Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 19. Januar 2014

Gottesdienst für den zweiten Sonntag nach Epiphanias

Text: Hebr 12,12-17

Darum stärkt die müden Hände und die wankenden Knie und macht sichere Schritte mit euren Füßen, damit nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde. Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn se­hen wird, und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade ver­säume; dass nicht etwa eine bittere Wurzel aufwachse und Unfrieden an­richte und viele durch sie unrein werden; dass nicht jemand sei ein Abtrünniger oder Gottloser wie Esau, der um der einen Speise willen seine Erstgeburt verkaufte. Ihr wisst ja, dass er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, denn er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte.

Ganz schön hohe Ansprüche sind das, die der Hebräerbrief hier an uns Christen stellt. Aufraffen sollen wir uns und die Müdigkeit abschüt­teln. Gerade Wege sollen wir suchen statt krummer Tou­ren. Um den Frieden sollen wir uns kümmern und um die „Heili­gung“, was auch immer das ist – vielleicht die Dinge, die wir eben in der Schriftlesung gehört haben. Gut, darum kann man sich ja bemü­hen – ist ja schließ­lich alles nichts Schlechtes. Und man kann sich engagieren als Christ – im persönlichen Leben und durch Mitarbeit in der Gemeinde. Aber dann kommt’s: Wehe, wir fallen dabei auf die Nase! Wehe, es wird uns zu alles zu­ viel, so dass wir eines Tages sagen: „Den Stress tue ich mir nicht länger an – seht zu, wie ihr ohne mich klarkommt!“ Wehe, wenn wir Gott eines Tages den Rücken kehren, weil wir nichts mehr mit ihm erle­ben! Dann geht’s uns wie Esau: Wenn wir dann irgend­wann mer­ken, dass uns ohne Gemeinde doch etwas fehlt, wenn wir unseren Ab­schied vom Glauben rückgängig machen wollen, dann sagt Gott: „Nein. Du hast deine Chance vertan, mit dir will ich nichts mehr zu tun haben. Mach, dass du fort kommst!“

Das ist hart. Härter geht’s kaum. Aber Sie haben sich vielleicht auch schon gefragt: Stimmt das denn? Ist Gott wirklich so zu uns? War er so zu Esau? Erinnern wir uns kurz: Da waren zwei Brüder, Zwil­linge, Jakob und Esau. Esau war der Erstgeborene. Er war auch der Stär­kere, Jakob war dafür der Schlauere. Esau liebte die Jagd und die freie Natur, Jakob war Hirte und eher ein Stubenhocker. Eines Tages kam Esau müde und mit einem Bären­hunger von der Jagd nach Hause. Schon von weitem roch er, dass Jakob einen seiner phantasti­schen Eintöpfe gekocht hatte. Heißhung­rig wie er war, wollte er sich gleich draufstürzen. Aber Jakob hielt ihn zurück: „Moment! Wenn du den Eintopf haben willst, musst du mir erst dein Erstgeburtsrecht ab­treten.“ Esau hatte nur Au­gen und Nase für den dampfenden Sup­pentopf. „Wenn ich jetzt vor Hun­ger sterbe, habe ich auch nichts mehr von meiner Erstgeburt. Also bitte: du kannst meine Rechte ha­ben, aber halt mich jetzt nicht mehr vom Essen ab!“ Damit war die Sache abge­macht. Als dann ihr Vater Isaak, alt und blind geworden, seinem erbberechtigten Sohn den väter­lichen Segen erteilen wollte, da gab sich Jakob für Esau aus. Er konnte sich ja nun sogar berech­tigt fühlen, Vater und Bruder übers Ohr zu hauen. Jakob bekam den Se­gen, und Esau ging leer aus. Erst jetzt dämmerte ihm, was ihm ent­gangen war, aber da war es zu spät.

Das kennen Sie doch sicher auch: Wenn man so richtig ka­putt und hungrig sind, dann lässt man manches mit sich ma­chen, was man sonst nie zulassen würde, dann wird vielleicht auch man­ches völlig belang­los, was man sonst ganz wichtig findet. Und das gibt es eben auch in unserem Glaubensleben. Viele stecken zum Bei­spiel eine Menge Zeit und Energie in diese Kirchengemeinde: im Presbyterium, in der Ju­gendarbeit, in Chören und Gemeindegruppen, wo auch immer. Und sie tun das eigentlich gern. Aber trotzdem fragen sie sich das vielleicht auch schon mal, wenn so eins zum andern kommt und der Terminka­lender immer voller wird, wenn es nicht vorangeht und womöglich noch Streit gibt: „Warum mache ich das alles eigentlich? Und warum bleibt immer alles an mir hängen, während andere sich auf die faule Haut legen? Ich mühe mich ab, um ein positives Bild von Kirche und Gemeinde zu vermitteln, und dann fliegt wieder irgendwo ein Skandal auf, und ich muss mir anhören, warum ich da eigentlich noch mitma­che. Warum also nicht die Brocken hinschmeißen und einfach gemüt­lich zu Hause hocken bleiben?“ Ein an­deres Beispiel: Ich gehe davon aus, dass alle, die heute hier sind, glauben oder wenigstens glauben wollen, dass es einen gu­ten Gott gibt, der sie lieb hat. Aber Sie ken­nen sicher auch alle die Zeiten, wo Sie überhaupt nichts davon sehen und spüren, dass es so ist. Und dann ist Ihnen wohl auch schon der Gedanke ge­kommen: „Woher war ich mir eigentlich mal so sicher, dass das stimmt, was ich glaube? Hab ich mir nicht doch die ganze Zeit etwas vorge­macht?“ Von „müden Händen“ und „wankenden Knien“ spricht der Hebräer­brief, und er meint da­mit genau solche Dinge. Denn die gab es zu seiner Zeit schon genauso, nur in anderer Form.

Esau verkauft sein Erstgeburtsrecht: „Alles egal, Haupt­sache ich werde satt.“ So könnte das mit unseren „müden Hän­den“ und „wan­kenden Knien“ auch ausgehen. Dann beschließt der frustrierte Mitar­beiter: „Jetzt denke ich endlich mal an mich und lass die an­deren zu­sehen, wie sie klar kommen.“  Und die enttäuschte Konfirmandin sagt sich: „Wenn ich von Gott nichts spüre, dann kann er mir von jetzt an gestohlen bleiben.“ Dass es so ausgehen könnte bei sei­nen Leu­ten, das fürchtet auch der Schreiber des Hebräerbriefs. Dage­gen will er sie aufmuntern und wachrütteln: Keiner soll straucheln, keine soll Gottes Gnade versäumen.

Nun gibt es in einer christlichen Gemeinde natürlich nicht nur Müde und Lahme. Vielleicht gehören Sie ja auch zu denen, die mit Gott und der Welt gerade einigermaßen im Rei­nen sind. Aber die spricht der Hebräerbrief auch an. Er empfiehlt ihnen: „Seht darauf, achtet aufei­nander!“ Vielleicht klingt das für Sie wie: Kontrolliert euch ge­gensei­tig! Das wären dann Stasi- oder NSA-Methoden. Aber man kann es ja auch positiv deuten: Lasst es euch nicht gleichgültig sein, wie es eu­ren Mitchristen geht. Lasst sie nicht ins offene Messer rennen wie Jakob seinen Bru­der. Wenn ihr seht, dass jemand mit seiner Arbeit für die Ge­mein­de über­fordert ist, dann überlegt, wie ihr ihn oder sie entlasten könnt. Wenn ihr spürt, dass jemand mit seinem Glauben ins Schwim­men kommt, dann kümmert euch um sie oder ihn und lasst den Kon­takt nicht abrei­ßen. Und bedenkt, dass ihr irgendwann auch mal die Müden seid.

Aber es kann auch sein, dass das alles nichts hilft. Es kann sein, dass es manchen von uns so geht wie Esau: Erst viel zu spät begriff er, was er da leichtfertig preisgegeben hatte. Wenn der ehe­mals enga­gierte Mitarbeiter seinen Kram endgül­tig hingeschmissen hat, dann vermisst er vielleicht schon bald die sinnvolle Auf­gabe, die mensch­lichen Kon­takte, das Auf­tanken in der Ge­meinschaft mit Gleichge­sinnten. Wenn die Konfirmandin jahrelang ganz gut ohne Gott aus­gekommen ist, dann sehnt sie sich als Erwach­sene vielleicht doch irgendwann zurück nach ihrem Kinderglauben, der ihr einmal fe­sten Halt gab, in dem sie sich geliebt und geborgen fühlen konnte. Der Hebräerbrief setzt alles daran, dass seinen Lesern das klar wird, be­vor es so weit kommt. Nicht in diesem Text, aber im größten Teil des Briefes spricht er da­von, was Gott uns alles geschenkt hat: Er ist sel­ber Mensch gewor­den, um alles beiseite zu räumen, was uns von ihm trennt. Er hat zwi­schen sich und uns alles in Ordnung gebracht, ein für allemal. Wir sind heilig, das heißt: wir gehören zu ihm. Und wenn hier gesagt wird: „Jagt der Heiligung nach“, dann bedeutet das nichts anderes als: Bleibt das, was ihr seid; haltet fest, was ihr habt!

Aber was ist nun, wenn uns das erst aufgeht, wenn wir es los­gelassen haben? Gibt es dann wirklich kein Zurück mehr, keinen Neuanfang? Erinnern wir uns noch einmal, wie das bei Esau war: Als Isaak seine Verzweiflung sah, gab er ihm doch noch einen Segen – nicht den gro­ßen, einmaligen Verheißungs­segen, aber immerhin ei­nen, mit dem er leben konnte. Trotzdem wollte er seinen Bruder, die­sen Betrüger, am liebsten umbrin­gen. Jakob musste vor Esaus Wut außer Landes flie­hen. Jahr­zehntelang herrschte Funkstille zwischen beiden. Aber als sich Jakob nach vielen Jahren dann doch mit wei­chen Knien wieder nach Hause traute, da hatte die Geschwisterliebe den Zorn be­siegt. Esau fiel ihm um den Hals, versöhnte sich mit sei­nem Bruder, und beide wurden friedliche Nachbarn. Ja, es stimmt: Trennstriche die wir zwischen uns und anderen gezogen haben, sind nur sehr schwer zu überwinden. Manches lässt sich nie oder nur zum Teil wieder rück­gängig machen. Und doch gibt es das, dass Menschen sich ver­söhnen und neu anfangen. Und für Trenn­striche zwischen uns und Gott gilt das erst recht. Es kann schon sein, dass sich Gott noch ziemlich lange verborgen hält, wenn wir uns wieder auf die Suche nach ihm machen. Aber wenn es stimmt, was der Hebräerbrief sagt, wenn er die Tren­nung zwi­schen sich und uns ein für allemal beseitigt hat, dann wird er nicht für immer schweigen. Wenn der Hebräerbrief das Gegen­teil be­hauptet, hat er nicht nur die Esau-Geschichte nicht richtig gelesen. Er macht auch die Barmherzigkeit Gottes klein, von der er vorher so große Dinge erzählt hat.

Also lassen wir uns durch unseren Text ruhig aufmuntern, unsere Mü­dig­keit abzuschütteln. Lassen wir uns von ihm dazu ermah­nen, das fest­zu­halten, was Gott uns geschenkt hat. Aber lassen wir uns durch ihn nicht davon abbringen, dass nichts uns schei­den kann von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserm Herrn. Amen.

(Pfarrer Dr. Martin Klein)