Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 30.09.2018

GOTTESDIENST ZUR VERABSCHIEDUNG VON DORINES HERMELING UND EINFÜHRUNG VON ANNIKA ENGELBERT

(18. Sonntag nach Trinitatis)

Text: Jak 2,1-9

Meine Geschwister, haltet den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus, den Herrn der Herrlichkeit, frei von allem Ansehen der Person! Denn wenn in eure Versammlung ein Mann mit einem goldenen Ring und prächtiger Kleidung kommt, es kommt aber auch ein Armer mit schmutziger Kleidung, und wenn ihr dann auf den achtet, der das prächtige Gewand trägt, und sagt: „Du setz dich hierher auf den besten Platz“, und zu dem Armen sagt ihr: „Du stell dich da hin oder setz dich unter meinen Fußschemel“, habt ihr dann nicht bei euch selbst Unterschiede gemacht und seid Richter geworden, die üble Entscheidungen treffen?
Hört, meine geliebten Geschwister: Hat nicht Gott die Armen vor der Welt auserwählt als Reiche im Glauben und Erben des Königreiches, das er denen verheißen hat, die ihn lieben? Ihr aber habt den Armen verachtet! Behandeln euch die Reichen nicht gewalttätig und schleppen sie euch nicht vor die Gerichte? Lästern sie nicht den guten Namen, der über euch ausgerufen ist? Wenn ihr wirklich das königliche Gesetz erfüllt gemäß dem Schriftwort „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, dann handelt ihr gut; wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet vom Gesetz als Übertreter überführt.

Und, habt ihr und haben Sie heute hier in der Kirche alle einen guten Platz gefunden? Sitzen Sie bequem, hört und seht ihr gut und fühlt euch wohl? Oder hätte jemand lieber woanders gesessen, nur war da dummerweise schon belegt? Oder hat es sich ergeben, dass Sie neben jemand sitzen, neben dem Sie lieber nicht gesessen hätten? Oder haltet ihr und halten Sie diese Fragen für völlig daneben und überflüssig? Weil es doch eigentlich gar nicht wichtig ist, wer wo und neben wem sitzt – erst recht in einem christlichen Gottesdienst!
Nun, wenn Sie dieser Meinung sind, dann ist das sehr demokratisch und sozial und auch ganz im Sinne der geschwisterlichen Liebe. Nur: so funktioniert es leider nicht – weder im alltäglichen noch im sonn-täglichen Leben. Nicht nur, weil fast immer die Schnellsten und die Stärksten die besten Plätze ergattern – oder die, die am meisten zahlen. Sondern auch, weil wir in Fragen der Sitzordnung viele ungeschriebene Gesetze und unbewusste Verhaltensregeln mit uns herumschleppen. Und die machen es sehr wohl zu einer wichtigen Frage, wer wo zu sitzen kommt – auch in der Kirche.
Eine solche Regel heißt: Je weiter vorn, desto wichtiger. Deshalb sitzt Annika heute in der ersten Reihe, und Dorines hätte da auch ein Platz zugestanden, denn sie sind die Hauptpersonen in diesem Gottesdienst. Und deshalb finden Konferenzen so gern an runden Tischen statt, damit man sich über diese Frage nicht streiten muss.
Wenn allerdings, wie normalerweise im Gottesdienst, die Wahl der Plätze frei ist, dann kann das ungeschriebene Gesetz auch lauten: Wer sich in die erste Reihe setzt, will sich wichtig machen. Das hat dann zur Folge, dass ganz vorn nur Pastoren und Presbyter sitzen, denen man das von Amts wegen zugesteht. Aber die übrige Gemeinde zieht sich gern dezent in die mittleren bis hinteren Bänke zurück. Oder haben Sie es je erlebt, dass sich ein „ganz normales“ Gemeindeglied in die erste Reihe setzt, obwohl hinten noch alles frei ist? Das tut man eben nicht – und wer’s doch täte, würde komisch angeguckt.
Eine andere Regel heißt: Wer zusammengehört, sitzt auch zusammen: zum Beispiel als Familie oder wie die vielen Jugendmitarbeiter in den blauen Pullis heute morgen. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn Menschen bisher immer zusammen saßen und es dann plötzlich nicht mehr tun, sondern im Gegenteil auf Abstand halten, dann hat wohl auch die Zusammengehörigkeit gelitten.
Und schließlich gibt es noch die Regel: Hier sitzen die, die immer hier sitzen. Stammplätze haben natürlich auch ihr Gutes. Im Gottesdienst besagen sie: Hier gibt es Menschen, für die der Kirchgang eine gute Gewohnheit ist, und die haben dann eben auch ihren gewohnten Platz. Aber Stammplätze, auch solche im übertragenen Sinn, haben einen großen Nachteil: Sie engen den Platz für Neuankömmlinge ein. Da sind dann die Alteingesessenen, die meinen, dass sich Neuankömmlinge ihren Stammplatz erst mal verdienen müssen, indem sie nach den Regeln spielen, die die Alten gemacht haben. Oft werden diese Regeln gar nicht bewusst aufgestellt, sondern verdanken sich einfach der Macht der Gewohnheit. Und wer diese ungeschriebenen Regeln nicht kennt oder sie zwar kennt, aber gern verändern möchte, der hat es schwer, seinen Platz zu finden – selbst dann, wenn die Stammsitz-Leute eigentlich gern offen und einladend sein möchten.
Also ärgert sich die Kerngemeinde jeden Herbst wieder über neue Konfirmanden, die nicht wissen, wie „man“ sich in der Kirche benimmt (woher sollten sie’s auch wissen?). Also haben es Jugendliche aber auch mit Ihresgleichen schwer, wenn sie zu keiner Clique gehören, wenn sie aus irgendwelchen Gründen nicht gemocht werden, obwohl vielleicht gar keiner diese Gründe wirklich benennen kann. Also kann es auch eine neue Jugendreferentin schon mal schwer haben mit neuen Ideen und Veränderungen, weil die Altgedienten es nur so kennen, wie’s schon immer war, und an ihren vertrauten Ritualen hängen.
Hat unser Predigttext eine Lösung für diese Probleme? Zumindest zeigt er uns, dass die Frage nach dem „Ansehen der Person“ die Christenheit von Anfang an beschäftigt hat, weil es damit eben schon immer Probleme gab. In unserer Gemeinde wird sich die Wichtigkeit und Wertschätzung wohl nicht nach dem Geldbeutel bemessen. Das könnte der Jakobusbrief uns also nicht mehr vorwerfen. Aber die Gefahr, Menschen und Mitchristen nach Äußerlichkeiten zu beurteilen, die hat noch viele andere Facetten. Da spielt es dann sehr wohl eine Rolle, wie jemand aussieht, wo jemand herkommt, wie lange jemand schon dabei ist oder schlicht ob uns jemand sympathisch ist oder nicht. Und entsprechend teilen wir dann die Plätze zu – bewusst oder unbewusst.
Wir schwingen uns damit zum Richter auf, sagt Jakobus. Und weil uns das nicht zusteht, können die Urteile, die wir dabei fällen, nur verkehrt sein. Stattdessen erinnert er uns an den einzigen Maßstab, der wirklich zählt. Er erinnert uns an Gott, der als einziger wirklich über Menschen urteilen kann. Und Gottes Urteil lautet: „Egal wer du bist und wo dein Platz ist, egal, was du hast und kannst, egal, ob man dich mag oder nicht: Du bist mein geliebtes Kind, ich habe dich erwählt, du gehörst zu mir.“
Jakobus betont vor allem die Erwählung der Armen, so wie es Jesus schon getan hat. Das war und ist auch nötig überall dort, wo die Armen verachtet werden. Aber im Grunde gilt, dass jeder Mensch von Gott erwählt ist, weil Christus für alle gestorben und auferstanden ist. Jeder, der zu einer christlichen Gemeinde gehört, hat das zugesagt bekommen durch die Taufe. Also ist auch jeder und jede von ihnen gleich wichtig – egal, ob sie viel oder wenig oder gar keine Kirchensteuern zahlen. Egal, ob sie 14, 40 oder 80 sind. Egal, ob sie seit Generationen in der Gegend wohnen oder gerade erst zugezogen sind. Egal, ob sie sich Kirche so vorstellen, wie wir das schon immer gewohnt waren, oder ob sie ganz andere Ideen und Interessen mitbringen. Und noch mehr: Gottes Erwählung gilt auch denen, die sie missachten oder bei denen sie noch gar nicht angekommen ist: den Ausgetretenen, den nie Getauften, ja sogar den Anhängern anderer Religionen und Weltanschauungen. Ist uns das klar? Gehen wir ihnen entgegen? Laden wir sie ein? Wollen wir sie mit dabei haben? Wenn Gott auch sie erwählt hat, dürfte das doch eigentlich keine Frage sein – oder?
Dich, Dorines, hab ich immer so erlebt, dass dir das in der Tat keine Frage war, und dafür können wir dir und Gott dankbar sein. Dir war immer jeder und jede Einzelne wichtig. Du bist allen Kindern, Konfis, Jugendlichen, Mitarbeitern nachgegangen, so gut du konntest. Und du hast immer besonders auf die geachtet, die es mit sich und anderen schwer hatten und die deshalb außen vor waren oder herauszufallen drohten. Und so wie ich dich, Annika, bisher kennen gelernt habe, glaube ich, dass es bei dir auch so ist. Also bin ich zuversichtlich, dass in unserer Kinder- und Jugendarbeit auch weiterhin gerade solche einen guten Platz haben, die anderswo stehen oder auf dem Boden sitzen müssen. Die in der Familie, in der Schule, unter Gleichaltrigen nicht die Zuneigung und Anerkennung finden, die sie brauchen und verdient haben. Die aber bei uns merken: Hier werde ich akzeptiert, hier kann ich eine Aufgabe finden und zeigen, was ich kann. Und die dann auch erfahren: Das ist deshalb so, weil man sich hier, in der Gemeinschaft der Christen, nach Gottes Maßstäben richtet: nach seiner Erwählung, seiner Liebe und seiner Barmherzigkeit.
So möge es sein in unserer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. So möge es sein in unserer Gemeinde insgesamt. Allerdings: Es wird und bleibt nicht von alleine so. Wir werden zu dem, was ich gesagt habe, zwar innerlich mit dem Kopf nicken; denn so haben wir es ja alle gelernt von Jugend auf. Aber das war auch schon bei denen so, an die der Jakobusbrief sich wendet. Trotzdem muss er ihnen vorwerfen: Ja, ihr glaubt alle an unsern Herrn Jesus Christus, ja ihr wisst um Gottes Erwählung, ja ihr kennt und akzeptiert das Gebot der Nächstenliebe – doch ihr handelt nicht danach. Da klafft ein tiefer Graben zwischen dem, was ihr glaubt, und dem, was ihr tut. Deshalb betont er so sehr, dass der Glaube an Jesus Christus der Glaube an den „Herrn der Herrlichkeit“ ist, der kommen wird, um Gericht zu halten. „Wie wollt ihr in diesem Gericht bestehen“, fragt Jakobus, „wenn eure Taten dort keinen Bestand haben? Denn täuscht euch nicht: Nach euren Taten wird Gott euch beurteilen, nicht nach Lippenbekenntnissen und schönen Worten – und das stellt euch mal nicht zu angenehm vor!“
„Ein unbarmherziges Gericht wird über den ergehen, der nicht Barmherzigkeit getan hat“, so endet der Abschnitt, den ich zu Beginn gelesen habe. Das ist knallhart. Und ich denke, dass es so nicht stehenbleiben kann. Denn es fehlt dabei der Hinweis auf Gottes Barmherzigkeit, die dem Sünder gnädig ist – auch im Gericht. Aber als ernste Mahnung haben die Worte des Jakobusbriefes gleichwohl Bestand. Es ist Gott nicht egal, wie wir unsere Mitmenschen behandeln, wem wir die Ehrenplätze einräumen und wen wir an den Katzentisch verbannen, wen wir umarmen und wem wir die kalte Schulter zeigen. Deshalb sollten wir uns immer wieder sorgfältig prüfen, ob wir dem Maßstab der Nächstenliebe gerecht werden. Und wenn wir dabei feststellen, wo wir versagt haben, da sollten wir nicht zu stolz sein, um Vergebung zu erbitten – und nicht zu hartherzig, um Vergebung zu gewähren. Wenn das geschieht, dann hat, wie wir gleich singen werden, Gott wirklich „unter uns schon sein Haus gebaut. Ja, dann schauen wir heut schon sein Angesicht in der Liebe, die alles umfängt.“ Amen.

Ihr Pastor Martin Klein