Predigt, Wenschtkirche, Sonntag, 20.11.2016

GOTTESDIENST FÜR DEN EWIGKEITSSONNTAG

Text: Offb 21,1-4

Das Jahr ist alt. Nasskalter Wind hat die welken Blätter von den Bäumen geweht. Am Ende meist trüber Tage senkt sich früh die Dunkelheit übers Land, noch ungewohnt nach der langen Som­merzeit. Und während wir dabei zusehen, wie die Natur erstirbt, um im nächsten Frühling wieder auf­zublühen, denken wir an die Ver­gänglichkeit: Es geht uns durch den Sinn, was und wen wir alles verloren haben. Und es dämmert uns, dass auch unser Leben ein Ziel hat, und wir davon müssen.

Doch nicht nur das Jahr, auch unsere Welt ist alt. Bald wird sie nicht mehr sein, wie wir sie kannten. Das Polareis und die Gletscher schmelzen, die Regenwälder werden abgeholzt, Tier- und Pflanzen­arten verschwinden auf nimmer Wiedersehen. Rohstoffe werden knapper und teurer – irgendwann, vielleicht schon bald, werden sie verbraucht sein. Jahrtausende alte Traditionen und Lebensformen lösen sich auf, werden aufgerieben von unserer immer schnelllebige­ren Zeit. Viele können mit den Veränderungen nicht mehr Schritt halten, bekommen es deshalb mit der Angst zu tun, oder sie wer­den wütend und aggressiv. Und viele von ihnen wählen dann diejenigen, die behaupten, die Probleme seien gar nicht da oder sie seien ganz einfach zu lösen. Immer mehr Menschen streiten sich um knapper werdende Lebensräume. Schon lange haben wir nun schon Waffen, die alles Leben auf Erden vernichten können, aber heute ist die Ver­breitung dieser Waffen immer schwe­rer zu kontrollieren. Es gibt keinen Ort auf Erden, wo man vor Ge­walt und Terror noch sicher wäre. Auch in unserem Land, immer noch ein Hort des Friedens und des Wohlstands, ist uns die Angst davor in die Knochen gefahren. Ich gehöre zwar nicht zu den Menschen, die immer nur schwarz­sehen. Trotzdem verstehe ich inzwischen die Christen früherer Gene­rationen besser, wenn sie der Überzeugung waren, am Ende der Zei­ten zu leben.

Weil das so ist, rückt mir aber auch die Hoffnung wieder näher, die ihnen half, dieses Leben am Ende der Zeiten auszuhalten. Die Hoff­nung, die sich ganz am Ende der Bibel, in der Offenbarung des Johannes, in einer großartigen Vision niederschlägt:

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen!“ Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und Gott selbst wird mit ihnen sein als ihr Gott; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.

Der Tod wird nicht mehr sein – was für eine großartige Verheißung! Niemand muss mehr weinen – weder um die Alten, die einfach im­mer da waren, solange wir zurückdenken können, noch um die Jun­gen, die uns verlassen, noch bevor sie richtig gelebt haben. Niemand muss mehr sterben – weder durch Hunger, noch durch Krieg, noch durch Krankheit. Niemand muss mehr leiden – weder unter Armut und Elend, noch unter den Schattenseiten des medizinischen Fort­schritts. Niemand muss mehr schreien – weder vor Wut, noch vor Verzweiflung. Niemand muss mehr Schmerzen erdulden – weder am Körper, noch an der Seele. Und das alles nicht, weil wir Menschen es endlich geschafft hätten, unserer alten Welt ihre Mängel auszutrei­ben, sondern weil Gott mitten unter uns Wohnung nimmt und alles neu macht. Was verhüllt begonnen hat, als Gott in Jesus Mensch wurde, das wird dann vor aller Welt sichtbar werden: „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen!“

Nicht nur Atheisten, sondern auch christliche Theologen haben in den letzten 200 Jah­ren viel getan, um uns diese Hoffnung auszutrei­ben. Das ist doch billige Vertröstung, haben die Marxisten gesagt, Opium fürs Volk, damit es ge­gen Elend und Unterdrückung nicht aufmuckt. Es passt doch gar nicht mehr in unser Weltbild, haben die Naturwissenschaftler gemeint, dass Himmel und Erde eines Tages untergehen und neu werden. Und viele Theologen haben noch dazu gefragt, ob Gott das überhaupt wollen kann, wo er diese Welt doch gut und schön erschaffen hat? Was hätte es denn dann noch für ei­nen Sinn, wenn wir uns hier und jetzt für Frieden, Ge­rech­tigkeit und Be­wahrung der Schöpfung einsetzen?

Berechtigte Einwände, allesamt. Und trotzdem: Wenn ich mich um­sehe, was man alles an die Stelle der alten christlichen Hoffnung gesetzt hat, dann kann ich nur Paulus zustimmen: „Hoffen wir allein in die­sem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Men­schen.“ Da waren zum Beispiel die, die das „Paradies der Werktäti­gen“ schaffen wollten; aber je weiter sie damit fortschritten, desto ähnlicher wurde dieses Paradies der Hölle. Da war der Philo­soph, der das „Prinzip Hoffnung“ beschwor; aber als bloßes Prinzip bleibt die Hoffnung eine ziemlich trostlose Angelegenheit. Da waren und sind diejenigen, die glauben, der wissenschaftliche Fortschritt werde einst alles neu machen. Aber noch jede bahnbrechende Erfin­dung hat der Menschheit mindestens so viel Fluch wie Segen ge­bracht, und es sieht nicht so aus, als ob sich das jemals ändern wird. Es scheint uns also nur das übrig zu bleiben, was auch schon Paulus wusste: uns möglichst gut abzulenken von all dem Elend – „lasset uns essen und trinken, es uns gemütlich machen und Spaß haben, denn morgen sind wir tot!“ Nur: Je ungemütlicher die Zeiten werden und je teurer uns der Spaß zu stehen kommt, desto weniger will uns die Ablenkung gelingen.

Weil das alles so ist, kann jedenfalls ich für mein Teil die Hoffnung auf Gottes neue Welt nicht aufgeben. Ohne sie hätte ich in den Trau­erhallen und an den Grä­bern nichts mehr zu sagen, und wenn ich noch so wohlgesetzte Worte fände. Aber auch wenn ich nicht Pfarrer wäre und Beerdigungen nicht zu meinen Amtspflichten ge­hörten, könnte ich ohne diese Hoffnung nicht leben. Ich würde die Unge­rechtigkeit auf Erden unerträglich finden, wenn ich nicht hoffen könnte, dass Gottes Gerechtigkeit kommt. Ich würde daran verzwei­feln, wie Menschen übereinander herfallen und sich schlimmer als die Tiere aufführen, wenn ich nicht hoffen könnte, dass Gott Frieden schaffen wird. Ich könnte es nicht aushalten, wie unfair der Tod mit uns umspringt, wenn ich nicht hoffen könnte, dass Gott den Tod ver­nichten wird auf ewig. Und weil ich nicht zu den Menschen gehöre, die in der Lage sind, sich mit dem Mut der Verzweiflung in einen aussichtslosen Kampf zu stürzen, hätte ich keine Energie, mich für die Erhaltung dieser Welt einzusetzen, wenn ich nicht hoffen könnte, dass bei Gott auch mein Scheitern nicht vergebens ist.

Wie kann es gelingen, dass wir uns diese Hoffnung bewahren? Viel­leicht so, wie es der Schriftsteller Albrecht Gralle versucht, der die Vision aus der Offenbarung des Johannes in eine Erzählung umge­wandelt hat. Sie handelt von einem Menschen, der an einem Som­mertag auf einen Hügel steigt, sich dort unter einen Baum setzt und die Ruhe der Natur genießt, bis er plötzlich bemerkt, dass jemand neben ihm steht. „Woher kommst du?“ fragt er den Fremden. Und der antwortet: „Ich komme aus der Stadt.“

Noch bevor sich der Fragende über diese Antwort wundern kann, weil gar keine Stadt in der Nähe ist, ist ihm auf einmal, als wäre er schon auf dem Weg in diese Stadt, die keine andere ist als das himmlische Jerusalem. Viele sind mit ihm gemein­sam unterwegs, und mühelos kann er sich mit ihnen verständigen, obwohl er sie gar nicht kennt. Während er sich der Stadt nähert, ge­winnt er Klarheit über sein Leben und alles, was gewesen ist. Er fühlt, wie er in tiefem Wasser versinkt und von einer starken Hand heraus­gerissen wird und kommt so schließlich ins Innere der Stadt. Er spürt, wie die Gegen­wart Gottes ihn durchdringt, der ihn geliebt hat von Anfang an, des­sen Tod den Tod besiegt hat und dessen Namen er trägt.

„Ich gehe jetzt“, sagt da der Fremde und holt ihn damit auf die Erde zurück. Ein Gefühl der Verlassenheit überkommt ihn. Aber der Fremde, von dem der Leser nun ahnt, dass es ein Engel sein muss, verabschiedet sich mit den Worten: „Nimm den Weg ins Tal und bewahre das Bild der Stadt. Wir werden uns dort treffen.“

Auch ich möchte mir das Bild des himmlischen Jerusalem, der Hütte Gottes bei den Menschen bewahren, auch wenn mir klar ist, dass es nur ein Bild ist – ein Bild für eine Wirklichkeit, deren Beschreibung menschliches Sprachvermögen übersteigt. Und auch ich hoffe, dass wir uns dort in dieser Stadt treffen werden: wir alle, die wir heute hier sind, und auch alle, die uns voran gegan­gen sind auf dem Weg dorthin. Gott möge uns sicher dorthin gelei­ten. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein