Gottesdienst für den Sonntag Judika
Text: Hebr 5,7-9
Christus hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte; und er ist erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. So hat er, obwohl er der Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt. Und da er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber der ewigen Seligkeit geworden.
Es ist eine erstaunliche Aussage, die in diesem kurzen Text steckt. Oder hätten Sie gedacht, dass der allmächtige und allwissende Gott noch etwas dazulernen kann? Hier tut er es aber; denn in seinem Sohn Jesus Christus begibt er sich in die Schule des Leidens.
Damit wir erfassen können, was daran so erstaunlich ist, müssen wir uns zunächst ein paar Gedanken darüber machen, was das denn ist, die „Schule des Leidens“. Auf jeden Fall ist es ein altmodischer Ausdruck. Er wird nur noch selten verwendet, besonders in Nachrufen auf Verstorbene, wo man sich gern ein bisschen feierlicher ausdrückt als sonst. Wenn man da über jemanden sagt, dass er oder sie durch die Schule des Leidens gehen musste, dann meint man, dass der oder die Betreffende viel Schweres durchmachen musste.
Wie gesagt – es ist ein altmodischer Ausdruck; denn vom Leiden hören, sehen und reden wir ja heute gern so wenig wie möglich. Es gab mal eine Zeit, da war das anders. Da fand das Leiden auch bei uns noch in der Öffentlichkeit statt, und niemand konnte daran vorbei. Damals, 1945 folgende, hatte jeder die zerstörten Häuser vor Augen und die Schrecken der Bombennächte noch in den Gliedern. Auch wer den Krieg heil überlebt hatte, sah doch täglich die Versehrten auf ihren Krücken, die Vertriebenen auf ihrer Suche nach einer neuen Bleibe, die ausgemergelten Gestalten, die nichts zu beißen und wenig Hoffnung hatten. Wer von Ihnen alt genug ist, um sich daran zu erinnern, hat die Bilder sicher noch im Kopf. Und wenn sie heute die Fernsehbilder aus der Ukraine sehen, kommt bei vielen die Erinnerung wieder hoch. Aber es sind eben für uns doch nur Fernsehbilder. Im Übrigen beschränkt sich unser konkretes Leiden am Ukraine-Krieg auf gestiegene Energiepreise, und die werden vom Staat noch großzügig abgefedert.
Trotzdem geschieht auch hier bei uns viel Leid. Aber wenn nicht gerade sowas wie letztens in Freudenberg passiert, findet es unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Wer leidet, der tut es oft für sich allein – höchstens ein paar nahe Angehörige leiden noch mit. Alle anderen verdrängen, so gut sie können, dass es so etwas wie Leid und Schmerzen gibt und dass es sie selbst einmal treffen könnte. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Natürlich bin ich heilfroh über den langjährigen Frieden und Wohlstand, der manche Art von Leiden bei uns kaum noch vorkommen lässt. Ich freue mich für jeden Menschen, dem Leid und Schmerzen erspart bleiben, und ich bin dankbar für all die Möglichkeiten, die uns heute helfen, Leid zu lindern. Das Problem ist nur: Je fremder uns das Leiden wird, desto weniger können wir damit umgehen, wenn es uns dann doch begegnet. Dass man mit Leid und Schmerzen leben kann, ja dass man durch Leiden sogar etwas lernen kann, dieser Gedanke ist uns fern gerückt. Und deshalb ist „Schule des Leidens“ ein altmodischer Ausdruck.
Aber was könnte es denn nun sein, was man in der Schule des Leidens lernen kann? Eine alte, immer noch beliebte Antwort auf diese Frage lautet: Man muss vor allem lernen, sich die Angst und den Schmerz nicht anmerken zu lassen. „Lerne leiden, ohne zu klagen“, hieß es zu Großvaters Zeiten, „ein richtiger Junge weint nicht“, sagten meine Eltern, „bleib cool“, heißt es heute. Mir fällt dazu dieser reiche Bankier auf der Titanic ein. Als das Schiff sank, zog er seinen Frack an und bestellte sich eine Flasche Champagner, um wenigstens wie ein Gentleman zu ertrinken. Oder ich erinnere mich an einen krebskranken Mann, der bis zum Ende den Optimisten und starken Beschützer seiner Frau spielte, obwohl es ihm viel schlechter ging als ihr. Dieser Hang zur Selbstbeherrschung um jeden Preis ist uns Männern wohl nur schwer auszutreiben. Frauen billigt man mehr Gefühlsäußerungen zu, aber richtige „Heulsusen“ oder „Klageweiber“ werden auch nicht gemocht. Dabei wissen wir doch eigentlich, dass es uns nicht gut tut, wenn wir alles Unangenehme überspielen oder in uns hineinfressen.
Aber „cool bleiben“ war es nicht, was Jesus durch sein Leiden gelernt hat. Denn im Text heißt es: „Er hat Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte“. Mir kommen dazu Szenen aus den Evangelien in den Sinn: Jesus, der am Grab seines Freundes Lazarus in Tränen ausbricht. Jesus im Garten Gethsemane, der vor Todesangst Blut schwitzt und Gott anfleht, ihm dieses Schicksal zu ersparen. Jesus am Kreuz, der mit letzter Kraft seine Verzweiflung hinaus schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Nichts steht da von gespielter Gelassenheit und vorgetäuschtem Gleichmut, nur etwas vom nackten, ehrlichen Aufschrei eines gequälten Menschen. Und im Hebräerbrief heißt es, dass Jesus gerade so Gott in Ehren hielt. Denn er verzichtete auf alle Versuche, Haltung zu bewahren und selbst mit allem fertig zu werden. Sein Hilfeschrei galt dem, der als einziger Halt geben kann, wenn alles zusammenbricht: Er galt Gott, der ihn aus dem Tod erretten konnte.
Und dieser Hilfeschrei wurde erhört, sagt der Text. Aber stimmt das denn? Mag ja sein, dass Gott ihn retten konnte, aber er hat es doch gerade nicht getan! Nichts ist Jesus erspart geblieben bis zum bitteren Ende. Sein Tod bestätigt doch anscheinend das, was viele für die wahre Lehre aus der Schule des Leidens halten: Wenn’s dir ganz dreckig geht und du wirklich am Ende bist, dann hilft dir keiner mehr. Dann bist du ganz allein mit deiner Angst und deinem Schmerz. Und dann kannst du noch so sehr zu Gott um Hilfe schreien – du wirst keine Antwort bekommen. In Wahrheit ist da nämlich gar keiner, der dich hört. Viele machen diese Erfahrung, und ich merke immer wieder, dass ich kaum dagegen anreden kann. Denn ich weiß ja auch nicht, warum Gott zu so viel unsäglichem Leid einfach schweigt.
Trotzdem: der Text redet davon, dass Jesus erhört worden ist, und ich möchte versuchen zu verstehen, wie das gemeint ist. Vielleicht besteht die Erhörung in dem, was Jesus durch sein Leiden gelernt hat. „Christus hat durch sein Leiden Gehorsam gelernt“, sagt der Hebräerbrief. Auch das klingt hart in unseren Ohren. Ich muss an Sklaven und Zwangsarbeiter denken, die solange misshandelt werden, bis sie vor ihren Unterdrückern kuschen, weil ihr Wille gebrochen ist. Hat Jesus so durch Leiden Gehorsam gelernt? Dann hätten diejenigen Recht, die unseren Gott für einen Sadisten halten, den nur ein blutiges Opfer zufrieden stellen kann. Aber man kann es auch anders lesen: Jesus hat in seinem Leiden gelernt, auf Gott zu hören, ihm zu vertrauen und sich ganz auf ihn zu verlassen. „Nicht wie ich will, sondern wie du willst“, sagt der betende Jesus im Garten Gethsemane. So hatte er bisher gelebt: in einer ganz unmittelbaren Beziehung zu Gott, ganz eins mit dem Willen Gottes für diese Welt. Dass er diese Beziehung zu Gott durchgehalten hat, auch im Leiden und Sterben bis hin zum letzten Schrei am Kreuz, das war der Gehorsam, den er gelernt hat. Und das war auch die Erhörung seiner Gebete, seine „Errettung aus dem Tode“. Denn wer tot ist, hat keine Beziehungen mehr, auch keine Beziehung zu Gott. Vor dieser Beziehungslosigkeit hat Gott Jesus bewahrt. Er hat nicht zugelassen, dass der Tod und die Gottverlassenheit das letzte Wort behalten. Darum geht es, wenn wir bekennen, dass Jesus lebt, weil Gott ihn von den Toten auferweckt hat.
Aber nun noch einmal zurück zum Anfang. Da habe ich gesagt, dass Gott selber sich in die „Schule des Leidens“ begeben hat. Und dabei bleibe ich auch. Denn es ist ja nicht irgendein Mensch, der hier durch Leiden Gehorsam lernt, sondern es ist der Sohn Gottes. Und das heißt: Gott selbst geht diesen Weg durch Leiden und Tod, den wir alle beschreiten müssen. Wenn das stimmt, dann hat die Passionsgeschichte nicht nur Bedeutung für den einen Menschen Jesus, sondern für alle Menschen, die Gott geschaffen hat. Dann ist es Gott, der für uns am Kreuz stirbt, damit wir leben können. Deshalb heißt es am Schluss des Textes: „Als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber der ewigen Seligkeit geworden.“ Dem Gott, an den wir glauben, ist in der Tat nichts Menschliches fremd, auch kein menschliches Leid, denn er hat das alles am eigenen Leib erfahren. Gerade dann, wenn Angst und Schmerzen über uns zusammenzuschlagen drohen, wenn Gott ganz weit weg zu sein scheint, dann ist er uns in Wirklichkeit besonders nahe – eine rettende Insel, auf die wir uns flüchten können, eine Hand, die uns aus dem Strudel zieht. Wohl dem, der diese Hand ergreifen kann, und sei es nur mit einem Verzweiflungsschrei, wie ihn Jesus am Kreuz ausstieß. Ich weiß, dass ich damit nicht alle Leidenden trösten kann und dass auch nicht alle Leidenden es so erleben. Aber ich weiß auch von vielen, die diese Nähe Gottes erfahren haben – im Krieg, auf der Flucht, in einer schweren Krankheit, auch auf dem Sterbebett. Und ich kann nur hoffen und darum beten, dass mir und Ihnen diese Erfahrung nicht versagt bleibt. Ich möchte das zum Schluss dieser Predigt tun mit einer Liedstrophe von Paul Gerhardt:
„Wenn ich einmal soll scheiden,
so scheide nicht von mir,
wenn ich den Tod soll leiden,
so tritt du dann herfür;
wenn mir am allerbängsten
wird um das Herze sein,
so reiß mich aus den Ängsten
kraft deiner Angst und Pein.“
Ihr Pastor Martin Klein