Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 7. Juli 2013

Gottesdienst für den sechsten Sonntag nach Trinitatis

mit Taufe von Jan Emil Cochius und Marylou Patt

Text: Jes 43,1-7

Jedes Jahr im Sommer spielt sich am Kanal Kebar in Mesopotamien das gleiche Schauspiel ab. In der Siedlung Tel-Aviv hält die ju­däi­sche Landsmannschaft ihr Jah­restreffen ab. Seit dem verlorenen Krieg, der sie aus ihrer Heimat vertrieb, sind etliche Jahrzehnte ver­gangen. Aber am üblichen Ritual des Treffens hat sich kaum etwas verändert: Leviten und Tempelsänger treten auf, sie tragen ihre tradi­tionellen Gewänder und singen die alten Psalmen, die einst im Tem­pel von Jerusalem erklangen. Die wenigen Alten, die ihre Heimatstadt noch in alter Pracht gesehen haben, bekommen feuchte Augen. Die obligatorischen Festredner be­schwö­ren die ver­sunkene Welt des Königreichs Juda. Sie klagen darüber, wie die jet­zigen Bewoh­ner alles verkommen lassen, und sie fordern ihr Recht auf Rückkehr ein – allerdings nicht allzu laut: das könnte die babylonische Staatsmacht, die ihre Stadt zerstört und sie hierher verschleppt hat, in den falschen Hals be­kommen. Sie schließen ihre Reden mit dem frommen Wunsch: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“

Aber sowohl Rednern als auch Zuhörern ist klar, dass das alles leere Worte sind. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Die Nachgebore­nen haben sich in Babylonien längst eingerichtet. Sie ha­ben ein Ge­schäft aufgemacht oder ein Stück Land gekauft, und sie fühlen sich durchaus wohl im reichen Zweistromland. Für sie ist die Heimat ihrer Eltern und Großeltern nur noch ein fernes Märchenland – und für ihre Kinder erst recht. Auch mit dem Gott ihrer Väter rechnen sie nicht mehr. Er hat damals nicht geholfen, als Jerusalem in Schutt und Asche versank; also ist von ihm jetzt erst recht nichts mehr zu erwar­ten. Da ist es schon wichtiger, sich gut mit Marduk zu stellen, dem Gott der Babylonier. Schließlich muss man der Realität ins Auge se­hen. Die Alten, die noch an der alten Heimat hängen, sehen diese Entwicklung mit Kummer, aber auch sie haben resigniert. Sie begin­nen sich damit abzufinden, dass sie ihr Grab in der Fremde finden werden. Aus alter Anhänglichkeit besuchen sie zwar noch die Gottes­dienste. Aber dass der Gott Israels noch einmal ein­greift, dass er sie aus Babylon herausführt wie einst aus Ägypten, darauf wagen auch sie nicht mehr zu hoffen. Und weil die Dinge nun mal so stehen, sind alle froh, als es mit den pflichtschuldigen Reden ein Ende hat. Nun kann man endlich zum gemütlichen Teil überzugehen. Aber da tritt plötzlich doch noch einer unan­gemeldet ans Rednerpult und bittet um Aufmerksamkeit: kei­ner von den alten Verbandsfunktionären, sondern ein junger Mann. Niemand weiß, wie er heißt und wo er auf einmal herkommt. Aber was er zu sagen hat, mit kräftiger Stimme und mitreißender Begeisterung, das lässt bald auch in den hintersten Ecken das Gemur­mel verstummen:

1 Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! 2 Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht bren­nen, und die Flamme soll dich nicht versengen. 3 Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich habe Ägypten für dich als Lösegeld gegeben, Kusch und Seba an deiner Statt, 4 weil du in meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe. Ich gebe Menschen an deiner Statt und Völker für dein Leben. 5 So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, 6 ich will sagen zum Norden: Gib her! und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, 7 alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.

Zugegebenermaßen habe ich bei dieser Beschreibung ein paar un­zulässige Anleihen bei unserer Gegenwart gemacht. Aber so ungefähr kann ich mir das Auftreten dieses unbekannten Propheten doch vor­stel­len. Weil wir’s nicht besser wissen, nennen wir ihn Deuterojesaja, den „Zweiten Jesaja“. Seine Worte müssen damals ungeheures Auf­sehen erregt haben. Nach langem Schweigen meldet sich der Gott Israels plötzlich wieder zu Wort! All den traurigen, enttäuschten, in ihre Alltagsgeschäfte versun­kenen Israeliten öffnet er neu die Au­gen für etwas ganz anderes: „Nun spricht der Herr, der dich ge­schaf­fen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel“. Man könnte er­warten, dass auf diese Einleitung erst einmal Vorwürfe folgen: „Wa­rum habt ihr mich vergessen? Warum habt ihr aus den Fehlern der Vergangen­heit nichts gelernt? Warum kommt ihr nicht mehr zum Gottes­dienst?“ und so weiter. Oder dass Gott zumindest Bedingun­gen stellt: „Wenn ihr umkehrt und Buße tut, wenn ihr euch wieder vorbehaltlos zu mir bekennt, dann können wir über die Heim­kehr nach Jerusalem noch mal re­den.“ Aber nichts dergleichen! Noch ehe sein Volk etwas davon wusste, geschweige denn irgendwelche Vorleistungen bringen konnte, hat Gott schon alles perfekt gemacht: „Ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“. Und warum das al­les? Nur aus einem einzigen Grund, der ebenso einfach wie unerklärlich ist: „weil ich dich lieb habe“. Nun tun ja schon Men­schen aus Liebe die unmöglichsten Dinge. Erst recht ist es so, wenn Gott jemanden lieb hat. Und deshalb verheißt der Prophet die Heim­kehr aller Israeliten: aus allen Himmelsrichtungen wird Gott sie heim zum Zion bringen.

Diese Worte haben ihre Wirkung getan. An ihnen hat Israel sich auf­gerichtet, auch dann noch, als nicht alle Ankündigungen des Pro­phe­ten eintrafen und der Neuanfang eher bescheiden ausfiel. Trotzdem: das „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst“, das ließ Israel sich nicht mehr nehmen. Und nicht nur Juden, sondern auch Christen haben sich immer wieder durch diese Worte angespro­chen gefühlt. Oft hat er schon als Tauf- oder Konfirmationsspruch gedient. Und tat­sächlich drückt er genau das aus, worum es bei der Taufe geht. Dazu möchte ich nun noch drei Dinge sagen.

Das Erste ist: Gott hat uns allen das Leben geschenkt. Natürlich ha­ben viele ihren Teil dazu bei­getragen, dass Marylou und Jan Emil  heil auf die Welt ge­kommen sind: Eltern, Hebammen, Ärzte und manche andere. Aber trotzdem gäbe es sie nicht, wenn nicht Gott als der gute Schöpfer hinter ihnen stünde. Dort, wo im Bibeltext „Jakob“ und „Israel“ steht, können wir also getrost Marylou und Jan Emil oder unseren eigenen Namen einsetzen. Und wir alle dürfen mit Martin Luther sagen: „Ich glaube, dass Gott mich geschaf­fen hat samt allen anderen Geschöpfen“.

Das Zweite ist: Gott sagt Ja zu uns: zu mir, zu Marylou, zu Jan Emil  und zu allen anderen auch. Man könnte meinen, dass das doch selbstver­ständlich ist. Wenn Gott uns geschaffen hat, dann muss er uns doch auch lieben. Aber so selbstverständlich ist das gar nicht. Denn schließlich sagen wir Menschen nur allzu oft Nein zu Gott oder wir verhalten uns zumindest so, als ob wir Nein zu ihm gesagt hätten. Man könnte also verstehen, wenn Gott bei jedem Men­schenkind, das zur Welt kommt, erst einmal abwarten würde, wie der oder die sich so entwickelt. Denn wie steht Gott denn da, wenn er jemanden einfach so annimmt, und dann will sie oder er eines Tages gar nichts von ihm wissen! Kein vernünftiger Mensch stellt doch eine Blanko-Vollmacht aus für jemanden, den er noch gar nicht richtig kennt! Aber zu unserem Glück ist Gott kein ver­nünftiger Mensch. So wie bei den Israeliten damals sagt er bedingungslos Ja zu uns und wartet nicht auf Vorleistungen. Er hat sein Ja längst für uns alle ge­sprochen, und es mit dem Tod seines Sohnes besiegelt. Dieses Ja wurde uns allen bei unserer Taufe zugesprochen: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du gehörst zu mir.“ Und wir können darauf vertrauen: Nichts, aber auch gar nichts kann Gott dazu bringen, sein Ja zurückzunehmen.

Und jetzt ist noch ein Drittes wichtig: Ich glaube, dass das Ja Gottes uns durchs Leben begleitet. Wir können uns immer wieder daran auf­richten, wenn wir in Schwierig­keiten geraten, so dass wir spüren, was der Prophet bildhaft aus­drückt: „Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäu­fen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.“ Aber damit das möglich wird, müssen wir von dem Ja Gottes auch etwas erfah­ren. Gott hätte die Israeliten da­mals noch so sehr lieben können, sie wären enttäuscht und mutlos geblieben, wenn Gott nicht einen Propheten zu ihnen geschickt hätte, der es ih­nen sagt. Und so geht es auch den Kindern, die getauft werden wie Marylou und Jan Emil heute: Sie hätten nichts von ihrer Taufe, wenn ihnen niemand sagen würde, was sie bedeutet. Zu ihnen schickt Gott uns: als Eltern, Großel­tern, Paten, aber auch als christli­che Gemeinde. Es ist un­sere Aufgabe, den Kindern das weiter­zugeben, was wir von Gott wissen. Als Gemeinde tun wir das im Kindergarten, im Kindergottesdienst oder in der Konfirmandenarbeit. Aber wir können es auch persön­lich tun – vielleicht durch Kin­dergebete oder biblische Geschichten. Aber auf jeden Fall können wir den Kindern durch unsere Liebe und unser Interesse an ihnen ein Bild von der Liebe Gottes vermitteln. Das ist keine leichte Aufgabe, aber eine lohnende. Bei Jan Emil kann man schon ein paar Früchte davon sehen – hoffentlich feiert er im späteren Leben auch noch so gern Gottesdienst wie jetzt als Kind! Und hoffentlich macht auch Marylou bald Erfahrungen mit dem Gott, der sie liebt und ihr seine Engel über den Weg schickt, die übrigens nicht immer Flügel haben müssen. Denn schließlich gehört unseren Kindern die Zukunft – in unserer Familie, unserem Land und unserer Gemeinde. Gott möge also dafür sorgen, dass wir diese Aufgabe nie aus den Au­gen verlieren. Amen.

(Pfarrer Martin Klein)