Missionar auf Zeit –
2 –
MaZ in Indien – Newsletter
4
Liebe Interessenten!
Habe mich doch entschlossen, die Pause nicht
ganz so lang werden zu lassen, denn gerade in der Anfangszeit bin
ich mit vielen Eindruecken konfrontiert, die ich euch nicht vorenthalten
möchte, um euch möglichst aktiv an dieser Reise zu beteiligen! Schreibe
die Newsletter inzwischen auf meinem Laptop vor, d.h. ich kann mir
also verteilt auf mehrere Tage ganz viel Zeit und Ruhe dafür nehmen
– immer wieder nutze ich die Pausen, um neue Informationen hinzuzufügen.
Ich weiss, dass bei vielen von euch der Alltagsstress den Tag bestimmt
und einige gar nicht dazu kommen werden, alles zu lesen. Ausserdem
erscheint für mich manche Kleinigkeit oder Banalität hier sehr bedeutsam,
während manche von euch wahrscheinlich darüber lächeln werden. Umso
mehr gebe ich mir Mühe, detailliert meine Sicht zu schildern, um
euch auch an meinen Erfahrungsprozessen teilhaben zu lassen. Hier
also Newsletter Nummer 4!
INHALT
- FUSSBALL – Begeisterung schlägt hohe
Wellen – bis nach Indien!
- Neues aus Nesakkaram
- Erziehung auf indisch – und ein fünf-Dollar-Witz
- Hübsch oder hässlich, harmlos oder giftig
– die Fauna in Chennai City
- Nachtrag: Besuch des Fischerdorfes und
der Ureinwohner am 8.6.
- Einige interessante Fakten zu Indien
- Bilder!
- Und zum Nachtisch: Indische Erotik
"FUSSBALL – Begeisterung schlägt Wellen
– bis nach Indien!"
Indiens beliebteste Sportart ist Kricket,
aber die Fussball-WM in Deutschland sorgt auch hier für Begeisterung
und manch einer denkt an die Zeit zurück, als Indien fussballerisch
in Asien richtig gut war, bevor die FIFA Fussballschuhe zur Pflicht
machte, denn die Inder spielten lieber barfuss. Momentan steht Indien
glaube ich auf dem 134. Platz der Weltrangliste. Oft werde ich auf
der Strasse auf Fussball angesprochen: Als ich mich z.B. in einem
Laden nach einer indischen SIM-Karte für mein Handy erkundigte,
kam erst die Frage nach meiner Herkunft, und dann die Bemerkung:
"World Cup! Yeah!"Ich habe bisher keine indische Zeitung
gesehen, die nicht über die aktuellen Fussballspiele berichtet,
und im Fernsehen überträgt ein indischer Sender jedes Spiel live.
Von Gästen des Hauses habe ich erfahren, dass sich in manchen indischen
Städten wohl sogar Fussball-Fangruppen vor Fernsehern versammeln
und mit Begeisterung die Atmosphäre geniessen. Vor allem das Eröffnungsspiel
der Deutschen wurde hochgelobt (ich erinnere mich an eine Schlagzeile:
"No Ballack, no problem"), die Eröffnungsfeier dagegen
war nicht so nach dem Geschmack der indischen Journalisten, ein
Kritiker bezeichnete die Feier als eine misslungene Karnevalsveranstaltung.
Der bekannteste deutsche Spieler ist Ballack. Deutschland wird als
Favorit hoch gehandelt, ansonsten sind viele Inder aber eher Brasilien
zugeneigt, fast jeden Tag ist irgendwo in einer Zeitung ein Bild
von Ronaldinho zu sehen.Auch im Hause Nesakkaram herrscht ein bisschen
WM-Atmosphäre: Father Jesu ist sehr interessiert, wir unterhalten
uns oft über Fussball. Abends sitzen wir teilweise zu zehnt, also
Father Jesu, einige von den Jungs und ich vor dem Fernseher und
verfolgen gespannt das Spiel. Blöd nur die Zeitverschiebung: Beim
Spiel der Deutschen gegen Polen musste ich von 0:30 Uhr bis 2:30
Uhr ausharren, natürlich war ich allein vor dem Fernseher, aber
das Warten hat sich ja gelohnt!
Im Gespräch mit Coordinator Nathan im Büro
kamen wir dann auf die Idee: Ja warum denn die Begeisterung nicht
nutzen und den Jungs zeigen wie’s geht? Zehn Minuten später hatte
ich eine Pfeife in der Hand und wenige Tage später – nach Absprache
mit Father Jesu – stand ich Freitag vor einer Woche auf dem Kricket-Sportplatz,
um mich herum ca. 16 Jungs von Nesakkaram zwischen 12 und 18 Jahre
alt. Unter den neugierigen Blicken der Kricket-Spieler verwandelte
sich das Sportgelände in einen Fussball-Trainingsplatz und ich feierte
meine Premiere als Fussballtrainer. Am Anfang wollte ich es nicht
übertreiben, also standen eine Dreiviertelstunde lang übungen wie
Ballkontrolle oder Schusstraining auf dem Programm, und die letzte
Viertelstunde durften sich die Jungs dann in einem ersten Match
messen. Abgesehen von einigen disziplinarischen Problemen (einmal
musste ich äusserst laut werden, als einige Jungs meinten sie könnten
quasi demokratisch über das von mir bereits gepfiffene Tor abstimmen)
hat es richtig Spass gemacht.
Vergangenen Freitag fand dann das zweite Training
statt, und trotz sprachlicher Hürden konnte ich doch erfolgreich
vermitteln, wie Freilaufen und Zuspiel im Zweierteam funktioniert.
Leider hatten wir wieder nur einen Ball zur Verfügung – nächstes
Mall sollen es sechs werden, ich hoffe das klappt – und die Jungs
hatten teilweise schon nach zehn Minuten keine Lust mehr auf Übungen
und wollten einfach spielen. Die Disziplin liess mehr und mehr nach,
und als zunehmend meine Anweisungen statt ausgeführt laut diskutiert
wurden, musste ich nach der zweiten Verwarnung das Training abbrechen
mit dem Hinweis "Keine Disziplin – kein Fussball!" Fast
alle waren äusserst verdutzt, als ich mit dem Ball in der Hand schnellen
Schrittes den Platz verließ. Im Haus dann später waren die Reaktionen
unterschiedlich: Einige trauten sich nicht mehr in meine Nähe, andere
kamen grinsend auf mich zu, streckten mir die Hand entgegen und
entschuldigten sich. Bei vielen konnte ich mir nun Respekt verschaffen.
Insgesamt kann man das Training also nicht als misslungen betrachten
– stattdessen haben Spieler und Trainer viel dazu gelernt, und zwar
nicht nur in Sachen Fussball! Ich bin überzeugt: Das nächste Training
wird besser! Bleibt zum Schluss nur noch zu sagen: Da wir alle gemeinsam
die Daumen drücken werden, MUSS Deutschland einfach gewinnen.
"Neues aus Nesakkaram"
Seit ca. einer Woche wird laut gehämmert in
Nesakkaram: Der hintere Teil des Gebäudes, als Anbau zu bezeichnen,
wird im Moment abgerissen. Im Erdgeschoss befanden sich die Räume
der Mädchen und im ersten Stockwerk Küche und Esszimmer. Die Mädchen
schlafen nun auch oben vor meiner Tür, die älteren Jungs sind auf
die Dachterasse umgezogen. Gegessen wird nun im Fernsehzimmer (der
Fernseher läuft nun dauernd während der Essenszeit, beim Fussball
lass ich mir das natürlich gefallen…), die Küche ist nun im ehemaligen
Vorratsraum untergebracht. Dafür, dass die Arbeiter nur jeweils
einen Hammer zur Verfügung haben, mit dem sie auf Wände und die
Decken einschlagen, geht der Abriss erstaunlich schnell voran. Maschinen
besitzen sie keine, wie ich in Erfahrung brachte, es würden höchstens
mal Bulldozer eingesetzt, aber die kommen ja nicht hinter das Haus.
Der ganze Schutt wird von Frauen und Männern in Schüsseln geschaufelt
und auf dem Kopf balancierend zur Strasse und zum Lastwagen gebracht,
eine Schubkarre habe ich bisher keine gesehen.
Mittwochabend hat mich dann doch eine erste
Krankheit erwischt: Eine wunderschöne Halsentzündung mit Schluckbeschwerden
und was sonst dazugehöhrt. Einen Coordinator hatte es ebenso erwischt,
genauso eine der Aufpasserinnen der Kinder. Wie ich erfuhr, ist
die Krankheit zu dieser Zeit in Indien nicht unüblich, na denn,
auch in dieser Sache scheine ich mich also schon anzupassen… Dank
einer Salzwasser-Gurgel-Kur und einem "Urlaubstag" am
Donnerstag, den ich zum grössten Teil mit
meinem Laptop im Bett verbracht habe, ist jetzt am Sonntag, während
ich dies hier schreibe, kaum mehr was von der Krankheit zu spüren
und ich fühle mich wieder annähernd topfit!
Vergangenen Samstag veranstaltete Nesakkaram
in einem der Cluster in Egmore eine grosse Show auf einem Schulgelände.
Alle Kinder aus den Slums aus diesem Cluster waren eingeladen –
um die 300 Kinder – und bekamen ein buntes Programm dargeboten:
Verschiedene Taenze der Tanzgruppen aus den Clustern (auch das ist
Teil der Arbeit von Nesakkaram: Tanzunterricht fuer die Kinder aus
den Slums) und ein Puppenspiel, das die Organisators und Coordinators
zusammen erarbeitet hatten. Zum Schluss bekamen alle Kinder Süssigkeiten
und die
gesponserten Notizbücher für die Schule geschenkt.
Das bunte Fest sollte hauptsächlich der Motivation der Kinder dienen,
zur Schule zu gehen und sich die Möglichkeit zu schaffen, aus den
Slums herauszukommen. Einige Schulabgänger wurden geehrt, sowohl
Presse als auch lokales Fernsehen waren vor Ort. Noch am selben
Abend haben wir den Bericht gesehen – grausam schlechte Kamerabilder
und der Schnitt ebenso schlecht, das war nicht nur meine Meinung.
Der Grund: Der Sender sei ein freier Sender und qualitativ eben
nicht so gut… Einen von zwei Zeitungsberichten habe ich gelesen:
Aus meiner Sicht guter Journalismus, wenn auch nicht gerade unbedingt
sehr spannend erzählt.In meinen Augen war die Veranstaltung wenig
kindgerecht, die Kinder, die meisten im Grundschulalter, mussten
die ganze Zeit unter den strengen Blicken der Organisator und Educator
auf dem Boden ausharren und dem Puppenspiel ebenso lauschen wie
der langen Rede eines Gastes. Es gab also keinerlei Spiel oder Aktion
oder eine Möglichkeit für die Kinder, sich zu bewegen oder aktiv
zu beteiligen. Die Erwachsenen schliesslich waren alle dermassen
überzeugt von der in ihren Augen gelungenen Aktion, sodass ich mich
mit meiner Meinung gänzlich zurückgehalten habe. Kinder in Indien
ist sowieso ein Thema für sich – mehr dazu im nächsten Kapitel.
"Erziehung auf indisch – und ein fünf-Dollar-Witz"
Die vergangenen Wochen bin ich fast jeden
Tag mit dem Bus in eines der Slumgebiete zu dem Schulgebäude gefahren,
vor dem der abendliche Unterricht stattfindet. Teilweise war ich
sehr verärgert, da die beiden jungen Studenten (vor dieser Schule
werden die Kinder aus insgesamt zwei Slums unterrichtet, deshalb
auch zwei Educators) erst sehr spät kamen und ich mit der zunehmend
grossen Kinderschar allein fertig werden musste, insgesamt dürften
es so um die 60 Kinder aus beiden Slums sein. Einmal wartete ich
von 16 Uhr bis um ca. 17:45 Uhr, bis ich dann plötzlich einen der
Educator bei einigen Kindern sitzen sah. Er hatte mich noch nicht
mal begrüsst, keine Ahnung seit wann er da sass, er meinte er hätte
noch einen Freund getroffen und ausserdem habe es einen grossen
Stau gegeben. Dann sagte er es sei ja schon spät und ich könnte
ja jetzt nach Hause fahren. Okay!
Es gestaltet sich als schwierig für mich,
mich so in den Unterricht einzubringen, dass ich meine eigenen hohen Erwartungen erfüllen kann. Wer
mich näher kennt der weiss, dass ich keine halben Sachen mag und in manchen Dingen schnell
einen perfektionistischen Drang entwickele. Hier musste ich jetzt schnell feststellen,
dass mich genau das nur unzufrieden macht, deshalb schraube ich inzwischen viele Erwartungen
zurück und lass mich einfach nur überraschen – vieles läuft nun sehr viel angenehmer. Schon vor
meiner Abreise wusste ich, dass genau dieser Prozess eintreten würde, und doch musste ich
natürlich hier erst einmal anecken… Der Unterricht selbst läuft ungefähr so ab:
Ab frühestens 16 Uhr geht der Educator in den Slum, trommelt die Kinder zusammen und spricht auch
mit einigen Eltern. Jedes Slumgebiet hat einen Treffpunkt, wo dieser Unterricht stattfindet.
Nach und nach trudeln die Kinder ein, manche mit einem Buch unter den Arm, andere halten eine
Flasche mit Wasser in der Hand. Dann versucht der Educator nach und nach Ordnung in die
Kinderschar zu bringen, was sich im Freien – keine Raumbegrenzung, keine Tische oder Stühle,
keine Tafel, einfach ein sandiger Platz voller Kinder.. – schon mal als sehr schwierig erweist. Der
Unterricht, den ich bisher beobachten konnte, bestand meistens aus einer Mischung aus Hausaufgabenhilfe
und einem kleinen Vortrag des Educator, z.B. ueber Buddhismus. Ich habe
mich bisher hauptsächlich damit beschäftigt, bis zum Eintreffen der Educators für ein bisschen
Ruhe zu sorgen, manchen mit Englisch weiterzuhelfen oder mich mit einigen Kindern zu unterhalten
und neue tamilische Wörter zu lernen, die nicht in meinem Tamil-Kauderwelschbuch zu finden sind. Die meisten Kinder sind einfach nur superlieb
und neugierig, unglaublich fröhlich und begrüssen mich oft sehr stürmisch mit den Worten "Hello,
Sir! Good Morning, Sir! (Evening kennen viele noch nicht…) How are you, Sir?" Viele
haben noch nie einen Hellhäutigen gesehen. Einmal, als ich im Gespräch vertieft auf dem Boden sass,
spürte ich eine kleine Hand an meinem Arm und konnte dann beobachten, wie ein kleines Maedchen
mit grossen Augen staunend meinen Arm betastete und mit den Fingern meine Adern
nachzeichnete. Umso schlimmer sehen mit meinen Augen betrachtet
die Erziehungsmethoden sowohl in Nesakkaram als auch draußen in den Areas aus.
Die Erwachsenen pflegen fast durchgängig einen sehr robusten Umgang mit den Kindern.
Kleinere Klapse sind an der Tagesordnung, aber auch kräftigere Schläge auf den Kopf oder
Rücken sind durchaus üblich, einer der Educator nimmt sich auch gern schon mal einen Stock
zur Hilfe. Ältere Kinder kennen das nicht anders und gehen dann genauso mit Schlägen und Stöcken
auf jüngere Geschwister oder Schüler los, wenn die nicht ruhig sind. Eine meiner Missionen
vor Ankunft des Educator bestand dann darin, immer wieder die Stöcke einzusammeln, zu zerkleinern
und wegzuwerfen, sehr zum Staunen der Kinder, die auch irgendwann zu begreifen schienen,
was ich ihnen klarmachen wollte. Nachdem heute (Montag) wieder der Educator einen Stock zur
Hilfe nahm, und zwar einen sehr grossen, habe ich es nicht mehr mit ansehen können und mich
von der Klasse entfernt – ich war kurz davor, ihm den Stock zu entreissen und ihn zu fragen ob es
ihm Spass machen würde Kinder zu schlagen, wollte ihn aber nicht vor seiner Klasse bloss stellen.
Leider ist er direkt nach dem Unterricht mit einigen Kindern in den Slum zurück gekehrt, sodass
ich meine drängenden Fragen an ihn erst später loswerden kann.Wenn bei uns Kinder weinen, ist oft schnell
Hektik und Sorge angesagt, doch da es hier nur so von Kindern überall wimmelt, weint ständig
irgendwo ein Kind und es scheint auch keinen sonderlich zu interessieren. Die Mädchen machen
eigentlich selten Probleme, die Jungs dagegen sind dauernd in irgendwelche Rangeleien
oder spielerische Kämpfe verwickelt, übrigens gilt dasselbe für die Kinder in Nesakkaram.
Manch einer der Jungen legt auch eine erstaunliche Hartnäckigkeit an den Tag, die
ich in dieser Form bisher nur in Indien erlebt habe: So war ein Junge aus einem Area z.B. in der
Lage, zehn andere Jungs um sich zu scharen, um dann pausenlos auf mich einzureden und mit
immer demselben Witz und leichten Variationen (irgendwie ging es darum, dass er spielerisch
andere Kinder an mich verkaufen wollte und dafür fünf Dollar verlangte) die anderen Jungen
bei Laune zu halten. Fünf Minuten machte es mir Spass, zehn Minuten konnte ich es ertragen
und mit schiefem Lächeln weiter mitspielen, aber dann war meine Geduld doch am Ende. Nur mit
viel Kreativität gelang es mir schliesslich, diese Truppe noch möglichst sanft aufzulösen. Am
nächsten Tag versuchte derselbe Junge es wieder, und wieder standen nur Sekunden nach seiner
Ankunft zehn Jungs grinsend um mich herum und in ihre Gesichter stand die Frage geschrieben
"Wie das Spiel wohl diesmal ausgehen wird?" Es war schnell vorbei: Ich griff auf dem Boden
nach Sand und Steinen, drückte sie in die Hand des Jungen, die wieder nach den altbekannten fünf
Dollar verlangte, und bemerkte: "Now you are a rich man!" Das Gelächter der zehn Jungen
half, dem fünf-Dollar-Witz endlich ein Ende zu bereiten. Ich glaube dieser Junge würde ein
guter Rikscha-Fahrer in Touristengebieten – mit seiner Hartnäckigkeit könnte er wahrscheinlich
gut Geld verdienen. Ich musste an meine erste Indien-Tour mit meiner älteren Schwester denken,
als ein Rikscha-Fahrer mehr als eine Stunde neben uns ausharrte (oder waren es zwei Stunden?),
um mit allen möglichen Tricks an seine Provision vom Hotel zu kommen, die wir nicht
zahlen wollten.Weder die Erziehungsmethoden noch das zuletzt
geschilderte Verhalten des Jungen möchte ich verurteilen. Ich kann auch nichts dazu sagen,
wie die Erziehung in den Familien und in der Schule aussieht, da ich hier noch keinen Einblick
hatte, obwohl ich z.B. von einem Coordinator erfahren habe, dass einige Lehrer in bestimmten Schulen
durchaus die Kinder schlagen. Aber trotzdem möchte ich euch auch diese Seite der Kinder
und allgemein der Erziehung aus meiner Perspektive geschildert nicht vorenthalten
– gehört sie doch zum vollständigen Bild mit dazu!
"Hübsch oder hässlich, harmlos oder giftig
– die Fauna in Chennai City"
Ich erinnere mich an viele Reaktionen zu Hause,
als ich erzählte dass ich nach Indien gehen: "Igitt! Da gibt es doch ganz viele eklige und gefährliche
Tiere!" Deshalb hier nun einiges zur Tierwelt: Inzwischen hatte ich mit einigen tierischen
Bewohnern in Nesakkaram Kontakt: Am nervigsten von allen und eben nicht ungefährlich sind
die Moskitos, sie sind immer da, auch wenn man sie erst bemerkt, wenn sie schon längst zugestochen
haben. Manche Arten können z.B. Dengue-Fieber (Viruserkrankung) oder Malaria
(verursacht durch einzellige Parasiten, die die roten Blutkörperchen zerstören) übertragen,
deshalb versuche ich immer Stiche zu vermeiden, aber einen 100%igen Schutz gibt es nicht.
Moskitos haben äesserst gute Sinnesorgane: Sie können Menschen anhand des steigenden Kohlendioxidgehalts
in der Luft auf 16 Meter Entfernung aufspüren, ausserdem werden sie
vom Fussgeruch des Menschen angelockt. Nur die Weibchen der Stechmücken saugen Blut, Schwellung
und Juckreiz des Stiches werden durch den in die Wunde injizierten Speichel der
Mücke verursacht. Dann krabbeln im Haus überall Ameisen herum, die grössten Exemplare, ähnlich
unserer Waldameise, sind harmlos, dagegen ist der Biss der kleinsten Sorte (ungefaehr
nur 2 Millimeter gross) umso schmerzhafter, einmal hatte ich mich auf einem Tisch aufgestützt,
auf dem einige dieser kaum wahrzunehmenden Ameisen herumliefen – ca. 15 Minuten brannte
meine Hand als ob ich auf eine heisse Herdplatte gepackt haette… Einige recht grosse Käfer
habe ich auch schon gesehen, einen Hundertfüssler, dann einige Spinnen, aber nur ganz kleine.
Die Kakerlaken sind im Haus nur im Keller zu finden, wobei mich eines nachts eine im Zimmer besuchte,
sie war wohl über die Palme durch mein Fenster gekommen. Wollte gerade ins Bett gehen,
als sie vor meinen Füssen herkrabbelte, ein schönes grosses ausgewachsenes Exemplar, zusammen
mit den langen Fühlern hatte sie ungefaehr die Länge einer Hand. Mit Hilfe
einer entzweigesägten Plastik-Colaflasche konnte ich sie schliesslich in die Falle locken und nach
draussen befördern. Kakerlaken bzw. Schaben stechen und beissen zwar nicht, es ist auch
bisher wohl nicht sicher erwiesen, ob sie Krankheiten übertragen können, trotzdem wollte ich nicht
unbedingt so einen Untermieter haben. Ehrlich gesagt weicht bei dieser Sorte auch mein biologisches
Interesse einem leichten Anflug von Ekel…Geschlossene Fenster und Glasscheiben in den
Häusern sind in Indien äusserst unüblich, deshalb kommen auch grössere Tiere zu Besuch
wie z.B. die Katzen, die sich hauptsächlich zur Essenszeit zwischen den Gitterstäben hindurchquetschen,
am Tisch einfinden und dann maunzend um Futter betteln. Eine Katzenmutter
habe ich jetzt häufiger mit ihrem ein Monat alten Jungen gesehen, die beiden streunen meistens
im Büro herum, wo sie sich sicher fühlen. Vier Junge hatte sie zur Welt gebracht, wie mir
Brother Joy berichtete (im Gegensatz zu Father Jesu mag er Katzen, weshalb die auch oft in seinem
Zimmer Unterschlupf finden), doch zwei sind gestorben und eins hat sie aufgefressen, nun
ist nur das eine übrig. Auch Geckos laufen schon mal im Haus herum, einmal krabbelte im grossen
Raum einer an der Wand entlang, als die Kinder abends gerade Hausaufgaben machten.
Mit Hilfe einiger Jungs, einem Besen und einem Eimer haben wir den Gecko eingefangen und
draussen freigelassen, der kleine Kerl war nach der Jagd ganz am Ende… Zum Spass habe ich
im Beisein einiger Kinder die Hand zum Mund geführt (das indische Zeichen für Essen) und
mir den Bauch gerieben, seitdem glauben immer noch manche, wir in Deutschland würden Geckos
essen (das gepflegtes Pils dazu nicht zu vergessen)… Draussen begegnen einem dann hauptsächlich
Hunde, massenweise Krähen und viele Greifvoegel, die in grosser Höhe ihre Kreise
ziehen. Und natürlich die heiligen Kühe, die oft mitten auf der Strasse stehen oder sich inmitten
von Müllbergen von Speiseresten ernähren. Auch Skorpione soll es im Stadtgebiet geben, und
zwar wohl die schwarzgefärbte Gattung mit einem besonders starken Gift, das unter Umständen
für den Menschen tödlich sein kann. Als ich mich danach erkundigte, erklärte Brother Joy wie
immer grinsend, dass die Skorpione auch schon mal in den Garten des Hauses kaemen, um dort nach
Insekten zu jagen, wenn auch selten. Ich beschloss spontan, den Garten zu meiden. Skorpione
sind aber – dies zur Beruhigung – erstens nachtaktiv und zweitens sehr scheu, einen
Menschen greifen sie nur an, wenn sie sich bedroht fühlen.
"Nachtrag: Besuch des Fischerdorfes und
der Ureinwohner am 8.6."
Die Bilder sind ja bereits online, die meisten
mit Beschriftungen, sodass ich nur wenig nachtragen muss: Das Fischerdorf, das durch den Tsunami fast
komplett zerstört wurde, heisst Kattupallikuppam. Nesakkaram hilft auch hier den Kindern, indem
eine Abendschule angeboten wird. Die rund 60 Wohnhäuser, die im Moment aufgebaut werden,
werden mit Hilfe einer anderen indischen Organisation finanziert. Nesakkaram hilft
aber vielleicht bei der Errichtung eines Versammlungshauses – danach wurde zumindest
Father Jesu beim Besuch angesprochen, er muss noch auf die Genehmigung der Gelder warten.
Die Bootstour war einfach klasse: Wir sind mit einem Fischerboot aufs Meer hinausgefahren
und konnten anderen Fischern bei ihrer Arbeit zusehen. Auf einem Bild bin ich mit Father
Jesu zu sehen, auf dem anderen stehe ich inmitten der Fischer, neben mir der zustaendige Nesakkaram-Coordinator
Visuvanathan. Auch der Besuch des Ureinwohner-Dorfes am
selben Tag war äusserst interessant. Keiner kümmerte sich um die am Stadtrand in ärmlichsten
Hütten lebenden Familien, bis Father Jesu auf sie stiess. Mit Finanzmitteln der Missionszentrale
der Franziskaner sollen für die Familien ganz in der Nähe der Hütten rund 20 neue Steinhäuser
errichtet werden. Der Besuch diente vor allem dazu, die Aufteilung auf die Häuser vorzunehmen
– keine einfache Sache, es wurde lange und auch schon mal lauter diskutiert. Das Thema Ureinwohner in Indien wird oft unter
den Teppich gekehrt, heute leben grob geschätzt rund 70 Mio. der "Adivasi"
aufgeteilt in ca. 450 Stammesgruppen in Indien. Indien ist gross, deshalb gab es zwischen den Hindus
und den Adivasi wohl selten Streit, doch gerade im Laufe der neueren Geschichte sind viele Ureinwohner
enteignet oder ausgebeutet worden, und nicht selten leugnet das die Regierung.
"Einige interessante Fakten zu Indien"
Fläche: 3,2
Mio. km² (BRD: 357.000 km²) Einwohner: 1,07 Milliarden
=> das sind ca. 16% der gesamten Weltbevoelkerung! (BRD: 82 Mio.)
– Stadt / Land: 28% / 72%
(BRD: 88% / 12%) – Tamil Nadu: 62,11 Mio.
(Bundesstaat, Hauptstadt ist Chennai) – Chennai (Madras): 6,4
Mio. (viertgrösste Stadt Indiens) – Mumbai (Bombay): 16 Mio.
(grösste Stadt Indiens, BRD: Berlin: 3,4 Mio.)
Wachstumsrate: 1,44% (BRD:
0,02%) Alphabetisierung: 56% (BRD:
99%)
Religionen:
- Hindus: 82%
- Muslime: 12%
- Christen: 2,3%
- Sikhs: 2%
- Buddhisten: 0,7%
- Dschainisten: 0,4%
- andere 0,6%
Sprachen: 24, die von mdst.
1 Mio. Menschen gesprochen werden + weitere Sprachen und Dialekte
Gesetzl. Mdst.lohn: 54,28
Rupien pro Tag (= ca. 1 EURO)
- rund ein Drittel der indischen
Bevöelkerung hat zum Überleben weniger als 1 US$ am Tag, vor allem die ländliche
Bevölkerung ist betroffen
- demgegenüber stehen rund 61.000
Millionäre (in US$)
Kinderarbeiter: 80-115 Mio.
schätzen Menschenrechtsorganisationen, obwohl Kinderarbeit gesetzlich verboten ist. Höchste Rate weltweit!
- Branchen: Landwirtschaft,
Lumpensammeln, Haushaltshilfe, Teppichweberei, Ziegelei, Prostitution, Zigarettenherstellung,
Produktion von Feuerwerkskörpern, Seidenindustrie
Prostituierte: ca. 10 Millionen,
davon geschätzt 20% unter 18 Jahre
- Kinderprostitution ist ein grosses
Problem in Indien, es herrscht ein reger "Handelsverkehr"
zwischen den benachbarten
Ländern und Indien. Oft ist es so, dass sich die Frauen in finanzielle Abhängigkeit
zu ihren Kunden begeben; die Männer bezahlen die Wohnung und das Essen und nehmen
dafür die Dienste der Frau in Anspruch. Oft haben die Prostituierten Kinder,
die Mädchen werden dann sehr schnell an die Kunden und an die Prostitution herangeführt.
Männliche Touristen, die sich in Indien an Kindern vergehen, stammen in den meisten
Fällen aus den USA und – aus Deutschland.
AIDS: 2005
rund 5,1 Mio. registrierte HIV-Positive, nur Südafrika hat mehr
im Weltvergleich
Filmindustrie: Indiens Filmindustrie
ist noch vor Hollywood die grösste der Welt, Bollywood bezeichnet dabei nur die Produktionen aus
Mumbai (Bombay, deswegen auch statt dem ’H’ ein ’B’) und Kolkata (Kalkutta), die Filme aus
Chennai haben mit Bollywood nichts zu tun
"Bilder!"
Wer die Bilder noch nicht gesehen hat, sollte
das unbedingt nachholen! Sie sind zu finden in der Galerie der Gemeindehomepage. Habe mir viel
Muehe gemacht und fast jedes Bild beschriftet, jetzt hoffe ich noch auf entspechende Zugriffszahlen!
"Und zum Nachtisch: Indische Erotik"
Man könnte sagen eine Schönheit aus der Heimat
brachte mich durch eine Bemerkung auf die Idee, noch ein paar Dinge zum Thema "Küssen
verboten" und Frauen in Indien zu schreiben: Mann und Frau gehen, auch wenn sie verheiratet
sind, in der Öffentlichkeit eher auf Abstand. Händchenhalten ist nicht üblich, schon gar
nicht Arm in Arm. Küsse zwischen Liebenden in der Öffentlichkeit sind eigentlich völlig tabu.
Wenn in einem indischen Film geküsst wird, dann sieht man jeweils nur die Hinterköpfe. Man könnte
also sagen dass Sex im engsten Sinne in der indischen Öffentlichkeit nicht vorkommt. Genauso gehört dazu, dass nackte Haut zu zeigen
in Indien äusserst verpönt ist (insbesondere bei Frauen, Männer dürfen schon mal mehr
zeigen). Männer tragen meistens lange Hosen und dazu ein Hemd, Frauen den Sari, der sehr geschickt
die weiblichen Kurven verhüllt und kaum Haut ans Licht lässt. Ist für uns kaum vorstellbar,
leben wir doch in einer Welt, in der hautenge Jeans, tiefe Ausschnitte und Striptease-Shows
zum Alltag gehören. Nackte Haut zu zeigen ist nicht verboten,
man könnte also durchaus als Touristin den Versuch starten, im Bikini am Strand herumzulaufen,
doch zu empfehlen ist das nicht. Ich kann nicht vorhersagen, was dann passieren würde, aber
ich könnte mir gut vorstellen, dass sich die Frauen wahrscheinlich sehr aufregen und weiter am
Bild der "billigen weissen Frau" basteln würden, während die Männer ihre Augen nicht von der
halbnackten Frau lassen könnten und diese wohl auch nach einer Weile durchaus bedrängen würden.
Natürlich können die Inder auch Filme aus dem Westen sehen, und das ist auch der Grund,
dass sich leider in mehr und mehr Köpfen das Bild festsetzt, weisse Frauen seien billig
und für alles zu haben (in welchem Film wird schliesslich nicht geküsst oder nach zehn Minuten schon
im Bett "gekuschelt"…). Dies führt vermehrt in den grossen Städten Indiens dazu, dass Frauen
aus Europa oder den USA von indischen Männern bedrängt werden. Mein Reiseführer ist deshalb
auch nicht gerade sparsam mit Tipps für weibliche Touristen. Als noch freizügiger
gelten in Indien übrigens die Afrikaner.Natürlich ist in Sachen nackter Haut auch
in Indien Bewegung, gerade in den Grossstädten: In den Medien, besonders im Internet, im TV und
in Magazinen fallen mehr und mehr die Hüllen bzw. gelangen "Aussichten" aus dem Westen
nach Indien, auch das Thema Sexualitaet an sich ist nicht mehr absolutes Tabuthema. Gleichzeitig
werden natürlich die Fundamentalisten immer lauter mit ihren Beschwerden: Erst gestern
(Mittwoch) wurde in den TV-Nachrichten berichtet, dass sich einige über die Schuluniform der
Mädchen beschwert haben: Der Rock, der einige Zentimeter über das Knie reichte, sei ihnen
nicht lang genug. Während übrigens die Anzahl der Liebesheiraten gegenüber den sonst üblichen
arrangierten Ehen ansteigt, steigt auch in den grossen Städten nach und nach die Zahl der
Scheidungen.Das Thema ist natürlich viel komplexer als
ich hier in den paar Zeilen beschreiben kann, aber vielleicht konnte ich ein paar Ansätze liefern,
und jeder möge sich seine eigene Meinung darüber bilden. So sehr man versucht ist, vieles als
überholt oder anti-freiheitlich einzuordnen, kann man dieser Lebensweise aber auch viele positive
Aspekte abgewinnen – das ist zumindest mein Eindruck im Moment. Gerade in Indien prallt
ja in krasser Weise langbewährte Tradition auf moderne Einflüsse, umso interessanter finde
ich es die Reaktionen und Folgen zu beobachten.
Viele herzliche Gruesse aus Indien,
Dominic
Datum: 01.07.2006, Autor: Dominic Winkel
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