Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 25. September 2022

GOTTESDIENST FÜR DEN FÜNFZEHNTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: Gal 5,25-6,5

Der deutsche Durchschnittsmensch wird immer mehr zum Einzel­gänger. Die Zahl der Ein-Personen-Haushalte wächst ständig – in vielen Großstädten sind es längst mehr als fünfzig Prozent. Natürlich geschieht das nicht immer freiwillig, zum Beispiel bei Witwen und Witwern. Und es ist auch nicht immer auf Dauer, zum Beispiel bei Studenten. Aber viele empfinden das Single-Dasein auch als ange­nehm. Sie wollen gar nicht anders leben. Und davon ab: auch viele Ehepaare oder Familien leben zwar unter einem Dach, aber jeder für sich. Man hat seine eigene Arbeit oder Schule, seine eigenen Freunde und Hobbys, seinen eigenen Computer oder Fernseher. Man sieht sich beim Kommen oder Gehen, redet nur das Nötigste. Und wenn man doch mal mehr Zeit miteinander verbringt – weil gerade Weih­nachten ist oder gar Pandemie – weiß man nicht viel miteinander anzu­fangen und geht sich ziemlich schnell auf die Nerven.

Man muss das gar nicht mal bedauern. Man kann die Zeiten auch glücklich schätzen, in denen Menschen so frei und ungebunden leben können. Man kann es durchaus genießen, sein eigener Herr zu sein und auf niemand Rücksicht nehmen zu müssen. Und wenn man sich anschaut, was für eine Zwangsveranstaltung das Familienleben frü­her oft war und manchmal noch ist, dann bekommt man Verständnis für alle, die sich lieber nicht so fest binden.

Und doch steckt sie wohl immer noch tief in uns drin, die biblische Weisheit: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Würden sonst die meisten Jugendlichen immer noch gern heiraten und Kinder bekommen, selbst wenn sie zu Hause Familienverhältnisse zum Ab­ge­wöhnen erle­ben? Gäbe es sonst immer wieder Filme, in denen über­zeugte Singles schließlich doch im Hafen von Ehe und Familie lan­den? Gäbe es sonst all die Kontaktanzeigen in den Zeitungen und die Dating-Portale im Internet? Klar: da ist oft mehr Sehn­sucht als Realitätssinn im Spiel. Aber diese Sehnsucht ist uns offenbar nicht auszutreiben.

Soweit zum Großen und Ganzen. Und wie sieht es unter uns Christen aus? Auch da spüren wir erstmal den Trend der Zeit. Die Zahl der Kirchenaustritte ist gestiegen, und man ist auch nicht mehr unbedingt lebenslang Kirchenmitglied, son­dern solange man‘s zu brauchen meint. Viele Menschen fühlen sich nicht mehr als Teil ihrer Kir­che oder Gemeinde, sondern als Konsumenten, die eine Dienstleis­tung in Anspruch nehmen. Und geglaubt wird heute sowieso nur noch ganz individuell. Da bedient sich jeder frei nach den persönlichen Bedürf­nissen dem Weltmarkt der Religion. Dass es wichtig sein könnte, sich gemeinsam mit anderen zu einem bestimmten Glauben zu be­kennen, so wie wir es heute bei der Taufe von Noah, Jannis und Mira getan haben, das leuchtet kaum noch jemandem ein.

Natürlich hat auch das sein Gutes. Auch in Glaubenssa­chen gab es ja früher viel unguten Zwang und viele Lippenbekennt­nisse ohne echte Überzeugung. Aber wenn es schon nicht gut ist, dass der Mensch allein sei, dann trifft das für den Christenmen­schen erst recht zu. Ohne Gemeinschaft ist christlicher Glaube gar nicht denkbar. Und wer meint, dass er auch ohne Kirche, ohne Ge­meinde Christ sein kann, der weiß nicht wirklich, was Christsein heißt.

Ich hoffe, das ist allen klar, die heute hier sind. Sonst hätten wir nämlich Noah, Jannis und Mira besser nicht getauft, sondern sie das irgendwann mal selber entscheiden lassen. Denn bei der Taufe geht es zwar zuerst um Gottes ganz persönlichen Zuspruch und Segen, aber dann eben auch darum, Teil der Gemeinde Jesu Christi zu wer­den. Im Prinzip ist uns das wohl klar. Doch wie sie genau aussieht, diese Gemeinschaft, und wie sie funk­tionieren kann, darüber sollten wir uns Gedanken machen. Am meisten können wir dazu immer noch beim Apostel Paulus erfahren. Denn zu seiner Zeit war die Ge­meinde Jesu Christi ja erst im Entstehen. Da war viel Aufbruch und Begeisterung, aber noch wenig dauerhaft Tragfähiges. Deshalb musste Paulus ei­nen Großteil seiner Briefe darauf verwenden, die Gemeinschaft der Gläubigen zu beschreiben und zu festigen. Er tut das auch im heuti­gen Predigttext, im 5. und 6. Kapitel des Galater­briefes – mit folgenden Worten:

Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden. Brüder und Schwestern, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanft­mütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid. Und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei et­was, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst. Ein jeder aber prüfe sein eigenes Werk; und dann wird er seinen Ruhm bei sich selbst haben und nicht gegenüber einem andern. Denn ein jeder wird seine eigene Last tragen.

Das wichtigste steht gleich am Anfang: Wir sind als Christen nicht deshalb zusammen, weil wir uns alle so nett finden. Wir gehö­ren auch nicht deshalb dazu, weil wir in eine christliche Familie hin­ein­geboren sind. Und erst recht nicht deshalb, weil wir einen Mit­glieds­beitrag zahlen. Sondern „wir leben im Geist“, sagt Paulus. Das heißt: Wir bilden eine Gemeinschaft und gehören dazu, weil Gott es so will. Er hat uns den Glauben geschenkt. Er hat das Vertrauen zu ihm in uns wachsen lassen. Er hat uns mit der Taufe seine Liebe zu­ge­sprochen und alles Trennende zwischen uns beseitigt. Er schließt uns durch den heiligen Geist zu einer Gemein­schaft zusammen, die in Jesus Christus ihren Mittelpunkt hat. Und wenn er das einmal getan hat, dann kann nichts und niemand es noch rückgängig machen. „Ihr lebt im Geist, ihr seid geistlich“, sagt Paulus. Und das heißt: ihr ge­hört zu Gott und da­mit zueinander, ein für alle Mal.

Die Frage ist nur, ob und welchen Gebrauch wir davon machen. „Wenn wir im Geist leben“, sagt Paulus, „dann lasst uns auch im Geist wandeln.“ Sei, was du bist, heißt das. Halte fest an dem, was Gott dir mit dem Glauben geschenkt hat. Und dann führe dein Leben so, dass es Gottes Geist entspricht, auch im Um­gang mit deinen Mitmenschen und Mitchristen. Das müssen nicht nur Mira, Jannis und Noah noch lernen, die bisher vom Glauben noch nichts wissen, sondern auch wir Erwachsenen werden damit ein Leben lang nicht fertig. Wenn wir das nicht tun, wenn wir einfach so vor uns hin le­ben, als ob es Gott nicht gäbe, dann nimmt Gott uns zwar sein Ge­schenk nicht wieder weg. Aber es wäre doch schade, wenn es bloß in der Ecke läge. Denn dann haben wir nichts davon, und andere auch nicht.

Also: Wenn wir es noch nicht getan haben, dann lasst uns jetzt damit anfangen, so zu leben, wie Gott will. Nicht nur jeder für sich, son­dern auch als Ge­meinschaft der Glaubenden. Wir müssen diese Ge­meinschaft nicht erst herstellen. Sie ist schon da. Aber es ist unsere Aufgabe, sie zu pfle­gen und zu stärken, damit wir alle etwas davon haben. Wie das gehen kann? Paulus sagt es so: „Einer trage des ande­ren Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“

Ich finde, das ist erfreulich nüchtern formuliert. Besser, als wenn da stünde: „Habt einander lieb!“ Das steht zwar auch in der Bibel, aber man kann es leicht missverstehen. Gott verlangt nicht von uns, dass wir für unsere Mit­christen liebevolle Gefühle entwickeln, erst recht nicht, dass wir wel­che heucheln. Wenn unsere Ge­schwister im Herrn uns eher auf die Ner­ven gehen, dann ist das halt so. Da kann und muss niemand aus seiner Haut. Trotzdem können wir ei­ner des ande­ren Last tragen. Wir kön­nen auch einem ungeliebten Mitchristen beiste­hen, wenn er Hilfe braucht, können ihm abnehmen, was ihm Leib und Seele nieder­drückt – durch verständnisvolles Zuhören, durch Worte, die Mut ma­chen, durch tatkräftige Unterstützung. Mag sein, dass wir ihn oder sie an­schließend auch besser leiden können. Aber wir müs­sen nicht die dicksten Freunde werden.

Und dann ist noch das Stich­wort „einander“ wichtig. Niemand muss sich zum Lastenpackesel für die ganze Gemeinde machen und ir­gendwann darunter zusammen­brechen. Und wer seine Lasten immer gern anderen aufbürdet, ohne an Gegenleistung zu denken, der sollte den letzten Satz des Ab­schnitts beachten: Vor Gott wird jeder doch seine eigene Last tragen – sprich: sein ganz persönliches Urteil be­kommen, wenn Gott Ge­richt hält. Und wer immer nur nimmt und nie gibt, auf den wird dann manche Last zurückfallen.

Soweit zum Lastentragen. Aber es gibt noch was, womit wir die Ge­meinschaft fördern können, und das ist realisti­sche Selbsteinschät­zung. Vor „eitler Ehre“ warnt Paulus, vor Selbst­betrug und provozie­render Prahlerei. Und er fordert uns zur Selbst­prüfung auf – gerade dann, wenn wir Fehltritte bei anderen entde­cken; denn wir sind ja selbst nie weit davon entfernt. Ich glaube, wir können das gar nicht ernst genug nehmen. Denn im Prinzip ist uns zwar bewusst, dass kein Mensch unfehlbar ist, alles kann und immer Recht hat. Nur fällt es uns schwer, dieses Prinzip auf uns selber anzuwenden. Da sind dann doch immer die anderen schuld, in jedem Konflikt liegt das Recht natürlich auf mei­ner Seite, und alles würde viel besser laufen, auch in der Kirche, wenn alle endlich täten, was ich für richtig halte. Beson­ders schlimm wird es, wenn jemand seine Rechthaberei auch noch aus der Bibel herleitet. Denn das ist die sicherste Methode, Gemein­den zerbrechen zu lassen und Kir­chen zu spalten.

Also, mit Paulus gesprochen: „Ein jeder prüfe sein eigenes Werk!“ Bin ich zum Beispiel über die Fehler anderer Leute wirklich so erha­ben, dass ich mich darüber entrüsten dürfte? Liegt das Recht in die­ser oder jener Sache wirklich ganz auf meiner Seite, oder haben die an­deren vielleicht genauso Recht, wenn ich mal in ihre Lage ver­setze? Muss Kirche unbedingt so sein, wie ich sie mir vorstelle, oder kann ich anderen Vorstellungen Raum geben, auch wenn sie mir nicht gefallen? Ist meine Meinung in dieser oder jener Glaubensfrage wirklich biblisch fundiert oder hängt sie doch nur an Tra­dition und Gewohnheit? Denken Sie mal an diese Fragen, wenn sie sich das nächste Mal über ihre Glaubensgeschwister und Mitmen­schen aufre­gen! Vielleicht legt sie sich die Aufregung dann ganz ohne Beruhi­gungspillen.

„Tragt einander die Lasten und prüft euch selbst“: das könnte also ein Ansatz sein, wie Gemeinschaft unter Christen be­wusst gelebt werden kann – mit dem heiligen Geist und im Sinne Jesu Christi. Das mag anstrengender sein, als wenn jeder allein vor sich hin glaubt. Es mag mehr Mühe machen als Kirchen­steuer zu zahlen und bei Bedarf kirchlichen Service in Anspruch zu nehmen. Aber es lohnt sich. Denn ich bin überzeugt: Was wir in diese Gemeinschaft investieren, der wir durch Glaube und Taufe angehören, das werden wir vielfältig zurückbekommen: in Form von Halt und Sinn, von Hilfe und Anre­gung, von Bestätigung und Zu­friedenheit, von Lust und Lebens­freude. Und das ist noch nicht alles, was Gott für uns bereithält. Wer trotzdem lieber Solochrist und Einzelgänger bleibt, der verpasst was. Und das kann doch keiner wollen, oder? Amen.

Ihr Pastor Martin Klein