Predigt für den Karfreitag

GOTTESDIENST FÜR DEN KARFREITAG

Wenschtkirche, 10.4. 2009
Pfr.
Dr. Martin Klein
Text: Joh 19,16-30

Sie nahmen
nun Jesus, und er trug sein Kreuz und ging hinaus zur Stätte, die
da heißt Schädelstätte, auf Hebräisch Golgatha. Dort kreuzigten
sie ihn und mit ihm zwei andere zu beiden Seiten, Jesus aber in
der Mitte. Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf
das Kreuz; und es war geschrieben: „Jesus von Nazareth, der König
der Juden.“ Diese Aufschrift lasen viele Juden, denn die Stätte,
wo Jesus gekreuzigt wurde, war nahe bei der Stadt. Und es war geschrieben
in hebräischer, lateinischer und griechischer Spreche. Da sprachen
die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: „Schreib nicht: Der König
der Juden, sondern, dass er gesagt hat: Ich bin der König der Juden.“
Pilatus antwortete: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“

Als aber die
Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten
vier Teile, für jeden Soldaten einen Teil, dazu auch das Gewand.
Das war aber ungenäht, von oben an gewebt in einem Stück. Da sprachen
sie untereinander: „Lasst uns das nicht zerteilen, sondern darum
losen, wem es gehören soll.“ So sollte die Schrift erfüllt werden,
die sagt: »Sie haben meine Kleider unter sich geteilt und haben
über mein Gewand das Los geworfen.« Das taten die Soldaten.

Es standen
aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter, seiner Mutter Schwester, Maria,
die Frau des Klopas, und Maria von Magdala. Als nun Jesus seine
Mutter sah und bei ihr den Jünger, den er lieb hatte, spricht er
zu seiner Mutter: „Frau, siehe, das ist dein Sohn!“ Danach spricht
er zu dem Jünger: „Siehe, das ist deine Mutter!“ Und von der Stunde
an nahm sie der Jünger zu sich.

Danach, als
Jesus wusste, dass schon alles vollbracht war, spricht er, damit
die Schrift erfüllt würde: „Mich dürstet.“ Da stand ein Gefäß voll
Essig. Sie aber füllten einen Schwamm mit Essig und steckten ihn
auf ein Ysoprohr und hielten es ihm an den Mund. Als nun Jesus den
Essig genommen hatte, sprach er: „Es ist vollbracht!“ und neigte
das Haupt und verschied.

Ich muss gestehen:
Ich habe mich lange Zeit darüber geärgert, wie das Johannesevangelium
von der Kreuzigung Jesu berichtet. Die anderen Evangelien, vor allem
Markus, schienen mir mit ihrer Darstellung des Geschehens viel näher
an der Wirklichkeit zu sein: Jesus, der auf dem Weg nach Golgatha
unter seinem Kreuzbalken zusammenbricht, von Misshandlungen geschwächt.
Jesus, der zwischen Himmel und Erde hängt und von allen verlassen
ist: von den Gaffern und Spöttern sowieso, aber auch von seinen
Leidensgenossen links und rechts, von seinen Freunden, die sich
alle verkrochen haben, und sogar von seinem Vater im Himmel. Jesus,
dessen letzter Laut auf Erden kein wohlgesetztes Psalmwort ist,
sondern ein wortloser Schrei. – Ja, so kann ich ihn mir vorstellen,
den grausamen Tod des Jesus von Nazareth.

Bei Johannes dagegen
verliert Jesus fast alle menschlichen Züge. Hier trägt er sein Kreuz
selbst bis zur Hinrichtungsstätte. Hier muss Jesus keinen Spott
und keine groben Späße auf seine Kosten erdulden. Stattdessen bleibt
er bis zum Schluss Herr des Geschehens: Er trifft noch eine letztwillige
Verfügung für seine Mutter und den Jünger, den er lieb hat. Er sagt
nicht etwa „Mich dürstet“, weil er Durst hat, sondern nur, „damit
die Schrift erfüllt wird“. Seine letzten Worte sind nicht „Mein
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ sondern: „Es ist
vollbracht“, Auftrag ausgeführt. Und er stirbt auch nicht einfach,
sondern „neigt sein Haupt und übergibt seinen Geist“, wie es wörtlich
heißt. Hier ist der Tod also ein bewusster Akt, mit dem Jesus sein
irdisches Leben zurück in Gottes Hände legt. Eine Liedstrophe, die
Johann Sebastian Bach in seine Johannes-Passion aufgenommen hat,
fasst das gut zusammen und macht es uns allen zum Vorbild: „Er nahm
alles wohl in Acht / in der letzten Stunde: / seine Mutter noch
bedacht, / setzt ihr ein’ Vormunde. / O Mensch, mache Richtigkeit,
/ Gott und Menschen liebe. / Stirb darauf ohn’ alles Leid / und
dich nicht betrübe.“ Als Ideal für die christliche Hospizbewegung
geht das vielleicht in Ordnung. Aber kann ein brutal gequälter Gekreuzigter
so in den Tod gehen? So souverän und unangefochten, scheinbar „ohn’
alles Leid“? Wohl kaum!

Inzwischen allerdings
denke ich anders über das Johannesevangeliums. Zwar glaube ich immer
noch, dass eine Video-Aufnahme der Kreuzigung Jesu uns ein völlig
anderes Geschehen zeigen würde, wenn es sie denn gäbe. Aber der
Wahrheit hinter dem, was da geschieht, würde uns eine solche Aufnahme
nicht näher bringen. Wir wissen ja heute, wo aus jedem Krieg und
von jeder Katastrophe live berichtet wird, wie wenig man den Kamera-Bildern
trauen darf. Wie hätten sie da die Wahrheit eines Geschehens erfassen
können, das nach christlicher Überzeugung Gott und die Welt umspannt.
Wenn also die Kreuzigung Jesu tatsächlich mehr war als nur die Hinrichtung
eines potentiellen Aufrührers – eine von vielen in der Amtszeit
des Pontius Pilatus – dann erfahren wir es eher in den Evangelien
als durch so genannte unabhängige Zeugen, selbst wenn wir sie hätten.

Und inzwischen
ist mir auch deutlicher geworden, dass Johannes sich höchstens graduell
von den anderen Evangelien unterscheidet. Auch sie berichten nicht
objektiv über den Tod Jesu, sondern deuten ihn im Sinne ihres Glaubens.
Johannes konnte dabei noch einen Schritt weiter gehen, weil seine
Leser die anderen Evangelien wohl schon kannten. Und erst recht
wussten sie, anders als wir, aus eigener Anschauung, wie es zuging
bei einer Kreuzigung. Die Römer sorgten schon dafür, dass jeder
mit ansehen konnte, was ihm blühte, wenn er sich gegen ihre Herrschaft
auflehnte. Die kurze Bemerkung „und sie kreuzigten ihn“ reichte
den Lesern des Evangeliums also völlig, um die ganze Grausamkeit
der Szenerie vor Augen zu haben: die gleichgültige Brutalität der
Henkersknechte, die Nägel, die sie durch Hand- und Fußwurzeln schlugen,
die entwürdigende Zurschaustellung, die nackten, verkrümmten Körper,
schutzlos der Hitze oder Kälte ausgeliefert, die entsetzlichen Qualen,
die sich über Tage hinziehen konnten, bevor die Gekreuzigten endlich
an völliger Entkräftung krepierten. Wenn Jesus gekreuzigt worden
war, dann war es auch ihm so und nicht anders ergangen – das wusste
in den ersten drei Jahrhunderten jeder Christ zwischen Atlantik
und Euphrat.

Trotzdem ist der
Evangelist überzeugt: hinter diesem brutalen Geschehen lief etwas
ganz Anderes ab, ja sogar etwas völlig Entgegengesetztes. Anscheinend
machten die Römer mit Jesus, was sie wollten, aber in Wahrheit war
er selber der Handelnde, der am Ende sagen konnte: „Es ist vollbracht!“
Anscheinend bekamen die Hohenpriester, die Jesus verklagten, ihren
Willen, aber in Wahrheit erfüllte sich hier der Wille Gottes, das,
wozu Jesus überhaupt in die Welt gekommen war. Hier starb kein Verbrecher,
der sich den Titel „Körnig der Juden“ nur angemaßt hatte, sondern
gerade indem er starb, erwies sich Jesus tatsächlich als der König
der Juden, der Messias Israels. Seine Dornenkrone wurde zum Siegeskranz,
seine tiefste Niedrigkeit zur Verherrlichung, sein Tod zum ewigen
Leben für alle, die an ihn glauben.

Und darauf kommt
es nun an: dass wir das glauben können, was Johannes uns sagt. Dass
wir den Karfreitag noch feiern, macht nur Sinn, wenn er für uns
nicht nur der Todestag des Menschen Jesus von Nazareth ist. Es macht
nur Sinn, wenn wir glauben, dass Gott den Tod Jesu mit gestorben
ist, um die Macht des Todes ein- für allemal zu brechen. Denn wenn
Menschen sterben, hat der Tod gewonnen – egal ob sie jung oder alt
sind, egal, ob sie ihren letzten Atemzug in weißen Kissen tun oder
in Dreck und Blut nach einem Bombenangriff. Wenn aber Gott stirbt,
und zwar nicht, weil die Menschen ihn für tot erklären, sondern
weil er die Menschen so sehr liebt, dass er sein Leben für sie lässt,
dann geht das nicht für Gott böse aus, sondern für den Tod – und
für alle, die sein Geschäft betreiben. Nichts anderes ist die Überzeugung
des Johannesevangeliums: als Jesus starb, starb Gott mit ihm, denn
er und der Vater sind eins.

Diese Sätze sind
für uns nur schwer auszuhalten. Denn wir sind es ja gewohnt, Gott
für unsterblich zu halten. Gott und der Tod – das geht für uns nicht
zusammen. Aber wir glauben auch, und daran liegt uns sehr viel,
dass Gott die Liebe ist. Und ich denke, wir geben Johannes Recht,
wenn er Jesus zu seinen Jüngern sagen lässt: „Niemand hat größere
Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ Das
gilt schon unter Menschen, und es gilt erst recht für Gott. Wir
sind Gottes Freunde: er will, dass wir auf ewig zu ihm gehören.
Und wenn der Tod, der uns dabei im Weg steht, nicht anders zu besiegen
ist, als dass er ihn selber auf sich nimmt, dann geht er diesen
Weg, wird in Jesus Christus Mensch und akzeptiert die Folgen, bis
„alles vollbracht“ ist. Es liegt schon ein Stück Ostern in diesem
letzten Wort Jesu am Kreuz, eine Siegesbotschaft mitten in der tiefsten
Niederlage. Menschlich gesehen ist das absurd, aber wenn es wirklich
der Sohn Gottes ist, der hier „es ist vollbracht“ sagt, dann ist
das wahrer als alles, was wir sonst über den Tod Jesu wissen könnten.

Dass es so ist,
kann ich Ihnen natürlich weder aufzwingen noch andemonstrieren.
Ich kann nur sagen, dass für mich die Realität des Todes in dieser
Welt unerträglich bliebe, wenn es nicht so wäre. Ich müsste sonst
verzweifeln darüber, dass Kinder vor ihren Eltern sterben, dass
Menschen durch Unfälle oder Krankheiten mitten aus dem Leben gerissen
werden. Ich müsste verzweifeln darüber, dass immer noch so viele
Menschen verhungern, obwohl es eigentlich Nahrung genug für alle
gibt. Ich müsste verzweifeln über die Despoten, die ihre Herrschaft
auf Tod und Schrecken gründen, aber auch über gewählte Regierungen,
die für Freiheit und Demokratie über Leichen gehen. Ich müsste verzweifeln
über alle, die bereit sind, das Lebensecht irgendeines Menschen
angeblich höheren Interessen zu opfern. Und ich müsste auch verzweifeln
an meinem Beruf, der mich immer wieder an Sterbebetten und Gräber
führt. Was hätte ich da noch zu sagen, wenn der Tod über uns das
letzte Wort behielte? Was würde es bringen, bei Trauerfeiern an
all die unvollendeten Lebensläufe zu erinnern, wenn nicht einer
für uns vollbracht hätte, was wir selbst nicht zu Ende bringen können?
Für uns führt kein Weg aus dem Tod, es sei denn wir begegnen dort
dem Gott, der in Jesus Christus für uns gestorben ist.

Zum Schluss gebe
ich das Wort noch einmal Johann Sebastian Bach bzw. seinem Textdichter
August Picander. Denn die beiden haben für mein Empfinden die Johannes-Passion
besser verstanden als viele gelehrte Theologen vor und nach ihnen.
Auf die Worte „und neiget das Haupt und verschied“ folgt dort eine
Bass-Arie mit folgendem Text: „Mein teurer Heiland, lass dich fragen,
/ da du nunmehr ans Kreuz geschlagen / und selbst gesagt: Es ist
vollbracht: / Bin ich vom Sterben frei gemacht? / Kann ich durch
deine Pein und Sterben / das Himmelreich ererben? Ist aller Welt
Erlösung da? / Du kannst vor Schmerzen zwar nichts sagen, / doch
neigest du das Haupt / und sprichst stillschweigend: Ja.“ Und der
Chor singt dazu den Choralvers: „Jesu, der du warest tot, / lebest
nun ohn’ Ende. / In der letzten Todesnot nirgend mich hinwende /
als zu dir, der mich versühnt, / o du lieber Herre! / Gib mir nur,
was du verdient, / mehr ich nicht begehre!“ Dass er es auch uns
geben möge, das wünsche ich uns allen.

Amen.