Gottesdienst für den zweiten Sonntag nach Epiphanias
Text: Hebr 12,12-17
Darum stärkt die müden Hände und die wankenden Knie und macht sichere Schritte mit euren Füßen, damit nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde. Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird, und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume; dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden anrichte und viele durch sie unrein werden; dass nicht jemand sei ein Abtrünniger oder Gottloser wie Esau, der um der einen Speise willen seine Erstgeburt verkaufte. Ihr wisst ja, dass er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, denn er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte.
Ganz schön hohe Ansprüche sind das, die der Hebräerbrief hier an uns Christen stellt. Aufraffen sollen wir uns und die Müdigkeit abschütteln. Gerade Wege sollen wir suchen statt krummer Touren. Um den Frieden sollen wir uns kümmern und um die „Heiligung“, was auch immer das ist – vielleicht die Dinge, die wir eben in der Schriftlesung gehört haben. Gut, darum kann man sich ja bemühen – ist ja schließlich alles nichts Schlechtes. Und man kann sich engagieren als Christ – im persönlichen Leben und durch Mitarbeit in der Gemeinde. Aber dann kommt’s: Wehe, wir fallen dabei auf die Nase! Wehe, es wird uns zu alles zu viel, so dass wir eines Tages sagen: „Den Stress tue ich mir nicht länger an – seht zu, wie ihr ohne mich klarkommt!“ Wehe, wenn wir Gott eines Tages den Rücken kehren, weil wir nichts mehr mit ihm erleben! Dann geht’s uns wie Esau: Wenn wir dann irgendwann merken, dass uns ohne Gemeinde doch etwas fehlt, wenn wir unseren Abschied vom Glauben rückgängig machen wollen, dann sagt Gott: „Nein. Du hast deine Chance vertan, mit dir will ich nichts mehr zu tun haben. Mach, dass du fort kommst!“
Das ist hart. Härter geht’s kaum. Aber Sie haben sich vielleicht auch schon gefragt: Stimmt das denn? Ist Gott wirklich so zu uns? War er so zu Esau? Erinnern wir uns kurz: Da waren zwei Brüder, Zwillinge, Jakob und Esau. Esau war der Erstgeborene. Er war auch der Stärkere, Jakob war dafür der Schlauere. Esau liebte die Jagd und die freie Natur, Jakob war Hirte und eher ein Stubenhocker. Eines Tages kam Esau müde und mit einem Bärenhunger von der Jagd nach Hause. Schon von weitem roch er, dass Jakob einen seiner phantastischen Eintöpfe gekocht hatte. Heißhungrig wie er war, wollte er sich gleich draufstürzen. Aber Jakob hielt ihn zurück: „Moment! Wenn du den Eintopf haben willst, musst du mir erst dein Erstgeburtsrecht abtreten.“ Esau hatte nur Augen und Nase für den dampfenden Suppentopf. „Wenn ich jetzt vor Hunger sterbe, habe ich auch nichts mehr von meiner Erstgeburt. Also bitte: du kannst meine Rechte haben, aber halt mich jetzt nicht mehr vom Essen ab!“ Damit war die Sache abgemacht. Als dann ihr Vater Isaak, alt und blind geworden, seinem erbberechtigten Sohn den väterlichen Segen erteilen wollte, da gab sich Jakob für Esau aus. Er konnte sich ja nun sogar berechtigt fühlen, Vater und Bruder übers Ohr zu hauen. Jakob bekam den Segen, und Esau ging leer aus. Erst jetzt dämmerte ihm, was ihm entgangen war, aber da war es zu spät.
Das kennen Sie doch sicher auch: Wenn man so richtig kaputt und hungrig sind, dann lässt man manches mit sich machen, was man sonst nie zulassen würde, dann wird vielleicht auch manches völlig belanglos, was man sonst ganz wichtig findet. Und das gibt es eben auch in unserem Glaubensleben. Viele stecken zum Beispiel eine Menge Zeit und Energie in diese Kirchengemeinde: im Presbyterium, in der Jugendarbeit, in Chören und Gemeindegruppen, wo auch immer. Und sie tun das eigentlich gern. Aber trotzdem fragen sie sich das vielleicht auch schon mal, wenn so eins zum andern kommt und der Terminkalender immer voller wird, wenn es nicht vorangeht und womöglich noch Streit gibt: „Warum mache ich das alles eigentlich? Und warum bleibt immer alles an mir hängen, während andere sich auf die faule Haut legen? Ich mühe mich ab, um ein positives Bild von Kirche und Gemeinde zu vermitteln, und dann fliegt wieder irgendwo ein Skandal auf, und ich muss mir anhören, warum ich da eigentlich noch mitmache. Warum also nicht die Brocken hinschmeißen und einfach gemütlich zu Hause hocken bleiben?“ Ein anderes Beispiel: Ich gehe davon aus, dass alle, die heute hier sind, glauben oder wenigstens glauben wollen, dass es einen guten Gott gibt, der sie lieb hat. Aber Sie kennen sicher auch alle die Zeiten, wo Sie überhaupt nichts davon sehen und spüren, dass es so ist. Und dann ist Ihnen wohl auch schon der Gedanke gekommen: „Woher war ich mir eigentlich mal so sicher, dass das stimmt, was ich glaube? Hab ich mir nicht doch die ganze Zeit etwas vorgemacht?“ Von „müden Händen“ und „wankenden Knien“ spricht der Hebräerbrief, und er meint damit genau solche Dinge. Denn die gab es zu seiner Zeit schon genauso, nur in anderer Form.
Esau verkauft sein Erstgeburtsrecht: „Alles egal, Hauptsache ich werde satt.“ So könnte das mit unseren „müden Händen“ und „wankenden Knien“ auch ausgehen. Dann beschließt der frustrierte Mitarbeiter: „Jetzt denke ich endlich mal an mich und lass die anderen zusehen, wie sie klar kommen.“ Und die enttäuschte Konfirmandin sagt sich: „Wenn ich von Gott nichts spüre, dann kann er mir von jetzt an gestohlen bleiben.“ Dass es so ausgehen könnte bei seinen Leuten, das fürchtet auch der Schreiber des Hebräerbriefs. Dagegen will er sie aufmuntern und wachrütteln: Keiner soll straucheln, keine soll Gottes Gnade versäumen.
Nun gibt es in einer christlichen Gemeinde natürlich nicht nur Müde und Lahme. Vielleicht gehören Sie ja auch zu denen, die mit Gott und der Welt gerade einigermaßen im Reinen sind. Aber die spricht der Hebräerbrief auch an. Er empfiehlt ihnen: „Seht darauf, achtet aufeinander!“ Vielleicht klingt das für Sie wie: Kontrolliert euch gegenseitig! Das wären dann Stasi- oder NSA-Methoden. Aber man kann es ja auch positiv deuten: Lasst es euch nicht gleichgültig sein, wie es euren Mitchristen geht. Lasst sie nicht ins offene Messer rennen wie Jakob seinen Bruder. Wenn ihr seht, dass jemand mit seiner Arbeit für die Gemeinde überfordert ist, dann überlegt, wie ihr ihn oder sie entlasten könnt. Wenn ihr spürt, dass jemand mit seinem Glauben ins Schwimmen kommt, dann kümmert euch um sie oder ihn und lasst den Kontakt nicht abreißen. Und bedenkt, dass ihr irgendwann auch mal die Müden seid.
Aber es kann auch sein, dass das alles nichts hilft. Es kann sein, dass es manchen von uns so geht wie Esau: Erst viel zu spät begriff er, was er da leichtfertig preisgegeben hatte. Wenn der ehemals engagierte Mitarbeiter seinen Kram endgültig hingeschmissen hat, dann vermisst er vielleicht schon bald die sinnvolle Aufgabe, die menschlichen Kontakte, das Auftanken in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten. Wenn die Konfirmandin jahrelang ganz gut ohne Gott ausgekommen ist, dann sehnt sie sich als Erwachsene vielleicht doch irgendwann zurück nach ihrem Kinderglauben, der ihr einmal festen Halt gab, in dem sie sich geliebt und geborgen fühlen konnte. Der Hebräerbrief setzt alles daran, dass seinen Lesern das klar wird, bevor es so weit kommt. Nicht in diesem Text, aber im größten Teil des Briefes spricht er davon, was Gott uns alles geschenkt hat: Er ist selber Mensch geworden, um alles beiseite zu räumen, was uns von ihm trennt. Er hat zwischen sich und uns alles in Ordnung gebracht, ein für allemal. Wir sind heilig, das heißt: wir gehören zu ihm. Und wenn hier gesagt wird: „Jagt der Heiligung nach“, dann bedeutet das nichts anderes als: Bleibt das, was ihr seid; haltet fest, was ihr habt!
Aber was ist nun, wenn uns das erst aufgeht, wenn wir es losgelassen haben? Gibt es dann wirklich kein Zurück mehr, keinen Neuanfang? Erinnern wir uns noch einmal, wie das bei Esau war: Als Isaak seine Verzweiflung sah, gab er ihm doch noch einen Segen – nicht den großen, einmaligen Verheißungssegen, aber immerhin einen, mit dem er leben konnte. Trotzdem wollte er seinen Bruder, diesen Betrüger, am liebsten umbringen. Jakob musste vor Esaus Wut außer Landes fliehen. Jahrzehntelang herrschte Funkstille zwischen beiden. Aber als sich Jakob nach vielen Jahren dann doch mit weichen Knien wieder nach Hause traute, da hatte die Geschwisterliebe den Zorn besiegt. Esau fiel ihm um den Hals, versöhnte sich mit seinem Bruder, und beide wurden friedliche Nachbarn. Ja, es stimmt: Trennstriche die wir zwischen uns und anderen gezogen haben, sind nur sehr schwer zu überwinden. Manches lässt sich nie oder nur zum Teil wieder rückgängig machen. Und doch gibt es das, dass Menschen sich versöhnen und neu anfangen. Und für Trennstriche zwischen uns und Gott gilt das erst recht. Es kann schon sein, dass sich Gott noch ziemlich lange verborgen hält, wenn wir uns wieder auf die Suche nach ihm machen. Aber wenn es stimmt, was der Hebräerbrief sagt, wenn er die Trennung zwischen sich und uns ein für allemal beseitigt hat, dann wird er nicht für immer schweigen. Wenn der Hebräerbrief das Gegenteil behauptet, hat er nicht nur die Esau-Geschichte nicht richtig gelesen. Er macht auch die Barmherzigkeit Gottes klein, von der er vorher so große Dinge erzählt hat.
Also lassen wir uns durch unseren Text ruhig aufmuntern, unsere Müdigkeit abzuschütteln. Lassen wir uns von ihm dazu ermahnen, das festzuhalten, was Gott uns geschenkt hat. Aber lassen wir uns durch ihn nicht davon abbringen, dass nichts uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserm Herrn. Amen.
(Pfarrer Dr. Martin Klein)