Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 20.09.2020

GOTTESDIENST FÜR DEN FÜNFZEHNTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: Gen 2,4b-8.15b.18-24

Das Wort „Mensch“ wird gern und viel benutzt in unseren Zeiten. Es ist kurz, umfassend und wertneutral, und im Gegensatz zu anderen Benennungen kann man damit nicht viel falsch machen. Also wurden aus „Bürgerinnen und Bürgern“ die „Menschen in unserem Land“, aus der „Aktion Sorgenkind“ wurde die „Aktion Mensch“, und aus „Ausländern“ oder „Flüchtlingen“ wurden „Menschen mit Migra­tionshintergrund“. Ist ja auch in Ordnung so. Auf der anderen Seite wird allerdings diskutiert, ob es sich bei bestimmten For­men menschlichen Lebens schon oder noch um Menschen han­delt – bei Embryonen in einer Petrischale zum Beispiel oder bei unheilba­ren Komapati­enten. Schwierige Fragen. Und bei mir verfestigt sich der Eindruck: Je häufiger wir die Worte „Mensch“ und „mensch­lich“ verwenden, desto unkla­rer wird uns, was der Mensch eigentlich ist und worin seine so gern beschworene Würde besteht.

Unser heutiger Predigttext hat zu dem Thema einiges zu sagen – und das, obwohl er min­destens zweieinhalbtausend Jahre alt ist. Er steht im zweiten Kapitel des ersten Buchs Mose:

Es war zu der Zeit, da Gott der Herr Erde und Himmel machte. Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen. Denn Gott der Herr hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; aber ein Strom stieg aus der Erde empor und tränkte das ganze Land. Da machte Gott der Herr den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Le­bens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. Und Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte, dass er ihn bebaute und be­wahrte.

Und Gott der Herr sprach: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht.“ Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vö­gel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, dass er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen; aber für den Menschen wurde keine Hilfe gefunden, die ihm ent­sprach.

Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloss die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute eine Frau aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm. Da sprach der Mensch: „Die ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin (ischah) nennen, weil sie vom Manne (isch) genommen ist.“

Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch.

Klingt primitiv, oder? Gott als Handwerker, der Mensch und Tier aus feuchter Erde formt und Bäume und Sträucher pflanzt – wer glaubt denn sowas noch? Die Frau als Ableger des Mannes, gebaut aus ei­ner seiner Rippen – da sind wir doch nun hoffentlich drüber weg! Und überhaupt: Die Wissenschaft hat doch längst bewiesen, dass der  homo sapiens ganz anders entstanden ist.

Aber wenn wir den Text so lesen, haben wir die falsche Brille auf. Er ist weder eine theologische Abhandlung noch ein Tatsachenbericht über die Anfänge der Menschheit. Beides wollte er auch nie sein. Wenn die Menschen damals die Welt erklären wollten, haben sie keine wissenschaftlichen Untersuchungen angestellt, sondern Ge­schichten erzählt. Und so sollten wir diesen Text verstehen: als eine Geschichte über die Erschaffung des Menschen. Gerade wenn wir das tun, wird uns aufgehen, wie viel Wahrheit in dieser Geschichte steckt – Wahrheit, die auch nach Jahrtausenden nichts von ihrer Be­deutung verloren hat.

Die zeigt gleich die erste Wahrheit, die ich dem Text entnehme. Sie lautet: Zum Menschsein gehört die Erde. Das klingt nach einer Binsenweisheit: Wir Menschen leben auf der Erde – um das zu wis­sen, brauche ich keine Bibel. Aber die Wahrheit aus dem ersten Buch Mose greift tiefer: Wir leben nicht nur auf der Erde, sondern wir sind Erde. „Von Erde bist du genom­men, zu Erde wirst du wieder werden“ – so sagt es unsere Bestattungsliturgie. Aber diese Tatsache verdrängen wir ganz gern. Wir Menschen sind immer bestrebt, uns möglichst weit abzuheben von der Erde und von der übrigen Schöp­fung. Dass Gott dem Menschen seinen Atem in die Nase bläst oder dass wir zum Bilde Gottes geschaffen sind, wie es die andere bibli­sche Schöpfungsgeschichte sagt, das nehmen wir wohlwollend zur Kenntnis. „Die Krone der Schöpfung“ nennen wir uns deshalb, ob­wohl das so nicht in der Bibel steht. Und seit der Zeit der Aufklärung halten wir es gern mit dem Philosophen Descartes. Der unterschied grundsätzlich zwischen dem Menschen als denkendem Wesen und den bloßen „Dingen“, zu denen für ihn auch die Tiere und der menschliche Körper gehörten. Und er sah es als die Aufgabe des Menschen an, „Meister und Besitzer der Natur“ zu werden. Nun, damit haben wir es inzwi­schen wahrlich weit gebracht. Nirgendwo auf Erden gibt es noch ein Stück Natur, das vom Menschen völlig unbe­rührt wäre. Und wenn sich noch eins fände, stünde es nächs­tes Jahr in allen Reisekatalogen. Wir können heute bis zu den fernsten Sternen und bis zu den kleinsten Elementarteilchen vordrin­gen. Wir stellen Brot und Koteletts genauso maschinell her wie Au­tos oder Computer. Wir bauen oder züchten Ersatz für fast jedes Körperteil. Und manche träumen schon von der Überwindung des Alterns und Sterbens.

Aber trotzdem: Wir kommen von der Erde nicht los. Wir bestehen aus dem gleichen „Material“ wie Tiere und Pflanzen, wir haben fast die gleichen Gene wie unsere nächsten Verwandten im Tierreich, und wir stehen mit der übrigen Schöpfung in vielfacher Wechselwir­kung. Da sagt die heutige Wissenschaft nichts anderes als die Bibel, und wenn wir auf beide nicht hören, dann müssen wir eben fühlen: die rasante Verbreitung eines gefährlichen Virus zum Beispiel oder die katastrophalen Folgen des selbstgemachten Klimawandels. Wenn wir weiterhin meinen, dass wir mit der Erde, aus der wir gemacht sind, umspringen können, wie wir wollen, dann werden wir mit ihr untergehen. Wir sollten endlich begreifen, dass wir Selbstverstüm­melung betreiben, wenn wir sie misshandeln.

Gott hat uns freilich einen anderen Auftrag gegeben: Nicht „Meister und Besitzer der Natur“ sollen wir sein, sondern wir sollen die Erde „bebauen und bewahren“. Wir dürfen und sollen sie nutzen und et­was aus ihr machen, aber so, dass wir sie dabei nicht zerstören. Heute preist man das als „nachhaltiges Wirtschaften“ an und hat damit doch nur wiederentdeckt, was schon immer in der Bibel stand.

Damit bin ich bei der zweiten Wahrheit: Zum Menschsein gehört die Arbeit. „Gott der Herr pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er ge­macht hatte, dass er ihn bebaute und bewahrte.“Der Garten Eden ist also kein Schlaraffenland, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund flie­gen, sondern ein Nutzgarten. „Paradiesische Zustände“ bedeuten in der Bibel nicht süßes Nichtstun, sondern frohes Schaf­fen. Es gehört zum Menschen, dass er etwas Sinnvolles zu tun hat, dass er seine Kräfte und Fähigkeiten entfalten und für sich und die Seinen sorgen kann. Deshalb müssen wir alles tun, damit Schulen, aber auch Fami­lienverhältnisse den Kindern nicht ihre natürliche Freude am Lernen verderben, sondern sie fördern. Und wir dür­fen uns auch nicht damit abfin­den, dass Menschen keine Arbeit haben oder von ihrer Arbeit nicht leben können. Aber zum „Bebauen und bewahren“ gehört nicht nur die Erwerbs-Ar­beit, sondern auch alles, was wir für unsere Fa­milie tun. Und es ge­hört dazu alle freiwillige, gemeinnützige Ar­beit – sei es im Sportver­ein oder in der Kirchengemeinde, sei es der Ein­kauf für die Nachbarin in Quarantäne oder der humanitäre Einsatz in Afrika. Eigentlich sollte es keinen Menschen geben, der zu dieser Art Arbeit nicht in irgend­etwas beiträgt.

Also: Arbeit gehört zum Menschsein. Allerdings ist das der Ge­schichte aus der Bibel nur einen Nebensatz wert. Viel ausführlicher erzählt sie von der dritten Wahrheit: Zum Menschsein gehört die Gemeinschaft.

Da sitzt nun der Mensch im Garten Eden, hat zu essen und zu tun und könnte eigentlich glücklich sein – aber es fehlt noch was! „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, sagt Gott. Auch das klingt nach einer Selbstverständlichkeit. Aber gilt sie heute noch? Okay, Kinder brauchen mindestens eine feste Bezugsperson, das sehen wir ein. Und um Kranke, Gebrechliche und Hilfsbedürftige muss sich auch jemand kümmern. Aber als erwach­sener Mensch im Vollbesitz meiner Kräfte komm ich doch ganz gut allein klar, oder? Immer mehr Menschen ziehen heute ein Leben ohne feste Bindungen vor, das oberflächliche Kon­takte für ausreichend hält. Schließlich erspart man sich so eine Menge Ärger und lästige Pflichten. Wenn eine Be­ziehung ihren Reiz verloren hat, dann trennt man sich eben und geht seiner Wege. Wer schlägt sich schon gern mit Dingen wie Sorgerecht oder Unterhaltspflicht herum?

Trotzdem glaube ich, dass Gott Recht hat. Ich glaube, es ist wirklich nicht gut, dass der Mensch allein sei. Haben wir das nicht gemerkt, als wir im Frühjahr plötzlich allein zu Hause saßen – höchstens mit den nächsten Angehörigen? Haben wir nicht ge­hört, wie es den ein­samen Alten, den überforderten Familien, den benachteiligten Kin­dern und Jugendlichen in dieser Zeit ergangen ist? Klar war das In­ternet, wo es genutzt werden konnte, in dieser Situation eine wichtige Hilfe. Aber es ist eben kein Ersatz für echte Nähe und echtes Zu­sammensein. Und Gemeinschaft ist eben doch zu wichtig, um nur ein Gegenstand sentimentaler Sehnsucht zu bleiben.

In der Geschichte aus der Bibel muss Gott erst einmal einiges aus­probieren, bis er für den Menschen „die Hilfe“ findet, „die ihm ent­spricht“. Die Tiere können es nicht sein, denn sie sind zwar aus Erde wie er, aber sie sind nicht „Bein von seinem Bein“ und „Fleisch von sei­nem Fleisch“. Erst die Frau, die Gott aus der Seite des Menschen entnimmt und formt, ist dieses gleichwertige Gegenüber. Okay, von dem, was man heute unter „Gender-Ge­rechtigkeit“ versteht, ist das natürlich weit entfernt. Aber immerhin: „Mann“ wird der Mensch erst ge­nannt, als die Frau da ist. Vorher waren in „dem Menschen“ ja noch beide enthalten. Und es ist auch wichtig, dass da nicht „Gehil­fin“ steht, wie Luther übersetzt hat, sondern „Hilfe“. Die Frau ist also nicht nur für die nie­deren Dienste da, sondern sie ist für den Mann Beistand und Gegen­über in umfassender Weise. Und wenn wir heute ergänzen, dass um­gekehrt das Gleiche gilt, dann ist das durchaus im Sinne des Textes.

Also gehört zum Menschsein die Gemeinschaft von Mann und Frau. Dass das immer die Ehe im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches sein muss, steht da nicht. Und es steht auch nicht da, dass ein Mann oder eine Frau, die gewollt oder ungewollt ohne Part­ner leben, keine richtigen Menschen sind. Es gibt auch andere Mög­lichkeiten, wie ein Einzelmensch die verlässliche und dauerhafte Gemeinschaft finden kann, die zum Menschsein gehört. In einer gu­ten Hausgemeinschaft zum Beispiel. In einer gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft. Oder in einem guten Freundes­kreis, wo man nicht nur etwas gemein­sam unternimmt, sondern auch füreinander da ist.

So, das soll für heute reichen. Eigentlich habe ich für eine Predigt sowieso schon viel zu viele Themen angeschnitten. Aber ich wollte halt mal deutlich machen, wie wahr und aktuell eine jahrtau­sendealte Geschichte sein kann.

Eine Frage bleibt allerdings noch offen: Gilt, was hier erzählt wird, auch noch unter der Bedingung des Sündenfalls, von dem das nächste Kapitel berichtet? Ich denke, ja. Denn wir leben zwar nicht mehr im Garten Eden, und unsere Ent­fremdung von Gott führt auch zur Entfremdung von der Erde, von der Arbeit und von Mann und Frau. Aber trotzdem bleibt das gültig, wozu Gott uns geschaffen hat. Und wenn es stimmt, dass Gott in Jesus Christus die Entfremdung zwischen uns aufgehoben hat, dann können wir auch wieder Men­schen sein, wie Gott sie gewollt hat: „Gott will mit uns die Erde ver­wandeln, / wir können neu ins Leben gehn.“ Amen.

Ihr Pastor Martin Klein