Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 26.11.2017

Gottesdienst zum Totensonntag

Text: Dan 12,1-3

Alle Menschen müssen sterben. Das ist eine der wenigen unumstößlichen Wahrheiten, die noch niemand in Frage gestellt hat. Gleich wenn wir geboren werden, beginnt die biologische Uhr zu ticken. Und auch wenn sie beim einen schneller und beim anderen langsamer tickt – spätestens mit 120 ist sie abgelaufen. Mag sein, dass die Altersgrenze sich in Zukunft noch weiter hinausschieben lässt, aber solange wir an Raum und Zeit gebunden bleiben, wird sie sich niemals ganz aufheben lassen. Auch die neusten Erkenntnisse der Stammzellenforschung und alle denkbaren Fortschritte der Cybertechnik ändern daran nichts.
Alle Menschen müssen sterben. Das ist für viele auch die einzige Gerechtigkeit, die es auf Erden gibt. Egal, ob wir reich oder arm, klug oder dumm, mächtig oder machtlos, glücklich oder unglücklich sind – am Ende sind wir alle gleich tot. Deshalb hat man im Mittelalter so gern den Totentanz gemalt: Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann: alle zieht der Tod in seinen Reigen, und niemand kann sich dagegen wehren.
Allerdings: Wenn es um das Leben vor dem Tod geht, dann fängt die Ungerechtigkeit schon wieder an: Die einen können sich die besten Medikamente und neusten Behandlungsmethoden leisten, die anderen haben noch nicht mal eine Krankenversicherung. Die einen sind mit hochwertigen Lebensmitteln bestens versorgt, den anderen fehlt schon sauberes Trinkwasser. Die einen leben jahrzehntelang in Frieden und Sicherheit, die anderen leiden ebenso lange unter Krieg und Gewalt. Die einen leben sorglos in den Tag hinein und bleiben gesund, die anderen tun alles für ihre Gesundheit und kriegen mit 40 Krebs. Wirklich gute Menschen sterben jung, und gewissenlose Mistkerle werden uralt. Und die einen entschlafen sanft, während sich die anderen lange quälen müssen. Wir alle haben diese Ungerechtigkeit beim Sterben schon erlebt, und bei manchen von uns ist die Erinnerung daran noch frisch und tut weh. Wie gehen wir damit um? Und wie kriegen wir damit den Glauben an einen Gott zusammen, der gerecht ist und seine Menschen liebt?
Die gleichen Fragen hat sich vor langer Zeit schon der Verfasser des biblischen Buches Daniel gestellt. Zu seiner Zeit stand Israel unter fremder Herrschaft. Der griechisch-syrische König Antiochus IV. regierte das Land und versuchte es religiös und politisch gleichzuschalten. Er plünderte die Städte aus, setzte den legitimen Hohenpriester ab, verbot die jüdische Religionsausübung und ließ – Gipfel der Provokation – im Tempel von Jerusalem eine Zeusstatue errichten. Teilen der Oberschicht in Jerusalem gefiel das. Sie hatten griechische Kultur und Lebensart schätzen gelernt, profitierten von der Zusammenarbeit mit den fremden Herrschern und lebten gut auf Kosten der Armen. Diese Armen waren nun in der Regel auch die Frommen im Land. Sie beachteten Gottes Gebote und hielten an den alten Überlieferungen fest. Aber dafür wurden sie unterdrückt, verfolgt und umgebracht.
Der fromme Weise, dem wir das Buch Daniel verdanken, litt unsäglich unter diesen Verhältnissen. Neben aller äußeren Bedrängnis stellten sie auch seinen Glauben infrage. In Israel war man immer überzeugt gewesen, dass Gott für Gerechtigkeit sorgt: Auf jeder guten, Gott wohlgefälligen Tat liegt Segen, und jeder bösen, gottlosen Tat folgt die Strafe auf dem Fuß. Für Schuld und Strafe verwendete man deshalb sogar das gleiche Wort. Aber nun stimmte das anscheinend nicht mehr: den Gottlosen ging es gut, während die Gottesfürchtigen leiden mussten.
Diese Erfahrung hatten fromme Israeliten natürlich schon früher gemacht. Bereits in Psalm 73 heißt es: „Ich wäre fast gestrauchelt, als ich sah, dass es den Frevlern so gut ging.“ (Ps 73,2-3) Aber der Psalmdichter gelangte noch zu der Überzeugung: „Mag es auch jetzt so aussehen, als ob die Gottlosen triumphieren, am Ende werden sie doch zunichte werden.“ Und auch beim unschuldig leidenden Hiob sorgte Gott am Ende für Gerechtigkeit und gab ihm Familie und Wohlstand zurück. Aber nun erwies sich, dass auch das nicht immer stimmte. Die einen starben, ohne Gerechtigkeit erlangt zu haben, die anderen starben, ohne für ihren Frevel zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Das Leben blieb ungerecht bis zum Schluss.
„Seht ihr“, sagen heute viele, „es gibt eben keinen Gott – jedenfalls keinen, der für Gerechtigkeit sorgt.“ Aber bei dieser trostlosen Sicht der Dinge wollte und konnte unser frommer Weiser nicht enden. Und so wagte er es als erster, einen Gedanken aufzuschreiben, dem man bis dahin in Israel nie Raum gegeben hatte. In Daniel 12,1-3 können wir es nachlesen, am Ende einer ausführlichen Prophezei-ung, die eine himmlische Gestalt dem Daniel übermittelt:

Zu jener Zeit wird Michael auftreten, der große Engelfürst, der für dein Volk einsteht. Denn es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. Und die Vielen, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.

Auferstehung der Toten – hier im letzten Kapitel des jüngsten Buchs im Alten Testament ist zum ersten Mal von ihr die Rede. Nur einmal war die Hoffnung darauf schon angeklungen, in einem Gebet in Jesaja 26. Aber erst hier wird daraus eine gewisse Zuversicht. Lange hatte man sich gegen diesen Ausweg aus dem Elend der Welt gewehrt. Wer stirbt, so sah man es, wird zu seinen Vätern versammelt oder verschwindet in einem Schattenreich namens Sche’ol. Aber das Leben ist mit dem Tod ein- für allemal zu Ende. Und weil Gott ein Gott der Lebenden und nicht der Toten ist, gibt es für die Toten keine Wiederkehr. Wir sollten dem Alten Testament für diese nüchterne Sicht der Dinge dankbar sein, denn sie entspricht ja auch unserer Erfahrung.
Aber nun, im Buch Daniel, wird der Widerspruch zu groß zwischen der Begrenztheit des Lebens und der Gerechtigkeit Gottes. Und so keimt die Hoffnung auf, dass Gott auch bei den Toten noch für Gerechtigkeit sorgen wird: Am Ende der Zeit, wenn die Not unerträglich wird, dann wird Gott Michael, den Schutzengel Israels, senden und die Toten auferwecken. Die einen, die im Buch des Lebens verzeichnet sind, werden ins ewige Leben eingehen, und die anderen, die Gottlosen, werden in ewiger Schmach und Schande versinken. Und wer als „Verständiger“ anderen den Weg gewiesen hat zu Gott und zu einem Leben mit ihm, der darf mit besonderer Ehre rechnen.
Vieles an diesen neuen Gedanken bleibt vage und unbestimmt: Sind „die Vielen“ alle Toten oder geht es nur um bestimmte? Betrifft die Auferstehung nur Israel oder alle Völker? Und wie sieht es aus, das „ewige Leben“ oder die „ewige Schmach“? Spätere haben gerade zu der letzten Frage viel mehr geschrieben. Aber ich bin eher froh, dass sie es nicht in die Bibel geschafft haben. Denn wer als sterblicher Mensch die Ewigkeit beschreiben will, kann eigentlich nur scheitern. Wichtig ist nur: Wer zum Leben auferweckt wird, ist ewig bei Gott, und ewige Schmach ist ewige Gottesferne.
Wie gesagt: Ich bin froh, dass das Alte Testament die Endgültigkeit des Todes ernst nimmt. Ich bin aber auch froh, dass an seinem Ende dann doch noch diese Hoffnung auf Auferstehung durchbricht. Denn anders kann auch ich mir wirkliche Gerechtigkeit nicht vorstellen. Ein Ratko Mladič zum Beispiel mag jetzt für seine Kriegsverbrechen zu lebenslanger Haft verurteilt sein, aber wie viele andere Kriegs-verbrecher sind seit Urzeiten ungeschoren davongekommen! Und wie viele Menschen haben durch Jahrtausende zur Unzeit ihr Leben verloren, viele davon durch anderer Menschen Schuld! Wir mögen für mehr Gerechtigkeit auf Erden noch manches tun können, aber völlige Gerechtigkeit werden wir in diesem Leben niemals herstellen können. Und deshalb bin ich froh, dass Gott am Ende die Dinge gerade rückt, dass er Gericht hält über Lebende und Tote und jeden Menschen zur Verantwortung zieht – auch wenn das für mich per-sönlich sicher nicht nur angenehm sein wird.
Eine Frage bleibt allerdings: Hat die Hoffnung aus dem Buch Daniel denn einen zureichenden Grund? Schließlich widerspricht sie der allgemeinen Erfahrung und auch der bisherigen Überzeugung Israels. Viele Juden glauben deshalb bis heute nicht an eine Auferstehung der Toten, auch wenn sie ansonsten gläubig sind.
Christen dagegen haben für ihre Hoffnung festen Grund, denn sie kommen von Ostern her. Wenn es stimmt, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, wenn uns also einer auf diesem Weg schon vorangegangen ist, dann dürfen wir mit gutem Grund an die Auferstehung der Toten glauben. Und dann entscheidet sich an Jesus auch, wie wir auferstehen werden. Denn wenn er für unsere Schuld schon bezahlt hat, dann dürfen wir mit unserem Lesungstext hoffen, dass wir nicht ins Gericht kommen, jedenfalls nicht im Gericht verurteilt werden, sondern vom Tod schon zum Leben hindurchgedrungen sind. Wer an Jesus Christus glaubt, der hat schon das ewige Leben, auch hier und jetzt.
Und wer nicht an ihn glaubt? Droht dem die ewige Schande? Ich glaube, darüber muss ich gar nicht nachgrübeln. Ich darf einfach darauf vertrauen, dass Gott in Christus die Welt mit sich versöhnt hat. Und auch mit denen, die diese Versöhnung für sich nicht angenommen haben, wird er es schon richtig machen – so gerecht und so liebevoll, wie nur er es kann. Amen.

Ihr Pastor Dr. Martin Klein