ei­nen Putschversuch in München. Er scheiterte fürs erste, hatte aber fortan ein passendes Datum, um die „Blutzeugen der Bewegung“ zu feiern. Wieder fünfzehn Jahre später beging die SA diesen Tag auf Geheiß des „Führers“ mit einem Pog­rom gegen Deutsche jüdischen Glaubens – wieder ein drohendes Fanal für noch Schlimmeres, das folgen sollte. Ja, und dann wollte es der Zufall, dass am Abend des 9. November 1989 ein Mitglied des DDR-Politbüros, ohne recht zu wissen, was er tat, bekannt gab, dass DDR-Bürger „ab sofort“ nach West-Berlin reisen dürften. Noch am gleichen Abend war die Mauer auf. Kein anderes Da­tum symbolisiert demnach so deutlich Glück und Unglück, Ideale, Hoffnungen und Schuld der letzten zwei Jahr­hunderte deutscher Ge­schichte.

Ich habe mich immer mal wieder gefragt, ob sich in die­ser wechselvollen Geschichte irgendwo die Spur Gottes entdecken lässt – so wie es im alten Israel war, das in seiner Geschichte immer wieder Gott am Werk gesehen hat. Hat Gott gewollt, dass die ersten beiden Ver­suche misslingen, Deutschland zu einem friedlichen, demokratischen Staat zu machen, damit es beim dritten Mal, nach eingetretener Katastrophe, dann auch wirklich klappt? War die deutsche Teilung, die 1989 endete, die Strafe für die deutschen Verbrechen? Und be­deutet dann der 9. November 1989, dass Gott uns den 9. November 1938 und das, was folgte, vergeben hat? Nein, ich glaube, damit würden wir es uns zu ein­fach machen. Denn erstens sind die Deutschen nicht wie Israel Got­tes auserwähltes Volk. Und zweitens lagen Christen mit solchen Ge­schichtsdeutungen in der Regel völlig daneben. Dazu muss man sich nur mal ansehen, was deutsche Pfarrer und Theologen für un­sägliche Dinge über den 1. August 1914 oder den 30. Januar 1933 geschrieben und gepredigt haben!

Trotzdem können wir Christenmenschen in Deutschland aus unserer Geschichte etwas lernen: aus dem Schlimmen den Umgang mit Schuld und die Verantwortung dafür, dass so etwas nicht wieder ge­schieht. Und aus dem Guten Dankbarkeit dafür, dass Gott es möglich gemacht hat. Und vielleicht ist es ja doch ein kleiner Fingerzeig Gottes, dass am 9. November beides zusammenkommt. Denn immer nur die alte Schuld umzuwälzen, macht besserwisse­risch oder de­pressiv. Und immer nur auf das neue Glück zu sehen, macht welt­fremd oder überheblich.

Aber vielleicht ist es ja auch unser Problem, dass wir heute von bei­dem nichts mehr wissen wollen: weder von der Schuld von 1938 noch vom Glück von 1989. Weil „man da doch endlich mal einen Schlussstrich ziehen  muss“. Oder weil es uns ohne die „Ossis“ und mit der guten alten D-Mark doch viel besser ging. Dann sollten wir noch einmal bedenken, was wir durch „1938“ verloren haben, und zwar für immer, und was wir an­dererseits durch „1989“ gewonnen haben – an Frieden, an Freiheit und auch an Wohlstand.  Die Ge­schichte christlich zu deuten, das lassen wir, wie gesagt, besser sein. Aber die Geschichte und ihre Bedeutung für die Gegenwart zu ken­nen, das steht uns sehr wohl gut an. Denn sich zu erinnern und zu vergegen­wärtigen, was gewesen ist, das gehört zu unserem Glauben. Ver­gesslichkeit ist dagegen keine christliche Tu­gend. Wir sollten es mit Dietrich Bonhoeffer halten, denn im Gegen­satz zu ihm selber haben wir erlebt, was er zu Silvester 1944 ge­schrieben hat: „Doch willst du uns noch einmal Freude schenken / an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz, / dann woll’n wir des Vergange­nen gedenken, / und dann gehört dir unser Leben ganz.“ Vielleicht denken wir in der Flut der Gedenktage auch mal daran!

Es grüßt Sie herzlich
Ihr Pastor Klein