Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 28. April 2024

Gottesdienst für den Sonntag Kantate

Text: Offb 15,2-4

„Eine alte Frau musste das Bett hüten, und es ging ihr sehr schlecht. Als man sie aber fragte, ob sie an den Tod denke, antwortete sie: ,Det Läwe eß doch so schea! Wat sall ech da ald em Hemmel? Dat eawije Hallelujasenge wird mr och schwinn leid.1‘“ Diese Siegerlän­der Anekdote gibt treffend wieder, wie sich wohl immer noch viele Menschen den Himmel vorstellen: Da sitzen die Seligen in weißen Nachthemden auf einer Wolke, zupfen an der Harfe und singen Halle­luja ohne Ende – weltentrückt, fern von allem Elend, aber eben auch entsetzlich gelangweilt. Ich würde da auch nicht hinwollen, wenn ich die alte Frau wäre.

Heute ist ein Abschnitt aus der Offenbarung des Johannes Predigt­text, der zur Entstehung dieser Vorstellung wohl einiges beigetragen hat. Allerdings nur, weil die meisten Leute ja nicht so genau hin­schauen und nachlesen – und vor allem nicht auf den Zusammen­hang ach­ten. Ich lese aus Offenbarung 15 die Verse 2 bis 4:

Und ich sah, wie sich ein gläsernes Meer mit Feuer ver­mengte, und die den Sieg behalten hatten über das Tier und sein Bild und über die Zahl seines Namens, die standen an dem gläsernen Meer und hatten Gottes Harfen und sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes: „Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist heilig! Ja, alle Völker wer­den kommen und anbeten vor dir, denn deine gerech­ten Urteile sind offenbar geworden.“

Zunächst entspricht das, was Johannes hier sieht, genau dem Kli­schee: Da ist das Himmelsgewölbe, hier allerdings nicht wolkig und weich, sondern hart und fest wie ein Meer aus Glas, und unter der Oberfläche zucken feurige Blitze – warum, darauf komme ich noch zurück. Und da sind die Erlösten – mit den obligatorischen Harfen und den weißen Gewändern (die werden allerdings an einer ande­ren Stelle erwähnt) und mit dem Lobpreis Gottes auf den Lip­pen (das „Halleluja“ kommt dann ein paar Kapitel später). Formu­liert ist der Lobpreis mit vertrauten Worten aus Psalmen und Prophe­ten. Und auch wir kennen sol­che Lobpreislieder zuhauf. Es gibt sie als niveauvolle Werke großer Komponisten, und in schlichterer Form füllen sie unsere Gesangbücher, sowohl die klassi­schen als auch die modernen – mit dem immer gleichen, sehr begrenz­ten Wort­schatz, inhaltlich wenig konkret und abgehoben von allem Irdischen. Je nach musikalischer Qualität und eigener Sanges­lust hat man da mal ein, zwei Stunden Freude dran – aber ohne Pause in alle Ewig­keit? Bitte nicht – noch nicht mal mit Bach-Kantaten!

Doch abgesehen davon, dass der Text nichts über die Dauer des Ge­sangs sagt, hat er noch einige Zwischentöne, die wir bis jetzt über­hört haben – und die passen nicht ins Klischeebild. Zunächst und vor allem: Diejenigen, die hier singen, haben einen echten Grund dazu. Ihnen muss keiner eine Harfe in die Hand drücken und sagen: „So, nun singt mal schön!“ Nein, ihr Lied kommt von Herzen, und es kommt ihnen ganz von selbst über die Lippen. Denn sie singen „das Lied des Mose“, heißt es: So wie damals, als Israel am Schilfmeer stand und sah, wie die schwer bewaffneten Ägypter in den Fluten versanken, so stehen die erlösten Christen am Himmelsmeer und sehen, wie Gottes Gericht sich an denen vollzieht, die sie um ihres Glaubens willen verfolgt und umgebracht haben. Und so wie Mose und Miriam damals mit dem ganzen Volk sangen und tanzten, um Gott für ihre Rettung zu danken, so tun es jetzt auch die Märtyrer. Sie haben an ihrem Glauben festgehalten und sich nicht gebeugt vor dem „Tier und seinem Bild“, sprich: vor der römischen Staatsgewalt in Gestalt der Standbilder des Kaisers. Diese Bilder nicht zu vereh­ren, vor ihnen keine Opfer darzubringen, das war für sie das Todesur­teil. Aber wenn sie vor diesen Bildern niedergefallen wären, hätten sie ihren Glau­ben verraten. Also blieben sie standhaft und nahmen den Tod auf sich. So sind sie dem Vorbild Jesu gefolgt, der seiner Sendung treu blieb bis in den Tod. Und wie bei Jesus war ihr Tod nicht die Nieder­lage, als die sie der Welt erschien, sondern Sieg und Überwindung. Deshalb ist ihr Lied nicht nur das des Mose, son­dern auch das des Lammes: das Lied Jesu, der wie ein Opfer­lamm in den Tod ging und gerade so Sünde und Tod besiegt hat. Seinem Sieg haben sie es zu verdanken, dass auch sie nun als Sieger dastehen: als Überwinder von Hass, Gewalt und Verfolgung.

Es scheint also eine Frage der Perspektive zu sein, was man von den himmli­schen Lobgesängen hält. Wer sagt „Das Leben ist doch so schön“, der hat wenig Grund, sich auf den Himmel zu freuen. Den schreckt vielleicht sogar die Vorstellung eines ewigen Lebens, das er sich nur als endlose Zeit des immer Gleichen vorstellen kann. Aber ein Großteil der Menschheit und auch der Christenheit hat ein Le­ben, das ganz und gar nicht schön ist: ein Leben in bitterer Armut, ein Leben mit Krankheit, für die Linderung und Heilung nicht mög­lich oder nicht erreichbar sind, ein Leben auf der Flucht, ein Leben, das geprägt ist von Gewalt und Unterdrückung, ein Leben ohne Frei­heit, auch ohne Glaubensfreiheit. Ein Leben, um das man fürchten muss, nur weil man Christ ist. Wir wissen von alledem, wir leiden vielleicht auch ein bisschen mit, aber wir leben doch weit weg da­von. Da ist es leicht, das Leben schön zu finden und sich nicht so sehr nach einem anderen zu sehnen. Aber wie sehr werden Christen im Sudan oder in Nordkorea Gottes neue Welt herbeiwünschen, wie sehr werden auch Nichtchristen darauf warten, dass alles anders wird, und was werden sie alle singen und tanzen und jubeln ohne Ende, wenn es endlich soweit ist.

Und bis dahin? Es dauert ja womöglich noch lange, bis Himmel und Erde neu werden. Und auf jeden Fall haben wir bis dahin auf Erden noch ein Leben zu bestehen, egal, ob wir es nun schön oder schreck­lich finden. Was können uns himmlische Lobgesänge dabei helfen? Müssen sie für uns nicht Zukunftsmusik bleiben, während hier und jetzt ganz andere Töne gefragt sind?

Nein, das glaube ich nicht. Denn ich habe mal auf den Zusammen­hang geachtet, in dem unser Predigttext steht. Und da ist keines­wegs schon der ewige Friede ausgebrochen. Sondern Not, Elend und Verfol­gung sind noch im Gang, und auch Gottes Gericht an der Welt ist noch nicht vollendet. Das Feuer im gläsernen Himmelsmeer ist sozusagen das Wetterleuchten des heraufziehenden Sturms. Gerade erst wurden die sieben Schalen des Zorns präsentiert. Sie stehen für die letzten sieben Plagen, die Gott über die Erde schicken wird, um die Gottlosen zu strafen. Und im nächsten Kapitel werden diese Scha­len dann ausgegossen. Sie brin­gen Krebsgeschwüre, verseuchte Meere und Flüsse, glühende Hitze, die Wälder brennen und Ströme austrocknen lässt. Natürlich ist das nicht auf unsere heutigen Umwelt­sünden gemünzt, aber ein wenig mulmig wird einem doch dabei, wie gut das alles in die Gegenwart passt. Könnte Gottes Zorn so aussehen, dass er uns den Katastro­phen überlässt, die wir selber heraufbeschworen haben? Ich frag nur mal!

Aber wie dem auch sei: Mitten im heraufziehenden Untergang hört und sieht nun Johan­nes diesen himmlischen Lobgesang. Eigentlich gehört der da gar nicht hin. Eigentlich nimmt er schon vorweg, was geschieht, wenn alles überstanden ist. Aber ich denke, dass uns dadurch etwas deutlich werden soll: Der Kampf ist noch im Gange, und trotzdem erschallt der himmlische Jubel schon jetzt. Denn der entschei­dende Sieg ist schon errungen. Gott ist Mensch geworden und hat im Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu den Tod überwun­den. Es ist ja das Lied des Lammes, das da gesungen wird, des Lam­mes, das der Welt Sünde trägt und wegträgt. Das wird im Himmel schon besungen, und dieser Gesang schallt bis auf die Erde. Und umgekehrt: Überall auf Erden, wo Christen Gott loben und preisen mit Worten und Tönen, da ist schon jetzt ein Stück Himmel, auch im bedroh­lichsten Chaos dieser Welt: „Tobe Welt und springe, / ich steh hier und singe / in gar sichrer Ruh“, heißt es im Lied „Jesu, meine Freude“. Und wo so und trotz allem gesungen wird, da verän­dert sich etwas. Da schöpfen Menschen Kraft und Mut, auch in ausweg­losen Lagen. Da macht sich Freude breit, trotz allem Leid und aller Trauer. Und da wird Energie freigesetzt, um die Welt zu verän­dern – wenigstens zeichenhaft und ansatzweise. So war es schon bei Paulus und Silas im Gefängnis von Philippi – wir haben in der Schrift­­le­sung davon gehört. So war es bei den Chorälen der Reformati­ons­zeit, die viel zur Stärkung und Festigung der evangeli­schen Bewe­gung beigetragen haben. So war es bei den schwar­zen Bürger­recht­lern in den USA oder in Südafrika, die mit ihren Liedern auf den Lip­pen die Rassentrennung überwanden.

Also lasst auch uns der Aufforderung des Sonntags Kantate folgen und singen – mit alten und mit neuen Liedern. Lasst uns ansingen gegen die Angst, gegen die Niedergeschlagenheit, gegen all die Sor­gen, die wir uns machen um uns und unsere Welt. Und lasst uns nicht vergessen, dass wir damit einstimmen in den Siegesjubel, der im Himmel längst ausgebrochen ist: „Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. Wer sollte dich, Herr, nicht fürch­ten und deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist heilig! Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir, denn deine gerech­ten Urteile sind offenbar geworden.“ Halleluja, Amen.

1 Für Nicht-Siegerländer: „Das Leben ist doch so schön! Was soll ich denn schon im Himmel? Das ewige Halleluja-Singen wird man auch schnell leid.“

Pastor Martin Klein