Missionar auf Zeit – 3 –


Missionar auf Zeit   –
3 –

MaZ in Indien – Newsletter 5

Liebe Interessenten!

Jetzt ist inzwischen schon mehr als die Hälfte
meiner Zeit hier um – ich kann das wahrscheinlich noch viel weniger glauben als ihr. Viel ist
passiert, so viel, dass ich nicht mal annähernd auf alles im Detail eingehen kann. Zeit für Langeweile
bleibt mir hier nicht, darum warten leider auch noch einige in der Heimat auf von mir ausstehende
persönliche Anworten. Hier bitte ich um Verständnis, dass es alles etwas länger dauert.
Ich spüre die Tendenz, dass ich mich auch hier in Stresssituationen hineinbegebe, die ich eigentlich
vermeiden wollte, da ich sie zu Hause zu Genüge erlebt habe. Das versuche ich im Moment
zu verhindern mit der Folge, dass viele Dinge warten müssen. Wer die Newsletter aufmerksam
liest, wird wahrscheinlich merken, dass eine erste Begeisterung und Euphorie inzwischen
einer gewissen Nachdenklichkeit gewichen ist. Das soll nicht heißen, dass ich meinen Spaß und
meine Fröhlichkeit hier verloren habe, ganz im Gegenteil. Ich kenne die Kinder und die Erwachsenen
nun inzwischen recht gut, ich weiß alle ihre Namen und wir haben umso mehr viele tolle
Momente. Doch bezogen auf gewisse Themen kommt man dann doch schon mal sehr ins Grübeln,
mehr dazu im weiteren Verlauf dieses Newsletters.

Der auch diesmal wieder voller Informationen
ist, ich habe ihn deswegen wieder in Kapitel eingeteilt. Viel Spaß beim Lesen, Reaktionen
sind natürlich immer willkommen, auch wenn ich nicht auf jede E-Mail sofort antworte, so
lese ich sie doch alle!

INHALT

  • Neues aus Nesakkaram
  • Fußball – es geht weiter!
  • Nesakkaram Soccer Shield
  • Wie ist eigentlich das Wetter?
  • Kinder schlagen – zweiter Teil
  • Applaus durch die Muschel
  • Vorschau
  • Neues aus Nesakkaram"

In Nesakkaram hat sich einiges verändert.
Der Anbau ist inzwischen komplett abgerissen, das Fundament für die neuen Räume steht. Darüber
bin ich ganz froh, denn so manche Lastwagen mit Füllmaterial kamen mitten in der Nacht
an und entleerten sich äußerst geräuschvoll, und da meine Fenster genau zur Straße ausgerichtet
sind, wurde ich mehrmals unsanft aus meinen Träumen gerissen.

Die 15jährige Angelie besucht nun eine Berufsschule,
dafür konnten wir (leider muss man natürlich sagen) zwei Neuankömmlinge begrüßen.
Die ca. 9jährige Priyanka wurde von ihrer Mutter bei uns abgegeben, die Mutter arbeitet
in einer Firma als Köchin, dort werden keine Kinder geduldet und sie hat sonst nirgends
Platz und Zeit für ihre Tochter. Nach vielen Abenden voller Tränen ist Priyanka inzwischen gut
integriert und fröhlich, dank ihrer neuen "Schwestern",
die sich liebevoll um sie kümmern. Die andere
Neue, Priya, ist schon 19 Jahre alt, sie wurde direkt im Büro als Telefonistin eingespannt.
Sie soll bald woanders unterkommen, da sie bereits volljährig ist, doch im Moment wohnt sie noch
bei uns. Auch ihre Geschichte ist traurig: Es fing damit an, dass vor ein paar Jahren der Vater
mit einer anderen Frau durchbrannte, die dafür ebenfalls ihre Familie im Stich ließ. Die
Mutter war nun allein mit drei Kindern zu Hause. Nicht lange danach lief Priyas kleine Schwester,
15 Jahre alt, mit einem älteren Mann davon, angeblich auf freien Willen, um ihn zu heiraten. Und
zur Krönung ließ schließlich die Mutter die beiden verbliebenen Kinder einfach zurück und verschwand
mit einem anderen Mann, der ebenso eine Familie hatte. Priyas Bruder kam bei Verwandtschaft
unter, Priya selbst ist nun bei uns, eine äußerst sympathische junge Inderin. Wir verstehen
uns super, sie hat mich inzwischen zum "großen Bruder" ernannt (manchmal
bin ich auch der kleine Bruder, oder der verrückte Bruder aus Deutschland, je nach Situation…) und
will mit meiner Hilfe unbedingt mehr Englisch lernen. Somit ergeben sich, könnt ihr euch sicherlich
vorstellen, viele äußerst amüsante Konversationen…Zwischenzeitlich wurden auch zwei Jungen am
Egmore-Bahnhof aufgegriffen. Gottseidank waren sie nicht aufgrund schwerwiegender Probleme
weggelaufen, innerhalb weniger Tage konnten sien zurück in ihre Familie. Gerade die Neuankömmlinge
haben mir natürlich Anlass gegeben, auch mehr von den Geschichten der anderen Kinder
zu erfahren. Die meisten wurden wie die beiden Neuen bei Nesakkaram von einem Elternteil
oder der Verwandtschaft abgegeben, einige wenige sind Ausreißerkinder, deren Herkunft entweder
nicht bekannt ist oder deren Integration in eine Familie bisher nicht erfolgreich war. Der
vielleicht 12jährige Alex gehört zur letzteren Gruppe. Er wurde am Egmore-Bahnhof gefunden. Er behauptet
seit mehreren Jahren, keine Familie mehr zu haben. Noch vor meiner Ankunft hier wurde
aber wohl, so berichtete mir Father Joy, in einer Zeitung eine Suchanzeige mit einem Bild von
einem Jungen veröffentlicht, der Alex sehr ähnlich sah. Die Suchanzeige war von dem Vater aufgegeben
worden. Der Name des Jungen war zwar nicht Alex, doch Father Joy vermutet, dass
Alex sich seinen neuen Namen ausgedacht hat. Father Joy hat ihn mal bei seinem vermutlicherweise
alten Namen gerufen – und er hat reagiert. Seine Begründung: Oh ja, ein Teil seiner Verwandtschaft
habe ihn früher bei diesem Namen gerufen. Da bisher nicht klar ist, warum Alex weggelaufen
ist, warten die Pater noch ab, bevor sie den vermeintlichen Vater kontaktieren.

Auch beim Personal hat sich etwas verändert.
Einer der Coordinators, der jüngste, nur wenige Jahre älter als ich, arbeitet nicht mehr für
Nesakkaram, diese Stelle ist nun seit ca. vier Wochen vakant. Als die Pater davon Wind bekamen,
dass der Angestellte Ideen, Material und sogar Personal von Nesakkaram für andere Zwecke
missbraucht, ist der Mann untergetaucht, inklusive einer Mitarbeiterin, die wohl in die kriminellen
Geschäfte stark involviert gewesen ist. So wie ich erfuhr, hat sich der Angestellte, mit dem
ich mich übrigens sehr gut verstanden und oft unterhalten habe, zu sehr von einem Freund aus der kriminellen
Szene beeinflussen lassen. Nesakkaram will keine Polizei einschalten. Ich glaube bis
jetzt hat keine Unterredung stattgefunden, obwohl der Flüchtige wohl inzwischen mehrmals gesichtet
wurde. Im Moment arbeiten also zwei Coordinators für drei, was jüngst einige Umstrukturierungen
zur Folge hatte, die mich aber gar nicht oder nur am Rande berühren.

Doch auch für mich speziell hat sich etwas
verändert: Ich bin ein Stockwerk tiefer umgezogen und wohne nun im Gästezimmer direkt neben dem
Fernsehraum, also auf einer Etage mit Father Jesu und Father Joy. Mein Zimmer wurde zur
Quarantäne-Zone erklärt, einige Kinder haben Fieber, und um die anderen Kinder vor Ansteckung
zu bewahren und gleichzeitig mich nicht unnötig zu gefährden, wohnen die Kranken in
meinem alten Zimmer und ich bin jetzt etwas auf Distanz zur "Virusquelle". Wir alle
wissen, wie schnell ein Virus in einer Familie die Runde macht,
auch die Nesakkaram-Familie bleibt in größerem
Maße davon nicht verschont, besonders dann, wenn auch noch Moskitos bei der Verbreitung
Unterstützung leisten. Ich bin also seit der letzten Woche doppelt vorsichtig, trinke und esse
umso mehr, trage nur lange Kleidung plus Socken (bei der Hitze und Schwüle natürlich nicht gerade
angenehm…) und halte ausgedehnte Mittagsschläfchen – bisher mit Erfolg!

"Fußball – es geht weiter!"

Doch kommen wir endlich zu etwas Erfreulichem!
Inzwischen habe ich in die Begeisterung für den Fußball etwas Struktur reinbringen können.
Offizieller Startpunkt war ein Treffen für alle Jungs ab 14 Jahren, in dem ich die Regeln für die Mannschaft
erklärt (z.B. Teilnahme am Training, Disziplin, Einsatz, …) und jeden gefragt
habe, ob er mitmachen möchte. Alle 14 Jungs ließen sich nicht lange bitten. Dann wurden ein Kapitän
und zwei Stellvertreter gewählt. Als Übergang habe ich es dann so gelöst, dass jeden Dienstag
offenes Training für alle stattgefunden hat und freitags nur für die älteren. Seit letzten Dienstag
sind beide Tage nur für die Mannschaft reserviert, da wir in wenigen Wochen ein erstes Spiel gegen ein
Schulteam bestreiten wollen. Für diesen Zweck habe ich dann auch eine Theoriestunde eingeführt,
seit zwei Wochen erkläre ich montags an der Tafel die verschiedenen Positionen und Taktiken.Inzwischen haben wir acht Fußbälle, einer
davon ist neu. Zwei gingen im Laufe von einigen Wochen kaputt, doch mein Vater hat mir zwei
neue Straßenfußbälle geschickt. Um Teams zu markieren habe ich breite rote und gelbe Haarbänder
gekauft, die man sich umhängen kann. Gerade am Anfang war die Begeisterung natürlich
groß, doch inzwischen merken die Jungs, wie ernst die Sache wird und es gibt erste Rückzieher.
Bin mal gespannt, wie viele bis zum ersten Spiel durchhalten… Auf der anderen Seite
macht es aber unheimlich Spaß, den Talenten zuzusehen, von denen es einige gibt und die
sich durch ein erstaunliches Ballgefühl auszeichnen, obwohl sie bis vor meiner Ankunft hier nie
oder nur sehr selten mal Fußball gespielt haben. Die Trainingseinheiten sind zwar sowohl für
die Jungs, die ich immer mehr rannehme, als auch für mich anstrengend, doch es ist ein tolles Gefühl,
auf dieser sportlichen Schiene den Jungen etwas vermitteln zu können und mit ihnen gemeinsam
an etwas zu arbeiten. Bis letzten Dienstag habe ich mir die Übungen alle selbst ausgedacht
oder versucht im Gedächtnis zu kramen, was aus meiner Zeit als Fußballspieler beim TSV Siegen
vor fast zwei Jahrzehnten noch hängen geblieben ist. Doch mit den zwei Fußbällen
hat mir mein Vater (der sicherlich einigen im Siegerland noch als Trainer von u.a. Grün-Weiß
Siegen, Klafeld oder zuletzt dem Projekt "INTERKURS" bekannt ist) auch einige
Lehrbücher mitgeschickt, die mir nochmal frischen Auftrieb gegeben haben. Als ich damals beim
TSV Siegen den "Profi-"Fußball zugunsten anderer Aktivitäten wie der Musik aufgegeben
habe, hätte ich mir wohl nie träumen lassen, dass mich meine Vergangenheit mal in dieser Weise
in diesem fernen Land einholen wird!

Die Trainingseinheiten laufen sehr unterschiedlich,
mal sind die Jungs äußerst aufmerksam und wissbegierig, dann aber auch mal wieder sehr
streitsüchtig und undiszipliniert, sodass ich inzwischen schon drei rote Karten verteilen
musste. Rote Karte im Training bedeutet ab nach Hause und später ein klärendes Gespräch mit
dem Trainer. Beim letzten Streit flog sogar eine Faust Richtung Gesicht, was gar nicht schön
war. Entsprechend deutlich waren auch – mit Hilfe von Father Joy als Übersetzer – meine Worte,
letztendlich habe ich aber beiden Streithähnen eine zweite Chance gegeben, bevor sie aus der Mannschaft
fliegen. Als Trainingsplatz nutzen wir den öffentlichen Sportplatz neben dem Tennisstadion
ganz bei uns in der Nähe, in dem übrigens internationale Turniere stattfinden (an sich
eine schöne Tatsache, aber die andere Seite der Geschichte: Für den Bau des Stadions ging
mehr als die Hälfte des öffentlichen Sportplatzes für die Kinder verloren. Während sich also nun
im Stadion und auf den anliegenden Plätzen die wenigen Kinder der reichen Familien vergnügen,
treten sich auf dem Sportplatz die vielen anderen Kinder gegenseitig auf die Füße).
Es ist nicht immer leicht, für das Training ausreichend Platz auf dem Feld zu finden, oft müssen die
Fußballer um die über den ganzen Platz verteilten Fänger der Kricket-Mannschaften herumdribbeln,
doch irgendwie geht es. Tore haben wir natürlich keine, wir begnügen uns mit Steinen
oder anderen Markierungen. Leider ist an sich der Untergrund sehr schlecht, seitdem ich trainiere
ist die Verletzungsrate der Jungen mit Schnitten oder Schürfwunden in die Höhe geschnellt,
doch inzwischen sinkt die Rate wieder, ich hoffe aufgrund der durch das Training verbesserten
Koordination…

Eine Trainingseinheit war besonders witzig:
Drei Männer tauchten plötzlich auf, einer davon mit einer miniDV(digital Video)-Kamera ausgestattet.
Einer der Männer kam auf mich zu, fragte ob er mal kurz mit mir sprechen könne. Also schickte
ich die Jungs zum Warmlaufen und redete mit dem jungen Mann, der sich als Filmregisseur
entpuppte. Vor dem Drehbeginn für einen indischen Film über eine Fußball-Geschichte wollte er
sich noch ein paar Anregungen holen. Jeder kann sich vorstellen, mit welchem Eifer die Jungs
an diesem Tag trainiert haben mit einer Kamera im Nacken! Leider habe ich den Kontakt zum Filmteam
verloren und auch keine näheren Infos eingeholt, sonst hätte ich natürlich jemanden
darauf ansetzen können, den Film abzuwarten und zu schauen, ob nicht einige meiner Übungen
in einem "Collywood"-Film (Collywood steht für die Filme aus Chennai in Anlehnung an Bollywood
für die Filme in Mumbai (früher Bombay)) verewigt wurden!

"Nesakkaram Soccer Shield"

Letzten Monat gab es bereits einen Fußball-Höhepunkt
und ein erstes größeres Projekt für mich: NESAKKARAM SOCCER SHIELD nannte sich das Turnier,
in dem alle Kinder und auch über 10 vom Personal involviert waren. Nachdem gerade
Nathan vom Personal immer wieder gefragt hatte, wann sie denn auch mal spielen könnten,
bin ich zu Father Jesu und habe nach Erlaubnis gefragt, ein Fußballturnier für Nesakkaram
zu organisieren. Father Jesu war begeistert und hat mir alle Freiheiten gelassen, mich darum zu
kümmern. Also stellte ich Mannschaften zusammen und kreierte Spielpläne, außerdem versuchte
ich einen geeigneten Platz für einen Samstagmorgen zu finden.
Die Organisation war gar nicht so einfach,
stellten sich doch mehrere Hindernisse in den Weg. So wollten natürlich alle Kinder aller Altersklassen
mitspielen, plus die 10 Angestellten, insgesamt waren rund 50 Spieler beteiligt. Also entschied
ich mich, die älteren Jungs und das Personal mit vier Mannschaften in einem Turnier, die jüngeren
Kinder in einem zweiten Turnier mit drei Mannschaften spielen zu lassen. Das alles
musste an einem halben Tag passieren, also blieb mir nichts anderes übrig, als das Ligaprinzip
(Punkte und Torverhältnis) zu nehmen und die Spieldauer auf 15 bzw. 7 Minuten festzulegen.
Das zweite Hindernis bestand darin, mit den ganzen Zweifeln und der Kritik der Spieler
richtig umzugehen. Die Jungs kritisierten vor allem die Mannschaften und jeder meinte in die schwächste
Mannschaft gesteckt worden zu sein. Zwei "Sportler" vom Personal waren aufgrund
der kurzen Spieldauer enttäuscht und mäkelten an meinem Ligaprinzip herum. Eine weitere Hürde
war der Zeitpunkt des Turniers. Erst ware nachmittags angedacht, doch aufgrund der Hitze
hätten wir dann erst gegen 16 Uhr starten können. Also schlug ich morgens ab 8 Uhr vor,
doch die beiden Pater meinten dann würde die Hälfte des Personals erst zwei Stunden später
erscheinen, 8 Uhr sei zu früh. Ich musste viele Diskussionen führen, die mich teilweise ziemlich
nervten. Doch nachdem ich meinen Unmut über diese sinnlosen Diskussionen zum Ausdruck
gebracht hatte und die Zeit mit den Angestellten diskutiert worden war, schien 8 Uhr dann plötzlich
doch in Ordnung zu sein. Die nächste Hürde war der richtige Sportplatz. Aus dem Bus heraus
hatte ich einige Plätze gesehen, auch die Angestellten konnte mir Vorschläge machen.
Allerdings war ich irgendwann kurz davor, einen kleinen (deutschen) Wutanfall zu bekommen,
denn irgendwie war keiner der Pater und Angestellten in der Lage, mir Verantwortliche
für die jeweiligen Plätze zu nennen oder mir Telefonnummern zu besorgen, das bedeutete
im Endeffekt war keiner der Vorschläge wirklich hilfreich. Doch da kamen mir meine "Landsfrauen
und Landsmänner" zur Hilfe: Eine kleine Gruppe aus Deutschland hatte in Chennai eine
Woche Programm inklusive eines Besuchs bei Nesakkaram. Über Father Jesu erfuhren die
Deutschen von mir und luden mich ein, an ihrem Programm teilzunehmen. Also hörte ich mir
mit ihnen einen Vortrag über das indische Schulsystem an und besuchte mit ihnen ein
großes Gelände mit Schulen, Ausbildungszentren etc. von den Schwestern von Good Shepherd.  Auf
diesem Gelände befindet sich auch ein Mini-Sportstadion mit überdachter Tribüne.
Keine Fußballtore, aber dafür ein Top-Untergrund, fast komplett Rasen – welch ein Luxus! Nachdem
ich einige Sportplätze in der engeren Wahl hatte, fiel mir wieder dieses Stadion ein.
Also sprach ich bei der Leiterin vor, die sehr interessiert an meiner Arbeit schien, mir für den Tag den
Platz reservierte und schließlich erzählte, dass Nesakkaram den Platz doch schon oft genutzt
habe. Das überraschte mich doch etwas, denn keiner vom Personal war auf die Idee gekommen,
mir diesen Platz vorzuschlagen. Nachdem ich – zugegeben schon etwas stolz – nach einem insgesamt
fast einstündigen Fußmarsch durch Chennai nach Nesakkaram zurückkehrte mit der
frohen Botschaft, endlich einen Platz gefunden zu haben, war das erste, was ich von Father
Joy hörte: "Oh, dieser Platz ist für Fußball nicht geeignet. Viel zu gefährlich, zu uneben."
Als dann am Abend ein Telefonanruf von Nathan kam, er hätte den perfekten Fußballplatz gefunden
mit Toren und Abgrenzungen, brodelte es doch schon gefährlich in mir. Umso schöner, dass sich
letztendlich alles zum Guten fügte: So stellte sich heraus, dass Father Joy den Platz im alten
Zustand vor der Instandsetzung in Erinnerung hatte und den aktuellen Zustand gar nicht kannte.
Der angeblich perfekte Platz, den Nathan gefunden hatte, war zwar wirklich perfekt, allerdings
in Privatbesitz und für andere Gruppen gesperrt. Father Jesu gab Finanzmittel frei, wir kauften einen
nagelneuen Fußball und Kreide für die Feldmarkierungen, außerdem wurden Glucose-Päckchen
und Limonen besorgt. Father Joy und ich arbeiteten eine halbe Nacht an einer Urkunde,
die ich dann in einem Geschäft 50Mal in bunt ausdrucken ließ. Father Jesu als Direktor
und ich als Initiator setzten unsere Unterschrift auf die Urkunde, auf die dann jeweils die Namen der
Spieler eingetragen wurden. Einer der Angestellten besorgte Stöcke und Werkzeug, um Tore zu errichten.
Als Preise mussten ein schmuckvoller Teller und ein verziertes Schild aus dem Nesakkaram-Besitz
herhalten, das schließlich dem Turnier ja den Namen gegeben hatte.

Das Turnier selbst war dann einfach nur super.
Wir errichteten die Tore und zogen die Feldmarkierungen mit Hilfe eines Seils. Verschiedenfarbige
Nesakkaram-T-Shirts waren aus den Schränken hervorgekramt worden, sogar die
Angestellten hatten sich in sie hineingezwängt. Zur Begrüßung stellten sich die insgesamt sieben
Mannschaften in Reihen auf, zuerst sprach ich ein paar Worte, dann eröffnete Father Jesu das
Turnier. Er selbst spielte sogar mit und gab als Torwart kein schlechtes Bild ab. Auch meine
Kondition wurde auf eine harte Probe gestellt: Bis auf ein Spiel habe ich alle anderen Spiele
gepfiffen. Einige Frauen hatten für die Pausen leckeren Limonensaft zubereitet, ich glaube
ich allein habe bestimmt fünf Liter davon in mich hineingeschüttet. Natürlich hatte ich im Fußballfieber
ganz vergessen, mich mit Sonnenmilch einzuschmieren und nahm auch nicht so recht
wahr, wie ab spätestens 10 Uhr die Sonne brannte. Ich war am nächsten Tag knallrot und vor allem
meine Waden hatten gelitten, da sie der Hitzereflektion des Untergrundes direkt ausgesetzt
waren.

Jeden Montagmorgen findet eine Andacht für
alle Angestellten statt mit Meditation, Bibellese, Gebeten und Liedern. Außerdem wird über vergangene
Ereignisse gesprochen. Nesakkaram Soccer Shield war zu meiner Freude fast zwanzig
Minuten ein lebhaft diskutiertes Thema und wurde rundherum gelobt. Besonders die Frauen,
die mit Fußball bisher nichts am Hut hatten, sprachen mit Begeisterung über diese neue
Erfahrung. Es ging sogar soweit, dass Father Jesu die Angestellten rügte, die nicht erschienen
waren, um zumindest zuzuschauen.

"Wie ist eigentlich das Wetter?"

Die Frage wird mir häufig gestellt, deshalb
ein paar Ausführungen dazu. Die heißeste Zeit ist mit meiner Ankunft Ende Mai zu Ende gegangen,
doch auch jetzt steigt, zumindest nach der Fernsehwetterkarte, ich besitze kein Thermometer
hier, die Temperatur an manchen Tagen auf knapp 40 Grad Celsius an. Scheint die Sonne,
dann wird es spätestens ab 10 Uhr richtig heiß, die Hitze bleibt fast unerträglich bis ca.
16 Uhr, dann wird es etwas kühler. Allerdings ist es gerade nach einem heißen Tag abends äußerst
schwül in den Häusern, in denen sich die Hitze gestaut hat, sodass die Ventilatoren ständig
laufen. Doch es gibt auch angenehme Tage, z.B. wenn es bewölkt ist oder ein Regen- bzw. Gewitterschauer
Abkühlung bringt. Dann liegen die Temperaturen vielleicht bei ca. 28 Grad aufwärts.
Wenn es mal regnet, dann immer nur kurz und heftig, Dauerregen oder Nieselregen ist den
Indern unbekannt. Die Regenzeit wird ja durch die Monsunwinde gesteuert, in Chennai geht es
damit richtig ungefähr Oktober los. Dann werden die Regenfälle häufiger und umso heftiger, binnen
Sekunden stehen dann die Straßen unter Wasser. Da die Regenzeit letztes Jahr in Chennai sehr
heftig war, vermuten viele, dass es dieses Jahr nicht so schlimm wird. Gut für mich – dann
bleibt es mir vielleicht erspart, durch knietiefes Wasser waten zu müssen.

Das Problem der Überschwemmungen in Indien
ausgelöst durch den Monsun wird besonders in den Zeitungen heftig diskutiert. Die Politiker
versprechen seit Jahren, die Straßen entsprechend mit einer Kanalisation zu versehen, gefährdete
Zonen zu entschärfen oder Flussbetten zu erweitern. Doch so richtig schnell kommen
sie nicht voran, wie die vergangenen Berichte aus verschiedenen indischen Städten, die bestimmt
auch im deutschen Fernsehen zu sehen waren, zeigen. Hinzu kommt die Problematik der Epidemien,
je mehr Wasser sich staut, umso größer werden die Brutzonen für die Moskitos, und
deren Anzahl schnellt dann während der Regenzeit beträchtlich in die Höhe, Malaria und Co sagen
Dankeschön. Gefährlich wird es natürlich gerade für die Menschen in den Slums, denn die haben
ihre Hütten meistens in der Nähe der Flüsse errichtet. Wie mir Father Joy berichtete,
standen alle diese Hütten letztes Jahr komplett unter Wasser und wurden teilweise fortgespült. Gottseidank
konnten alle Bewohner rechtzeitig evakuiert und in einem leeren Gebäude untergebracht
werden.

An das tropische Klima habe ich mich inzwischen
gewöhnt, was ich daran festmache, dass ich z.B. morgens nicht mehr schweißgebadet aufwache
oder die kalte Dusche, die ich in den ersten Wochen als wohltuende Erfrischung empfunden
habe, mich inzwischen zum Frösteln bringt. Gewöhnt heißt aber auch, dass ich natürlich
nicht gerade zur heißen Tageszeit zum Stadtspaziergang aufbreche. Wenn es unbedingt
sein muss, dann ist "Schattenlaufen" angesagt, um der intensiven Sonneneinstrahlung zu entgehen.
Deshalb werde ich auch nicht braungebrannt zurückkehren, wie vielleicht manche von euch
erwarten, tut mir leid!

"Kinder schlagen – zweiter Teil"

Das Thema geriet etwas in den Hintergrund,
bis sich in der letzten Woche einige Vorfälle in Nesakkaram häuften und ich schließlich gestern
mit Father Jesu über das Thema gesprochen habe. Schockiert musste ich letztlich feststellen,
dass sowohl die Lehrerin, die die Hausaufgaben abends betreut, als auch beide Aufpasserinnen,
die "Wardens", die Kinder im Hause Nesakkaram schlagen. Die Lehrerin habe ich
beobachtet, wie sie mit einem Stock zur Bestrafung auf die Hand- und Fingerknöchel
schlägt. Sie kommt werktags gegen 18 Uhr ins Haus und überwacht die Hausaufgaben der Kinder
bis ca. 20 Uhr. Teilweise kommt sie auch so zu Besuch. Sie (nicht verheiratet) und ihre Familie
scheint Father Jesu sehr nahe zu stehen, was die Sache natürlich etwas verkompliziert. So hat
sie z.B. vor zwei Wochen die komplette Kinderschar zu ihrem Geburtstag eingeladen (ich war auch
dabei), nach einer von Father Jesu zelebrierten Messe gab es ein üppiges Festmahl.

Die beiden Wardens, sie sind zwischen 30 und
40 Jahre alt, schätze ich, haben selbst traurige Geschichten hinter sich und bei Nesakkaram
Unterschlupf gefunden. Beide Frauen haben ein eigenes Kind, die ältere lebt inzwischen getrennt
von ihrem Mann, die jüngere war gar nicht verheiratet, der Vater lief nach der Geburt
davon. Sie schlüpfen in Nesakkaram also in die Rolle der Mutter oder Lehrerin, obwohl nur die jüngere
als Lehrerin ausgebildet wurde, wenn ich mich richtig erinnere. Während die jüngere Warden
selten zu härteren Mitteln greift und den Stock wohl eher zur Abschreckung zückt, habe ich die
Schläge der älteren live mitansehen müssen. Einmal im Stil der älteren Lehrerin (Stock auf Knöchel)
gegen ihren eigenen Sohn, der heulend seine Hände ausstrecken musste, dann sah ich sie,
wie sie auf einen der kleinsten Jungen (!) mit der Faust mehrmals auf den Rücken eindrosch, obwohl
dieser schon längst heulend am Boden kniete. Dann berichtete mir eines der Mädchen
im Waschraum, dass auch sie von der älteren Warden geschlagen wurde, als Beweis zeigte
sie mir die geschwollenen Handknöchel.Ihr könnt euch vorstellen, dass ich regelrecht
erstarrt war, sowas mit ansehen zu müssen, und außerdem hin- und hergerissen, wie ich reagieren
sollte. In allen Fällen habe ich mich bisher für den Weg entschieden, nicht einzugreifen, solange
ich keine ernsthafte Verletzungsgefahr für das Kind sehe, und daraufhin Gespräche und Diskussionen
zu starten. Und damit bahnte sich der zweite Schock an. So habe ich z.B. mit zwei
Coordinators über das Thema gesprochen, beide haben mir versucht zu erklären, dass körperliche
Gewalt gegen Kinder in Indien durchaus geduldet wird (auch in den Schulen ist es
nicht offiziell verboten), sie selbst aber dagegen seien. Sie waren interessiert zu erfahren, wie strikt
ich die Sache sehe. Ähnlich reagierte Father Joy, der mir allerdings in diesem Fall in seiner
Art zu lässig erschien. Ich habe ihm alle Fälle geschildert, doch wirklich aktiv darauf reagiert
hat er in keinster Weise, er hat noch nicht einmal eine der Wardens auf dieses Thema angesprochen.
Also habe ich schließlich mit dem Direktor persönlich gesprochen, der sehr offen auf
mein Anliegen reagiert und versucht hat, diese Problematik sowohl auf Ebene der Gesellschaft
als auch auf der Ebene Nesakkarams zu erörtern. Er fand es gut, dass ich das Thema
angesprochen habe, ich glaube er war auch ein bisschen überrascht, vielleicht auch schockiert
und anschließend sehr nachdenklich. Er erzählte mir, dass er seit dem Projektstart mit dem
Thema Gewalt gegen Kinder konfrontiert ist und dass es sich um einen schwierigen Lernprozess handele,
sowohl für die Kinder, die ja selbst sehr häufig in heftige Rangeleien verwickelt sind
und teilweise körperliche Gewalt als einzige Lösung akzeptieren, als auch für die Erwachsenen,
die oft selbst mit Schlägen erzogen wurden. In Nesakkaram herrsche die Regel, keine körperliche
Gewalt gegen die Kinder auszuüben, doch diese Regel werde sehr häufig gebrochen, wie
ich ja selbst gesehen habe. Gleichzeitig versuchte ich deutlich zu machen, dass ich nicht den
Anschein erwecken wolle, als ein deutscher Besserwisser Indien oder Nesakkaram umkrempeln
zu wollen, aber dass ich gern meine Gefühle und Erfahrungen zu diesem Thema mit den anderen
austauschen möchte. Schließlich hat mir Father Jesu zugesichert, dass ich bei dem
nächsten Treffen der Lehrerin und der Wardens mit dabei sein kann und das Thema zur Sprache
gebracht wird. In meinen Augen ein großer Erfolg!

"Applaus durch die Muschel"

Eine interessante Verbindung zwischen meiner
katholischen Heimatgemeinde St. Marien Geisweid und mir kam am Sonntag, dem 27. August
zustande. Nach kurzer Absprache ein paar Tage vorher rief mich Vikar Michael Melcher
an dem Morgen gegen 9:50 Uhr aus der laufenden Messe heraus an und stellte mir einige Fragen.
Da Father Joy das Mobilteil bei sich trug, musste ich den Anruf an dem Telefon in der Küche
entgegennehmen. Natürlich war gerade in dem Moment des Anrufs dort ein großer Lärm, einige
Jungs machten sich an irgend etwas ohne zu fragen zu schaffen. Eine Warden hatte das
nun mitbekommen und schimpfte lautstark. Erst als ich noch lauter um Ruhe bat, trat die nötige Stille
ein und ich konnte Michael am anderen Ende verstehen. Es war eine lustige, gleichsam
schöne Erfahrung, über diesen Weg mit der Gemeinde sprechen zu können. Ich hatte den Innenraum
der Kirche bildlich vor Augen, unterstützt durch das deutliche Echo, das zu hören war als Michael
manche meiner Worte nochmal wiederholte. Besonders toll kam nachher der Applaus rüber,
der mir doch eindrucksvoll noch einmal deutlich machte, dass meine Gemeinde an mich denkt
und hinter mir steht – an dieser Stelle mein herzlicher Dank dafür!

Auch zur evangelischen Gemeinde Klafeld stehe
ich übrigens in dauerhaftem Kontakt, auf zwei Wegen: Einmal über den Bläserkreis des CVJM
Geisweid, in dem ich seit 1990 versuche der Trompete so manche Töne zu entlocken, und
auch über Günter Gollos vom Presbyterium, der mir für meinen Dienst die besten Wünsche und Gottes
Segen mit auf Weg gegeben und mir versichert hat, Informationen an das Presbyterium
und die Gemeinde weiterzugeben. Ganz liebe Grüße somit auch an die evangelische Kirchengemeinde
Klafeld und ein herzliches Dankeschön für das Interesse und die guten Wünsche!

"Vorschau"

Da ich diesen Newsletter möglichst schnell
versenden möchte, habe ich einige interessante Themen verschieben müssen, ihr könnt euch
also schon auf den folgenden Newsletter freuen! Hier möchte ich auch endlich mehr über die
Religion, über die tamilische Sprache oder über Kulinarisches berichten. Auch der indische
Straßenverkehr wird wahrscheinlich ein Thema sein, hier gibt es einiges zu erzählen. Also seid
gespannt und vergesst nicht, auf der Homepage St. Marien die neuen Bilder zu bewundern!

Viele liebe Grüße aus dem fernen Indien,

Dominic

Datum: 07.09.2006, Autor: Dominic Winkel