Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 6. Oktober 2019

GOTTESDIENST FÜR DAS ERNTEDANKFEST

Text: 1. Tim 4,1-5

Das Erntedankfest kann ziemlich deprimierend sein. Diese Erfahrung habe ich jedenfalls vor Jahren bei einer Mitarbeiterfreizeit im Sauer­land gemacht. Am Erntedanktag besuchten wir den örtlichen evan­gelischen Gottesdienst – und erlebten ein Erntetrauerspiel. Außer unserer Frei­zeitgruppe verloren sich noch ein Dutzend graue Köpfe im geräumi­gen Kirchenschiff. Der Altarschmuck bestand aus zwei, drei zer­zausten Getreidebündeln, die wohl schon lange Jahre im Ein­satz waren, und ein paar staksigen Sonnenblumen, die still vor sich hin welkten. Passend dazu hielt der Pastor mit missmutigem Gesicht eine Predigt, auf der zentnerschwer das Elend der Welt lastete. Ei­gentlich könne sich doch gar keiner mehr über die Ernte freuen, war der Grundtenor – angesichts der Hungernden in Afrika, der Ver­nichtung von Agrar­überschüssen, dem Sterben der kleinen Bauern­höfe, der Massentier­haltung, dem Gift in unseren Lebensmitteln und so weiter und so fort. Ganz am Schluss kamen dann zwar die Stich­wörter „Dank“ und „Hoffnung“ noch vor, aber so verklausuliert („ir­gendwie ein Stück weit“), dass sie nichts mehr retten konnten. Und dann schmeckten die Oblaten beim Abendmahl noch penetrant nach des Pfarrers Rasierwasser, so dass man auch die nicht so recht mit Danksagung empfangen mochte. Immerhin: seitdem weiß ich, wie man’s nicht macht!

Mir kam diese Episode wieder in den Sinn, als ich über den heutigen Predigttext nachdachte. Denn der hat es auch mit Leuten zu tun, die das Danken für Gottes gute Schöpfung verlernt haben. Er steht im ersten Brief an Timotheus, im 4. Kapitel:

Der Geist aber sagt deutlich, dass in den letzten Zeiten einige von dem Glauben abfallen werden und verführerischen Geistern und Lehren von Dämonen anhängen, verleitet durch Heuchelei der Lü-gen­redner, die ein Brandmal in ihrem Gewissen haben. Sie gebie­ten, nicht zu heiraten und Speisen zu meiden, die Gott geschaffen hat, dass sie mit Danksagung empfangen werden von den Gläubigen und denen, die die Wahrheit erkannt haben. Denn alles, was Gott ge­schaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfan­gen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.

Natürlich sind die hier beschriebenen „Lügenredner“ noch mal ganz anders drauf als der Kollege, von dem ich gerade erzählt habe. Der hätte sicher nicht bestritten, dass Gott die Welt jedenfalls ursprüng­lich gut und dankenswert geschaffen hat. Die Gnostiker dagegen, die hier gemeint sind, die bestritten das sehr wohl. Für sie war die irdi­sche, sichtbare Welt von Grund auf schlecht. Nicht Gott hatte sie geschaffen, sondern ein böser Geist. Er hatte das getan, um die menschlichen Seelen, die göttlichen Ursprungs sind, gefangen zu halten: gefesselt an einen irdi­schen Körper, eingesperrt in eine Welt, in der sie eigentlich fremd sind. Ziel der Gnostiker war deshalb, das Göttliche im Menschen aus dieser bösen Welt zu befreien und zu Gott zurückzubringen. Und dazu hielten sie sich von allem Irdischen möglichst fern: sie heirate­ten nicht und bekamen keine Kinder, sie besaßen nichts und aßen möglichst wenig – oft nur Wasser und Brot. Wenn das alles einen frühen Tod zur Folge hatte, dann umso besser. Denn dann war man endlich alle irdischen Fesseln los und konnte heimkehren zu Gott.

Wir mögen über solche Vorstellungen heute den Kopf schütteln. Aber ob wirklich Gott als guter Schöpfer hinter unserer Welt steht, der Zweifel daran ist heute wohl größer denn je. Denn wir machen ja alle täglich Erfahrungen, die dagegen sprechen, und andere, denen es nicht so gut geht wie uns, erleben noch viel mehr davon. Man kann es zwar für unfair halten, alles Schlimme, was Menschen tun, gleich ihrem Schöpfer anzulasten – wenn er ihnen doch einen freien Willen gegeben hat. Aber vielleicht gibt es diesen Schöpfer eben gar nicht. Vielleicht ist der Mensch einfach eine Fehlentwick­lung der Evolu­tion, die das ganze Ökosystem aus dem Lot bringt. Vielleicht ist es deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn wir Men­schen die Natur noch zu retten versuchen, selbst wenn wir es nicht so halbherzig täten wie bisher immer. Vielleicht wird für den Planeten alles erst wieder gut, wenn der Homo sa­piens durch eigenes Ver­schulden end­lich ausgestorben ist.

Heute würde zwar keiner so weit gehen wie die Gnostiker und sich durch strenge Askese selbst aus dem Weg räumen. Dafür leben wir dann doch zu gern, und im reichen Deutschland erst recht. Aber viele tragen auch heute ein „Brand­mal“ an ihrem Gewissen: Tief drinnen schämen sie sich dafür, dass sie zu dieser Menschheit zu gehören, die mit der Erde so übel umspringt, und dass sie selber daran nicht ganz unbeteiligt sind. Und dann versuchen sie, es wenigstens „irgendwie ein Stück weit“ wieder gut zu machen. Immer mehr Leute essen kein Fleisch, um Tiere und Ressourcen zu schonen, andere auch nichts mit Milch oder Eiern. Manche trinken wenigstens fair gehandelten Kaffee und kau­fen Bio-Eier im Hofladen. Und manche bleiben zwar nicht ehe- oder part­nerlos, aber wollen in diese schlimme Welt lieber keine Kinder mehr setzen.

Ich will das alles gar nicht schlecht machen und auch keinem die ehrenwerten Absichten absprechen. Ich mache manches davon ja selber. Aber weil es niemand schafft, dabei wirklich konsequent zu sein, werden wir unser schlechtes Gewissen so nicht los. Wir können es höchstens übertönen, indem wir anderen die Schuld geben. „How dare you“ heißt es dann vielleicht wie neulich in der UN-Vollver­sammlung. „Wie könnt ihr es wagen, immer noch nicht angemessen auf den Klimawandel zu reagieren?“ Ich bewundere Greta Thunberg für die Unverblümtheit, mit der sie den Regierungen der Welt die Leviten gelesen hat. Und ich finde, sie hatte auch ein Recht dazu, denn natürlich tragen die Mächtigen die Hauptverant­wortung für den Schutz des Klimas und nicht ein sechzehnjähriges Mädchen aus Schweden, auch wenn ihr Segeltörn nach Amerika dann doch nicht so klimaneutral war. Aber wütende Anklagen und Ermahnungen hel­fen ja nicht wirklich. Sie verhallen in billigem Ap­plaus und in Ohren auf Durchzug. Wer’s trotzdem damit ver­sucht, muss zusätzlich zum Leiden an der Welt auch noch mit dem Ärger über die Mitmenschen leben, die das alles ein­fach nicht wahrhaben wollen. Das Resultat sind unfrohe und uner­freuliche Menschen, die an dieser Welt alles nur noch furchtbar fin­den. Der Pastor damals im Sauerland war wohl so einer. Und ich fürchte, Greta und ihre Mit­streiter könnten auch so enden.

Der Verfasser des ersten Timotheusbriefs hat dagegen einen anderen Blick auf die Dinge. Er hat seinen Paulus gut gelesen. Und deshalb reagiert er so auf die gnostischen Irrlehrer, wie Paulus seiner Mei­nung nach reagiert hätte, wenn er noch am Leben wäre: „Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut“, schreibt er in der Rolle des Apostels, „und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfan­gen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.“

Wie verschiedem man doch die Welt betrachten kann! Die einen sehen immer nur das Böse und das Schlimme, die anderen kommen erst einmal ins Staunen: Was für ein wunderbarer Kosmos unsere Er-de doch ist – immer noch! Was für eine unendliche Vielfalt an Pflan-zen, Tieren, Landschaftsformen! Welche Schönheit, welche Leben-digkeit, auch noch in der unwirtlichsten Wüste, im schroffsten Gebir-ge, im tiefsten Meer! Wie fein ist in der Natur alles aufeinander ab-gestimmt: nichts geschieht hier sinn- und nutzlos, jedes Lebewesen hat seinen Platz, an dem es genau richtig ist! Und wie reichhaltig ist das Nahrungsan­gebot für sie alle: Es könnten auch noch mehr Men­schen davon satt werden, ohne die Tier- und Pflanzenwelt zu zerstö­ren! Und wenn ich mal an mich per­sönlich denke: Was habe ich doch für einen tollen Blick, wenn ich aus dem Fenster schaue – auf grüne Wiesen, Wälder und Hügel bis zum Horizont, auf das Spiel von Licht und Schatten zwischen Sonne und Wolken, auf reife Früchte im Gar-ten, auf Vögel, Eichhörnchen und Insekten, die sich dort tum­meln. Was habe ich für eine Auswahl an gutem, gesundem und schmack-haftem Es­sen! Und wie geht es mir und meinen Lieben überhaupt so unver­dient gut: wir sind gesund, wir haben keine Exis­tenzsorgen, wir ha­ben so viele Möglichkeiten, das Leben zu genie­ßen, auch ohne Flugreisen und Kreuz­fahrten!

Ja, es stimmt: Vielen anderen, vielleicht auch manchem hier im Got-tesdienst, geht es nicht so gut. Aber wissen Sie was? Ich will mir des-wegen kein schlechtes Gewissen mehr machen lassen. Stattdessen will ich das tun, was der Timotheusbrief mir empfiehlt, nämlich Gott dafür danken: „Danke, Vater im Himmel, dass du mich und die gan-ze Welt so wunderbar gemacht hast! Danke, dass ich genießen darf, was du mir schenkst! Danke für alles Gute, dass du mir gibst! Ja“, mit Martin Gotthard Schneider gesprochen, „danke, ach Herr, ich will dir danken, dass ich danken kann!“ Denn der dankbare Blick auf die Welt ist ja nicht einfach eine Einstel­lungssache. Er ist ein Ge­schenk, das der Glaube mit sich bringt. Es sind die Gläubigen, sagt der Timotheusbrief, die dankbar in Empfang nehmen, was Gott ge­schaffen hat. Es erkennt nicht jeder, der die Welt betrachtet, die Hand des Schöpfers darin, sondern nur der, dem sich Gott zu erken­nen gibt. Seien wir also froh und dankbar, wenn wir dazu gehören.

Vielleicht regt sich bei manchem jetzt Widerspruch: Was ist denn dann mit all dem Bösen in der Welt – dem Hunger, der Armut, dem Krieg, der Gewalt, den brennenden Regenwäldern und schmelzenden Polkappen, dem Artensterben, der Tierquälerei, der Verschwendung von Lebens­mitteln? Muss ich vor alledem die Au­gen verschließen, um noch fröhlich Erntedank feiern zu können?

Nein, eben nicht! Ich sagte ja schon, dass es ein Geschenk ist, danken zu können – und zwar ob­wohl ich das alles sehe und weiß. Und wenn ich dankbar bin für das, was Gott mir schenkt, dann weiß ich ja auch, wie wenig ich das alles verdient habe und wie sehr all die guten Ga­ben allen anderen auch zustehen. Dann werde ich mich ganz freiwil­lig dafür ein­setzen, dass auch meine Mitmenschen und Mitgeschöpfe ihren Teil an Gottes guten Gaben bekommen, auch wenn mein eige­ner Anteil dadurch kleiner wird. Wer immer nur sieht, wie schlecht und böse die Welt ist, wird entweder depressiv oder träumt sich da­von in ein Paralleluniversum. In beiden Fällen wird er nichts dafür tun, dass es auf Erden anders wird. Wer aber dankbar ist für Gottes gute Schöpfung, der hat auch die Kraft, sich für sie einzusetzen – in aller Unvollkommenheit und doch mit gutem Gewissen. Denn der weiß ja auch, dass nicht wir die Welt retten müssen, sondern dass Gott sie in Christus längst gerettet hat.

Also noch mal in Kurzform das Wort zum Erntedankfest: Sei dank­bar für das, was Gott dir schenkt, genieße es und dann tu Gutes damit – dann wird Gottes Segen nicht ausbleiben. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der wird unsere Herzen und Sinne bewahren in Jesus Christus. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein