Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 21. Juli 2013

Gottesdienst für den achten Sonntag nach Trinitatis

Text: Joh 9,1-7

Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“ Jesus antwortete: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, son­dern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müs­sen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“ Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. Und er sprach zu ihm: „Geh zum Teich Siloah“ – das heißt übersetzt: gesandt – „und wasche dich!“ Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

Neulich beim Aufbauen fürs Ökumenische Kinderfest: Wie immer kommt irgendwann die Rede aufs Wetter, und wie es denn beim Kinderfest wohl werden wird. Die Aussichten sind ganz ordentlich: es ist trockenes Wetter angesagt, sogar ein bisschen Sonne. Und wie immer sagt dann irgendjemand: „Na prima, sieht ja gut aus! Und wenn’s doch nichts wird, wissen wir ja, wer schuld ist“ – und guckt dabei grinsend den Pastor an. Denn der hat ja bekanntlich „den bes­ten Draht nach oben“ und hat ihn wohl nicht genügend genutzt, wenn’s dann doch regnet. Ich setze mich dann reflektorisch zur Wehr und verweise darauf, dass jedenfalls nach meinem evangeli­schen Verständnis alle Christen den gleichen guten Draht nach oben haben. Wenn’s also regnet, sind alle dran schuld und nicht nur ei­ner.

Das ist sozusagen ein „running gag“ – zugegebenermaßen ein ziem­lich abgenutzter – und natürlich von keinem der Beteiligten wirklich ernst gemeint. Aber irgendwie ist es doch symptomatisch: An allem, was passiert, muss für uns irgendjemand schuld sein, und über kaum etwas anderes wird so gern und so heftig debattiert wie über Schuldfragen. Wer ist schuld an der Euro-Krise? Die Griechen? Die Deutschen? Die Banken? Der Euro selber, weil falsch konstruiert? Wer ist schuld am großen Geheimdienstskandal? Die die`s getan haben? Der, der’s verraten hat? Oder auch die, die heimlich davon profitiert haben? Oder, um mal wieder näher an den Text zu kom­men: Wer ist schuld, wenn ein Kind behindert zur Welt kommt? Die Natur? Die Mutter, weil sie in der Schwangerschaft ungesund gelebt hat? Die Eltern, weil sie keinen Gentest haben durchführen lassen? Die Ärzte, die beim Test was übersehen haben? Oder keiner? Oder alle? Wir sehen: Die Frage der Jünger, die älteren Auslegern des Textes immer sehr konstruiert vorkam, ist heute aktueller und wirklich­keitsnäher denn je – nur dass das Kind selber schuld sein könnte, darauf  käme wohl heutzutage niemand mehr.

Jesus weist die Frage seiner Jünger zurück. Und ich glaube, er tut das nicht nur deshalb, weil die Schuldfrage im Falle dieses Blindgebore­nen wirklich unwichtig und auch nicht mehr zu klären ist. Ich glaube vielmehr, er hat generell etwas gegen Schuldfragen. Jedenfalls gegen die Sorte Schuldfragen, die wir als Nichtbeteiligte und Kaumbetroffene so gern diskutieren. Natürlich ist es wichtig für die Opfer eines Verbrechens, dass der Schuldige gefunden und be­straft wird. Natürlich hilft Ursachenforschung oft dabei, die richtigen Gegenmaßnahmen zu finden. Aber das ewige „Der ist schuld“ oder „die ist schuld“, meist verbunden mit der Überzeugung dass man selber natürlich auf gar keinen Fall schuld ist, das führt zu gar nichts. Es lässt uns immer nur nach hinten schauen und uns darüber an die Köppe kriegen, aber es verhindert, dass wir nach vorn gucken und danach fragen, was denn jetzt, wo es einmal so ist, wie es ist, getan werden muss.

Jesus hat einen anderen Blick auf die Dinge. Ihm ist es völlig egal, warum dieser Mann blind ist. Er weiß nur: Ich bin dazu in der Welt, um die Werke Gottes offenbar zu machen, um Gottes Licht in der Welt leuchten zu lassen, solange noch Tag ist. Er weiß, dass seine Zeit knapp bemessen ist. Er weiß, dass man ihm ans Leben will. Da will er sich nicht mit fruchtlosen Debatten aufhalten, sondern tun, was er kann, solange es geht. Und dann macht er den Blinden ge­sund. Schenkt ihm das Augenlicht. Offenbart ihm aber vor allem sich selber als das Licht der Welt. Denn am Ende der Geschichte, nach Gesprächen mit den Nachbarn, nach Verhören durch die Pharisäer (denn Jesus hat doch tatsächlich am Sabbat geheilt!), nach dem Aus­schluss aus der Synagoge, begegnet der ehemals Blinde Jesus sehen­den Auges wieder und glaubt, dass er der Sohn Gottes ist.

„Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat“, sagt Jesus zu seinen Jüngern, schließt sie also mit ein in sein Tun – und damit auch uns, wenn wir denn auch Jüngerinnen und Jünger Jesu sein wollen. Aber wie sieht das aus? Wie können wir die Werke Got­tes wirken? Indem wir uns nicht mit überflüssigen Schuldfragen aufhal­ten, das hatten wir schon festgestellt. Und dann?

Erstens sollten wir dann einfach das tun, was uns vor die Füße ge­legt wird. So wie Jesus: Er sieht diesen Blindgeborenen, er weiß, dass er ihn heilen kann, also tut er es ohne Umschweife. Auf eine seltsame Art und Weise vielleicht – kommt uns vielleicht ein biss­chen eklig vor, die Sache mit dem Spuckebrei, und warum der Ärmste erst noch zum Teich Siloah laufen muss, verstehen wir auch nicht so ganz – aber das Ergebnis stimmt jedenfalls. Und vielleicht hat der Blinde ja diese Prozedur gebraucht, um mitzuspielen.

Wir werden wohl keine Blinden heilen können – jedenfalls nicht so. Aber tun können wir eine Menge – schon als Einzelne, und als Ge­meinde, als Kirche erst recht. Wir sollten nicht warten, bis geklärt ist, ob vielleicht jemand anderes zuständig ist oder ob da jemand auch wirklich unverschuldet in Not geraten ist (das ist ausgespro­chen selten), sondern tun, was möglich ist, um die Not zu beheben. Wenn es uns zum Beispiel gelingen sollte, in unserem neuen Gemeinde­zentrum einen Mittagstisch für Bedürftige einzurichten, dann werden da womöglich auch Bedürftige auftauchen, die ihr Geld versoffen oder in einer der zahlreichen Geisweider Spielhallen verzockt haben. Sie tragen also zumindest Mitschuld an ihrer Lage. Trotzdem brauchen sie dann erst mal eine ordentliche warme Mahl­zeit – und Menschen, die sie ihnen freundlich und ohne Nachfragen zuteilwerden lassen. Hinterher kann man dann immer noch nach Wegen suchen, wie sie ihre Sucht loswerden können, damit sie nicht ewig in dieser Notlage bleiben.

Also tun, was dran ist – und das jetzt gleich, denn bald könnte es zu spät sein. Das ist das Eine. Und das andere ist: deutlich machen, warum wir das tun. Wir sind für unsere Mitmenschen da, weil wir so Anteil haben an der Sendung Jesu. Wir machen mit bei der großen Mission Gottes: diese Welt aus ihrer Verlorenheit zu retten und sie mit sich zu versöhnen. Alles Wesentliche dafür hat Gott in Jesus schon getan. Wir müssen nur noch davon reden und danach han­deln. Damit den Menschen, die noch blind sind für die Liebe Gottes, die Augen aufgehen. Damit sie erfahren durch Wort und Tat: Das, wozu Gott Christus in die Welt gesandt hat, das gilt auch mir.

Ich glaube, es ist das, was heute zu wenig geschieht. Es geschieht viel Gutes in unserer Kirche und unserer Diakonie, aber es kommt zu wenig rüber, warum es geschieht. Da wird routiniert und professio­nell geholfen, und das ist gut so. Aber schon die, die da helfen, sei’s beruflich, sei’s ehrenamtlich, machen sich oft nicht mehr bewusst, dass sie damit der Sendung Jesu folgen. Und die, denen geholfen wird, bekommen es dann erst recht nicht mit.

Ich weiß natürlich, dass man auch auf der anderen Seite vom Pferd fallen kann: erst die Leute mit Hilfsangeboten anlocken und dann die missionarische Keule auspacken. Aber wenn wir als Christen anderen helfen und gar nicht mehr sagen warum, es vielleicht gar selber nicht mehr wissen, dann läuft was verkehrt. Als ich in Bochum Vikar war und dabei auch ein Praktikum in der Diakonie absolvieren musste, habe ich gemerkt, dass da sehr viel wirklich gute und wichtige Arbeit passiert. Aber die einzigen, die davon spra­chen, dass sie Gottes Liebe erfahren haben und diese Liebe nun an andere weitergeben wollen, das waren die älteren Damen von der Bahnhofsmission. Das hat mir damals schon zu denken gegeben. Hier im Siegerland mag das noch ein bisschen anders aussehen. Und es wäre auch ungerecht, zu denken, dass nur den sein Glaube zum Han­deln treibt, der auch darüber redet. Aber warum sind wir da eigent­lich oft so maulfaul? Unser Glaube muss uns doch nicht pein­lich sein, oder?

Also, lieber Christenmensch: Tu Gutes und sprich darüber, warum du es tust. Nicht aufdringlich, nicht belehrend, aber doch offen und ehrlich und zumindest dann, wenn man dich danach fragt. Ich könnte es auch mit Jesu Worten aus der Bergpredigt sagen, die wir vorhin gehört haben: „Lasst euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel prei­sen.“ Beides gehört zusammen: Überzeugendes Handeln und überzeu­gendes Reden. Und nur mit beidem im Blick wirken wir die Werke Gottes. Er segne uns dabei. Amen.

(Pfarrer Martin Klein)