Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 28. Oktober 2018

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWEIUNDZWANZIGSTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: Röm 7,14-25a

Wir wissen ja, dass das Gesetz geistlich ist; ich aber bin fleischlich, verkauft unter die Sünde. Denn ich weiß nicht, was ich tue. Ich handle nämlich nicht so, wie ich will, sondern was ich hasse, das mache ich. Wenn ich aber das mache, was ich nicht will, gestehe ich dem Gesetz zu, dass es gut ist. Nun aber tue nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.

Ich weiß ja, dass in mir – das heißt: in meinem Fleisch – nichts Gutes wohnt; das Wollen ist mir nämlich möglich, das Tun des Guten aber nicht; denn ich mache nicht das Gute, das ich will, sondern das Schlechte, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber das mache, was ich nicht will, dann tue nicht mehr ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.
Ich entdecke also die Regel, dass mir, der ich das Gute machen will, nur das Böse möglich ist; denn ich freue mich am Gesetz Gottes als der Mensch, der ich im Innersten bin, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das gegen das Gesetz meines Verstandes zu Felde zieht und mich gefangen nimmt durch das Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist.
Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem dem Tode verfallenen Leib? Dank aber sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!

Ich handle nicht so, wie ich will. Ich tue nicht das, was ich eigentlich als gut und richtig erkannt habe. Ich habe genaue Vorstellungen von dem Menschen, der ich eigentlich gern wäre, muss aber zugeben, dass ich dieser Mensch nicht bin, dass ich an meinen Idealen immer wieder scheitere. Diese Erfahrung kennen wir alle, denn wir machen sie jeden Tag aufs Neue.
Ich rede da am besten erst mal von mir selber: Eigentlich will ich zum Beispiel möglichst oft mit dem Fahrrad unterwegs sein, weil’s gesund ist für mich und gut für die Umwelt; aber dann fehlt doch wieder irgendwie die Zeit oder das Wetter ist zu schlecht oder ich bin schlicht zu faul. Eigentlich weiß ich, dass Tempo-30-Zonen ihren guten Sinn haben, aber dann fahre ich doch wieder zu schnell da durch – ist ja gerade kein Kind zu sehen, und ich hab’s doch so eilig! Eigentlich will ich schon lange höchstens noch Tiere essen, die bis zu ihrer Schlachtung ein gutes, artgerechtes Leben hatten, aber dann ist das Fleisch und die Wurst aus dem Supermarkt eben doch wieder billiger und schneller gekauft.
Das sind natürlich eher Kleinigkeiten. Aber oft nimmt der Graben zwischen Wollen und Tun auch Dimensionen an, die ernsthaft gefährlich sind für mich selbst und andere. Da gibt es zum Beispiel Leute, die genau wissen, dass sie sich durch ihre Sucht ruinieren und die doch das Rauchen oder Trinken nicht lassen. Es gibt Sexualverbrecher, denen völlig klar ist, dass es böse ist, was sie tun, und die doch ihren Trieb nicht beherrschen können. Es gibt Politiker, die durchaus eine Vorstellung von ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl haben. Und doch lassen sie keine Gelegenheit aus, erstmal für sich selber zu sorgen und sich möglichst lang an der Macht zu halten. Und die Kleinigkeiten, von denen ich eben sprach, summieren sich eben auch zu großen Problemen, weil es viele sind, die so handeln bzw. nicht handeln.
Wie gesagt: das alles wissen wir und kennen wir. Trotzdem halten wir gern an der Überzeugung fest, dass es auch anders ginge – im Prinzip jedenfalls. Wir könnten das Gute, das wir erkannt haben, auch tun, denken wir – wenn wir nur mal richtig konsequent wären, wenn wir uns ordentlich am Riemen reißen würden, wenn unser innerer Schweinehund nicht wäre. Und bei denen, wo es aus eigener Kraft nicht geht, braucht es vielleicht eine Entziehungskur, eine Therapie oder auch nur einen ordentlichen Denkzettel, um sie dazu zu bringen, ihr Verhalten zu ändern. Wenn wir doch eigentlich wissen, was gut ist, dann – so folgern wir – muss doch jeder Mensch letztlich einen guten Kern haben. Wenn man an den nur mal richtig ran käme und ihn aktivieren könnte, dann würde alles gut. In dieser Hoffnung erziehen wir unsere Kinder und versuchen ihnen Werte zu vermitteln. In dieser Hoffnung arbeiten wir an der Verbesserung von Lebensverhältnissen, um Gewalt und Verbrechen einzudämmen. In dieser Hoffnung appellieren wir immer wieder an den guten Willen, den gesunden Menschenverstand, das Gewissen oder wie auch immer wir es nennen mögen. Im Blick auf die Besserung des Menschengeschlechts sind wir unverbesserliche Optimisten. Sonst müssten wir ja auch verzweifeln – an der Menschheit und an uns selber.
Weil es so ist, können wir kaum ertragen, was Paulus im siebten Kapitel des Römerbriefs schreibt. Denn er mutet uns zu, alle Hoffnung auf das Gute im Menschen fahren zu lassen. Vergesst es, sagt er, es gibt keinen guten Kern! Zwar hat Gott den Menschen eigentlich gut erschaffen. Eigentlich sollte er am Guten seine Freude haben. Eigentlich sollte er ganz selbstverständlich den guten Geboten Gottes folgen. Aber es gibt diesen Menschen nicht. Es gibt ihn jedenfalls nicht mehr. Er hat gleich die erste Gelegenheit genutzt, um Gottes Gebot zu übertreten, um sich von Gott und dem Guten zu trennen. „Ihr sollt nicht von diesem Baum essen“, hatte es geheißen, aber sie haben es doch getan, die ersten Menschen, erst die Frau, dann der Mann. Seitdem sind sie und alle ihre Nachkommen von Gott getrennt, und diese Trennung herrscht über sie wie eine fremde Macht, wie ein Sklavenhalter. Paulus nennt diese Macht Sünde. Wo sie hergekommen ist, warum sie damals im Paradies schon auf der Lauer lag, um die Menschen zu verführen, das kann und will er nicht erklären. Aber dass sie da ist und dass jeder Mensch ihr mit Haut und Haaren verfallen ist, davon ist er fest überzeugt. Das bisschen guter Wille, das hier und da noch durchschimmert, kann daran nichts ändern.
Anders als Paulus können wir die Geschichte von Adam und Eva und ihrem Sündenfall nicht mehr buchstäblich verstehen. Wir können sie nicht mehr als ein einmaliges Ereignis betrachten, das einem ersten Menschenpaar vor langer Zeit tatsächlich passiert ist. Wir können deshalb nicht mehr davon sprechen, dass uns die Sünde von unser aller Ureltern sozusagen vererbt wurde. Aber wir können durchaus wahrnehmen, dass wir immer schon in eine Welt hineingeboren werden, die getrennt von Gott lebt und in der das Böse herrscht. Sobald unser Erdenleben beginnt, sind wir Teil einer Gesellschaft, die auf Kosten der Natur und auf Kosten der armen Länder dieser Erde lebt – auch wenn wir noch nichts Böses getan haben und auch noch gar nicht wissen, was böse ist. Und selbst wenn wir dabei bleiben könnten, selbst wenn wir im Leben alles richtig machen würden und uns nichts zuschulden kommen ließen, hätten wir doch immer noch Anteil an dem Bösen, das um uns herum geschieht, und wir würden zwangsläufig mitschuldig daran.
Es gibt also kein richtiges Leben im falschen. Ziemlich oft haben wir nur die Entscheidungsfreiheit zwischen mehreren Übeln und können uns höchstens das kleinste davon aussuchen. Da können wir dann noch so sehr das Gute wollen, es steht uns doch nur das mehr oder weniger Böse zur Verfügung, und wir müssen es tun, auch wenn wir uns dafür hassen.
Das klingt deprimierend, ich weiß. So deprimierend, dass wir es von uns aus nie so sagen würden, auch wenn wir vielleicht von ferne ahnen, dass Paulus Recht haben könnte. Wenn es von uns aus wirklich keinen Ausweg aus „des Menschen Elend“ gibt, wie der Heidelberger Katechismus das nennt, dann können wir wirklich nur noch verzweifeln – oder wir müssen es nach Kräften verdrängen, um weiterleben zu können.
Auch Paulus hätte sicher nicht so illusionslos über den Menschen unter der Macht der Sünde geredet, wenn er nicht Jesus Christus begegnet wäre. Erst jetzt, wo er den Ausweg kennt und erfahren hat, kann er die ganze Ausweglosigkeit des Menschen ohne Christus schildern. Er tut es in der Ich-Form, weil er im Rückblick auch sein eigenes früheres Leben so sieht. Und er tut es in der Gegenwartsform, weil das Leben für die meisten Menschen immer noch von der Macht der Sünde bestimmt ist. Aber er tut es zugleich in der Gewissheit, dass es so nicht bleiben muss und dass dieses Leben, für alle, die an Jesus Christus glauben, Vergangenheit ist: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem dem Tode verfallenen Leib?“ Dieser Verzweiflungsschrei ist alles, was dem Menschen bleiben würde, wenn er erkennen würde, wie ausweglos sein Leben ohne Gott ist. „Dank aber sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ Das ist der erleichterte Jubel von denen, die dieses Leben hinter sich gelassen haben. Nicht aus eigener Kraft. Nicht durch die Aktivierung des nicht vorhandenen guten Kerns. Sondern allein durch Gottes Eingreifen. Als er in Jesus Christus Mensch wurde, als er durch seinen Tod am Kreuz der Sünde und dem Tod die Macht nahm, da wurde die Trennung zwischen Gott und Mensch aufgehoben. Da wurden den Sklaven der Sünde die Ketten abgenommen und das Tor zur Freiheit weit aufgestoßen. Jetzt können wir wieder so leben, wie Gott es gewollt hat. Jetzt können wir das Gute, das wir wollen, auch vollbringen. Jetzt können wir wieder unsere Freude haben an Gottes Geboten und aus freien Stücken danach leben.
Das gilt auch für dich und mich. Wir alle haben es durch die Taufe zugesprochen bekommen: Du bist Gottes geliebtes Kind, du gehörst zu ihm. Und deshalb räumt er alles beiseite, was dich von ihm trennt. Das, was du selbst verschuldet hast, aber auch das, was schon vor dir in der Welt war und auch dein Leben prägt und belastet. Du bist frei. Du kannst ins Leben gehen umhüllt von Gottes Liebe, begleitet von seinem Segen. Das ist alles andere als selbstverständlich, und es ist nicht deshalb so, weil du es verdient hättest, sondern deshalb, weil Gott es will.
Gott hat also sein großes Ja gesprochen, zu jedem einzelnen von uns. Da ist es doch eigentlich selbstverständlich, dass wir ihm mit unserem kleinen Ja antworten, dass wir mit Herzen, Mund und Händen einstimmen in den Dank, mit dem unser Predigttext endet: „Ich bin frei, ich bin erlöst – Gott sei Dank!“ Amen.

Ihr Pastor Martin Klein