Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 26.02.2017

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG ESTOMIHI

Text: Lk 10,38-42

Wenn ich ältere Gemeindeglieder zum Geburtstag besuche, rechnen die meisten ja schon mit mir. Manche allerdings auch nicht. In solchen Fällen löse ich durch mein Erscheinen schon mal ungewollt hektische Betriebsamkeit aus. „Ach du Schreck“, denkt dann das – meist weibliche – Geburtstagskind, „der Pastor kommt, und ich bin doch noch gar nicht fein gemacht und hab noch nichts vorbereitet!“ Und dann heißt es: „Ach, Herr Pastor, das ist aber eine Überraschung! Legen Sie doch ab und setzen sich schon mal ins Wohnzimmer! Ich mach nur schnell Kaffee und ein paar belegte Brötchen – oder möchten Sie lieber Kuchen? Dann müsste ich aber noch mal schnell zum Bäcker. Ich hab zwar schon Torte geholt, aber die sieht so zerdetscht aus, die kann ich Ihnen nicht anbieten. Bitte, nehmen Sie doch Platz! Darf ich Ihnen solange ein Gläschen Sekt anbieten oder ein Schnäpschen vielleicht? Ach, Sie müssen ja noch fahren – na dann vielleicht ein Glas Saft, oder lieber Tee? Ich kann Ihnen auch Tee machen! Nehmen Sie doch den Sessel, der ist bequemer. Und entschuldigen Sie, dass noch nicht alles aufgeräumt ist – ich dachte ja nicht … – aber jedenfalls schön dass Sie da sind!“ Und dann sitze ich erst mal ziemlich lange allein im Wohnzimmer herum, bis meine Gastgeberin all ihren echten und vermeintlichen Pflichten Genüge getan hat. Dabei hätte es mir doch völlig gereicht, mich in aller Ruhe mit ihr zu unterhalten und, wenn gewünscht, noch ein Gebet zu sprechen. Dazu bleibt dann womöglich gar keine Zeit mehr – erst recht, wenn zwischendurch noch fünf Gratulanten am Telefon sind.

Wahrscheinlich haben Sie ähnliche Situationen auch schon erlebt, entweder als Gast oder als Gastgeber. Jetzt stellen Sie sich vor, da käme jemand nicht nur für ein halbes Stündchen am Vormittag, sondern als Übernachtungsbesuch, und er käme nicht allein, sondern brächte noch ein Dutzend Freunde mit. Dann können Sie sich ungefähr vorstellen, wie es zuging, als Jesus mit seinen Jüngern bei Maria und Marta einfiel. Bei Lukas, in Kapitel 10, können wir es nachlesen:

Als sie aber weiter zogen, kam Jesus in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: „Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll!“ Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: „Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“

Nach dem, was ich eben erzählt habe, kann ich Marta bestens verstehen, und Sie wahrscheinlich auch. Wenn hier beim Gospelworkshop hundert Leute einfach Spaß hätten und die Zeit genießen würden, während an einem oder zweien die ganze Arbeit hängen bliebe, so dass die gar nicht mehr zum Singen kämen, dann wäre ich an deren Stelle auch ziemlich sauer. Aber auf der anderen Seite kann ich auch Maria verstehen: Man hat schließlich nicht alle Tage Jesus zu Gast – da möchte man natürlich auch hören, was er zu sagen hat! Und ich kann sogar verstehen, dass Jesus Maria gegenüber Marta in Schutz nimmt. Denn schließlich hat er mal gesagt, dass er nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen. Und er möchte, dass möglichst viele etwas von seiner Botschaft mitbekommen, und zwar nicht nur die Männer, wie es damals üblich war, sondern auch die Frauen.

Jesus will allerdings mit seiner Antwort nicht sagen: Das, was Marta tut, ist weniger wertvoll. Er will auch nicht sagen, dass Maria die emanzipiertere Frau ist, weil sie mit den Männern dem Rabbi Jesus zu Füßen sitzt. Marta ist nämlich keineswegs nur das Heimchen am Herd, sondern sie ist die Gastgeberin: Ihr gehört offenbar das Haus, in das sie Jesus aufnimmt. Und Gastgeberinnen und Hausbesitzerinnen waren damals genauso ungewöhnlich wie Schülerinnen eines Rabbi. Also: nicht, was Marta tut, ist falsch, sondern sie tut es zum falschen Zeitpunkt. Vor lauter Geschäftigkeit verpasst sie das, was Jesus auch ihr zu sagen hätte. Sie hat ihn zu Gast und hat doch nichts davon. Schade eigentlich!

Nun wollte Lukas uns allerdings nicht nur eine nette Anekdote aus dem Leben Jesu erzählen. Er wollte vielmehr den Christen seiner Zeit etwas sagen. Darauf weisen jedenfalls ein paar Stichworte hin, die aus dem Gemeindeleben seiner Gegenwart stammen. Für das „Dienen“ der Marta verwendet Lukas das Wort diakoni,a. Und wenn Sie dabei an unsere Diakonie denken, dann liegen Sie völlig richtig. Diakonia war schon zu Lukas’ Zeiten der Fachausdruck für alles, was in den christlichen Gemeinden an tätiger Nächstenliebe geschah: Arme speisen, Kranke pflegen, Einsame besuchen, für das äußere Wohl der Gemeinde sorgen und so weiter. Und für die „Rede“ Jesu, der Maria zuhört, verwendet Lukas das Wort lo,goj, und das wird oft für das Wort Gottes gebraucht. Maria hört also auf das Wort Gottes, das Jesus verkündigt, während Marta mit vielfältigen diakonischen Aufgaben beschäftigt ist.

So betrachtet gewinnen der Protest Martas und die Antwort Jesu noch eine ganz neue Dimension. Dann geht es hier um die Frage: Was ist wichtiger für die Kirche, dass sie Gottes Wort hört oder dass sie sich um die Menschen kümmert, die Hilfe brauchen? Eine Frage, die heute genauso aktuell ist wie damals.

Für die „Martas“ unter uns ist die Antwort klar: Sie sehen die viele Arbeit, sie sehen die vielen Menschen mit ihren vielfältigen Nöten, und sie denken nur noch: helfen! Helfen, so gut es geht und so viel es geht. Nächstenliebe – das ist es doch, was das Christentum ausmacht, und das ist es auch, was die Leute von uns Christen erwarten. Wenn die Kirchen Gutes tun, genießen sie immer noch hohes Ansehen. Und welcher Christenmensch könnte auch tatenlos zuschauen oder nicht zumindest ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn er all das menschliche Elend sieht – hier bei uns und überall auf der Welt. Also: Diakonie, Nächstenliebe, soziales Engagement – das muss sein. Stillsitzen und Jesus zuhören, das können wir immer noch, wenn alles getan ist, was in unserer Macht steht. Aber wann ist jemals alles getan?

Auch für Jesus ist die Antwort klar. Doch er vertritt nicht einfach die entgegengesetzte Position. Er sagt nicht: „Es ist wichtig, dass ihr mir zuhört, und alles andere ist unnötiger Aktivismus.“ Er stellt nur einfach fest: „Marta, du hast viel Sorge und Mühe.“ Das ist so, und das ist auch nicht falsch. Schließlich hat Jesus selbst betont: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Und er hat nicht hinzugefügt: „Aber nur, wenn es dir nicht zuviel Mühe macht!“ Nein, es darf uns ruhig etwas kosten, für unsere Mitmenschen da zu sein, und zwar nicht nur Geld. Aber Sorge und Mühe ist nicht alles. Und vor allem ist Diakonie nicht das entscheidende Kriterium, das uns zu Nachfolgern Jesu macht. Sie ist nicht das Eine, das wirklich nottut. Dieses Eine ist das, was Maria macht: Jesus zuhören und durch ihn auf Gott hören. Oder wie es der Chor eben mit Psalm 27 gesungen hat: „dwell in the house of God“, „im Hause des Herrn bleiben mein Leben lang“.

Aber weshalb ist das denn so wichtig? Warum lange reden und zuhören, wenn ich doch weiß, wo Not am Mann ist und was getan werden muss? Vielleicht macht es ein schlichter Vergleich deutlich: Wenn ich mein Auto anlasse, die Bremse löse und aufs Gas trete, dann fährt es los. Und es fährt und fährt und fährt, fünf-, sechshundert Kilometer weit, wenn es sein muss, auch auf vollen Touren. Aber irgendwann bleibt die Kiste stehen, und alles Gasgeben bringt sie nicht wieder zum Laufen – ich hätte halt mal rechtzeitig tanken müssen!

So ähnlich ist es auch mit unserem Christenleben: Unser Glaube, unser Vertrauen auf Gott ist die Triebkraft für unser Handeln. Und diese Triebkraft erneuert sich genauso wenig von selbst wie das Benzin im Tank. Glaube kommt aus dem Hören auf Gott. Und wenn wir wirklich aus unserem Glauben heraus handeln wollen, dann müssen wir uns von Gott immer neu füllen lassen. Sonst laufen wir eines Tages leer. Wir funktionieren dann vielleicht noch und machen uns immer noch viel Sorge und Mühe, aber es kommt nichts mehr dabei heraus. Wir ziehen dann keinen Gewinn mehr aus dem, was wir tun, und irgendwann brechen wir entweder zusammen oder geben es auf.

Inzwischen hat sich das herumgesprochen in unserer betriebsamen, aber oft so lieb- und lustlosen Kirche. Deshalb fragen heute wieder mehr Christinnen und Christen nach dem guten Teil, das Maria erwählt hat. Man nennt es meistens nicht mehr Hören auf Gott oder auf Jesus sondern „Spiritualität“ – klingt irgendwie moderner. Aber gemeint ist das Gleiche. Gemeint sind Möglichkeiten, wie man Gott begegnen und sich bei ihm neue Kraft holen kann. Gelegenheiten, bei denen man mal nicht für andere da sein muss, sondern einfach sich selbst und dem eigenen Glauben etwas Gutes tun kann. Solche Gelegenheiten gibt es öfter, als wir denken. Zum Beispiel jetzt, wo wir gemeinsam Gottesdienst feiern. Der Gottesdienst bietet uns eine Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, aufzuatmen und uns dafür offen zu halten, dass Gott zu uns spricht – nicht nur mit Worten, sondern auch mit Brot und Wein beim Abendmahl, durch Gesang und Musik – das erleben wir ja heute ganz besonders –, aber auch durch Momente der Stille, und ebenso durch die Begegnung mit anderen Christinnen und Christen. Aber es gibt noch andere Gelegenheiten, wo man Gott begegnen kann – besondere und alltägliche. Ich denke, wir müssen jeder selbst herausfinden, bei welchen Gelegenheiten wir Gottes Nähe besonders spüren, was uns für unseren Glauben besonders gut tut. Entscheidend ist nur, dass unser Glaube solche Möglichkeiten zum Auftanken hat. Sonst geht er ein, oder er geht im ständigen Betrieb unter. Wohl uns, wenn Gott es mit uns so weit nicht kommen lässt. Wohl uns, wenn uns das „gute Teil“ niemand wegnimmt, auch wir selber nicht. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein