Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 16.05.2021

GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG EXAUDI

Text: Joh 7,37-39

Am letzten, dem höchsten Tag des Festes, trat Jesus auf und rief: „Wen da dürstet, der komme zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt. Wie die Schrift sagt: Von seinem Leib werden Ströme lebendi­gen Wassers fließen.“ Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht.

„Ströme lebendigen Wassers“ – was für einen kraftvollen Ausdruck hat Martin Luther da mal wieder gefunden, als er Johannes 7 über­setzte! Was schwingt da nicht alles mit: an Lebensfülle und Lebens­durst, an Sehnsüchten und Hoffnungen! Und wer versucht nicht alles, etwas von diesem kräftigen Sprachfluss auf seine eigenen Müh­len zu leiten! Ich hab dazu mal ein bisschen gegoogelt. Als Ers­tes bin ich auf „lebendigeswasser.de“ gesto­ßen. Diese Homepage wollte mich überzeugen, dass ich unbe­dingt eine „Osmose-Anlage“ für besseres Trinkwasser brauche. Und als ich „Wasser des Lebens“ eingegeben habe, sprang mir ein Buch ins Auge mit dem Titel: „Was­ser des Lebens – Einführung in die Spiritua­lität des Whiskys“. Denn „Whisky“ soll auf Gälisch „Wasser des Lebens“ bedeuten. Aha. Mein ehemaliger Vikar hat mich zwar überzeugt, dass ein Whisky-Tasting in der Kirche auch geistlich durchaus anregend sein kann – Stich­wort: „genussvoll glauben“. Aber sind deshalb die Spirituosen jetzt auch schon spirituell? Und kann eine Osmose-Anlage wirklich Was­ser zum Leben erwecken? Auch ein Mineralwasser wurde vor Jahren mal mit „das Wasser des Lebens“ beworben – für solche Angeberei wurde die Firma allerdings längst mit der Pleite bestraft.

Nein, in der Werbung ist das „lebendige Wasser“ wohl doch eher fehl am Platz. Ohne Google schießt mir da ganz anderes durch den Kopf: Bilder, Erfahrun­gen, Wis­sensfetzen. Ich sehe Erde ohne Was­ser vor mir: steinhart und aufge­sprungen, und abgezehrte Men­schen, die auf diesem Boden kauern, hungernd und dürstend. Ich muss an Quellen in der Wüste denken: Inseln der Fruchtbarkeit in einer lebensfeindlichen Umge­bung. Mir fällt ein, dass im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, der gerade wieder auflo­dert, das knappe Wasser eine wichtige Rolle spielt. Im Wasser hat alles Leben angefangen, habe ich gelernt, und ohne Wasser geht alles zugrunde. Wasser des Lebens, in der Tat. Wasser ist Leben!

Kein Wunder, dass sich viele Sagen und Geschichten darum gerankt haben. Unter Grimms Mär­chen zum Beispiel gibt es eins namens „Das Wasser des Le­bens“. Es geht dabei um ein Wasser, das alle Krankheiten heilen kann. Und der berühmte „Jungbrunnen“, der ewige Jugend verleiht, geistert schon seit dem Mittelalter durch die Literatur- und Kunstge­schichte – und durch die Sehnsüchte von Entde­ckungsreisenden.

Kein Wunder ebenfalls, dass Wasser auch in allen Religionen eine wichtige Rolle spielt. Es ist nicht nur das Element des Lebens, son­dern es ist auch ein Symbol für Ursprung, Sinn und Ziel des Lebens. Dafür gibt es zahllose Beispiele. Von einem möchte ich erzählen, weil es mit dem heutigen Predigttext zu tun hat.

Eins der drei jüdischen Hauptfeste ist das Laubhüttenfest im Herbst. Es ist ein Erntedankfest und zugleich ein Erinne­rungsfest an die Zeit der Wüstenwanderung Israels. Es dauert eine Woche und erreicht seinen Höhepunkt am letzten Tag. Zur Zeit Jesu, als in Jerusa­lem noch der Tempel stand, wurde beim Laubhütten­fest ein eigen­artiger Brauch gepflegt. Am Fuß des Tempel­bergs, im Kidron-Tal, gab und gibt es noch immer die Gihon-Quelle, die einzige Quelle Je­rusalems, die das ganze Jahr Wasser führt. Seit König Hiskias Zeiten wird das Wasser dieser Quelle durch einen unterirdi­schen Tun­nel in den Schi­loa-Teich auf der anderen Bergseite geleitet und gelangt so ins In­nere der Stadt. An jedem Tag des Laubhüt­ten­festes schöpften Pries­ter Wasser aus die­sem Teich, trugen es hinauf zum Tempel und gos­sen es dort auf den Brand­opfer-Al­tar. Be­sonders feier­lich ging es dabei am letzten Fest­tag zu. Wie das Sym­bol des Was­sers überhaupt hatte dieser Brauch viele Bedeutun­gen. Einmal bat man damit Gott zum Jahresanfang um genü­gend Regen für die nächste Ernte. Dann erin­nerte man sich an die Wüstenwanderung: daran, wie Mose im Auftrag Got­tes mit sei­nem Stab an einen Felsen schlug und Was­ser heraus floss, das den Durst des Volkes stillte. Und schließlich blickte man voraus auf die Zukunft: Man dachte an Verheißungen aus dem Prophe­ten Jesaja: „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöp­fen aus den Heilsbrunnen“ (Jes 12,3). Oder: „Ich, der Herr, will Was­ser gießen auf das Durstige und Ströme auf das Dürre: ich will mei­nen Geist  auf deine Kinder gießen und meinen Segen auf deine Nach­kommen“ (Jes 44,3). Und man las beim Propheten Hesekiel nach, wie er einen Was­serstrom beschreibt, der in der künftigen Heilszeit mitten im Tempel entsprin­gen und das ganze Land bewäs­sern wird. Die Offenba­rung des Johan­nes greift dieses Bild auf, wenn sie das himmli­sche Jerusa­lem beschreibt. All diese Bilder drü­cken Sehn­sucht und Hoffnung aus. Hoffnung auf eine Zeit, in der es Leben in Hülle und Fülle geben wird. Niemand muss dann mehr Hun­ger und Durst leiden, niemand muss sich mehr um knappes Was­ser streiten. Alles Leben kann sich frei und unge­hindert entfal­ten. Und dass es so kommt, dafür sorgt Gott, sagen die Pro­pheten.

An diesem letzten Tag des Laubhüttenfestes nun, während die feier­li­che Wasserzeremonie stattfindet, stellt sich Jesus im Tempel hin und sagt: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“ Das ist eine Ansage, die es in sich hat. Denn der Evange­list will damit sagen: In Jesus Christus sind all die Verheißun­gen der Propheten erfüllt. Aus ihm werden Ströme lebendigen Wassers flie­ßen. Er ist das Was­ser des Lebens. Nicht deshalb, weil er ein so bemer­kenswerter Mensch ist. Auch nicht deshalb, weil er ein­zigar­tige Dinge sagt und tut. Sondern deshalb, weil in ihm Gott selbst Mensch geworden ist. Nur Gott kann von sich behaupten, dass er das Wasser des Lebens ist. Denn ohne ihn, den Schöpfer, gäbe es kein Leben und auch kein Wasser, das Leben spendet. Unser christli­ches Symbol dafür ist die Taufe – und die Gabe des heiligen Geistes, die mit der Taufe verbun­den ist.

Wir sehen: Es steckt viel drin in dem Ausdruck „Wasser des Le­bens“. Es geht dabei letztlich um nicht weniger als das Heil der Menschheit und der ganzen Welt. Und dann kommen irgendwelche Werbestra­te­gen daher und wollen uns mit diesem Etikett Sprudel, Schnaps oder Filteranlagen verkaufen. Was für eine absurde Anmaßung, kann man da nur sagen, wenn man all die Sagen und Mythen, wenn man Jesaja, Jesus und Jo­han­nes im Kopf hat! Was für eine dreiste Gedankenlosigkeit! Das Was­ser des Lebens lässt sich doch nicht tech­nisch herstellen oder auf Flaschen ziehen!

Gut, wahrscheinlich nehme ich die Werbung viel zu ernst. Die meis­ten Zeitgenossen zucken da nur mit den Schultern und sagen: „Na und? Ist halt irgend so ein Spruch!“ Und der verantwortliche Marke­ting-Experte würde auf Nachfrage wohl antworten: „Ein Pro­dukt wird nur gekauft, wenn es auffällt. Und weil der Markt heiß um­kämpft ist, muss man eben mit starken Sprüchen nachhelfen.“ Bei mir verfängt das allerdings nicht. Ich werde trotzdem keine Osmose-Anlage kaufen. Und wenn ich mal einen Whisky trinke, dann einfach zum Genießen und nicht zum „genussvoll glauben“.

Also starte ich besser doch keinen Feldzug gegen den Missbrauch religi­öser Sprache in der Werbung. Es wäre auch ein viel zu weites Feld, und ich würde ich mich da­mit nur lächerlich machen. Ich stelle einfach nur fest, dass es so ist. Und ich frage mich, wie das kommt. Wie kommt es, dass sich heutzutage ein Ausdruck von so tiefer und weitreichender Bedeutung auf so banale Dinge reduzie­ren lässt? Und warum ist uns das so egal?

Vielleicht deshalb: Lange ist uns gar nicht mehr bewusst gewesen, was Wasser wirklich bedeutet. Während die Wüsten immer größer werden und ein Großteil der Menschheit kein saube­res Wasser zur Ver­fügung hat, haben wir gedankenlos mit bestem Trinkwasser unse­ren Rasen gesprengt oder unser Klo gespült. Und trockenes Wetter mit viel Sonne haben wir einfach genossen, ohne uns viel um die Sorgen der Landwirte zu scheren. Okay, einige extrem trockene Sommer und der traurige Anblick staubiger Äcker und abge­holzter Fichtenwälder haben uns inzwischen nachdenklicher gemacht. Aber solange die Obernau im Frühjahr wieder voll ist und immer genug Wasser aus dem Hahn kommt, sind wir noch nicht wirklich beunru­higt.

Und wie mit dem Symbol des Wassers, so ist es wohl auch mit dem, wofür es steht. Leben, erfülltes Leben, Leben im Einklang mit Gott und der Welt. Sicher, unser Leben lässt immer manche Wünsche of­fen, beim einen mehr, beim anderen weniger. Aber kennen wir noch echten Lebensdurst? Schließlich ist es noch keiner Generation und keinem Landstrich der Erde je so gut gegangen wie uns hier und heute. Wir können uns Lebensträume erfüllen, die für unsere Großel­tern noch unerreichbar waren und es für siebzig bis achtzig Prozent der Menschheit immer noch sind. Brauchen wir da noch einen, der uns zuruft: „Wen da dürstet, der komme zu mir“? Ist doch auch nur so ein Wer­beslogan, denken viele. Und dann neh­men sie die Einla­dung Jesu genauso schulterzuckend zur Kenntnis wie die sonstige Re­klame. Erfüll­tes Leben? Danke, wir haben’s ja – und was wir noch nicht haben, das bekommen wir noch!

So haben wir jedenfalls bis März 2020 gedacht. Dann kam „Corona“, und uns wurde schlagartig klar, dass unsere ganze Selbstzufrieden­heit auf tönernen Füßen steht. Bisher hatten immer die Armen die Viren – Denge, Ebola und wie sie alle hießen – jetzt kamen die Bilder von überforderten Krankenhäusern und endlosen Sargreihen plötz­lich aus Norditalien, aus New York, aus Sachsen. Bisher war Wirtschafts­wachstum das Maß aller Dinge – jetzt musste plötzlich die Gesundheit vorgehen, trotz heftiger Rezession. Bisher ging uns die Freiheit, nicht zuletzt die Reisefreiheit über alles – jetzt mussten wir plötzlich auf vieles verzichten, was vorher unverzichtbar schien. Zwar sind schon immer Dinge geschehen, die das Leben von Men­schen plötzlich über den Haufen geworfen haben – Unfälle, Katastro­phen, Terroranschläge. Aber sonst sind nie alle gleichzeitig davon betroffen. Und wir merken, wie schnell alles vergehen kann, worauf wir unser Leben bauen. Wäre es da nicht doch gut, wenn dieses Leben doch nicht da­mit steht und fällt, was wir dar­aus ma­chen? Wäre es nicht tröstlich, zu wissen, dass die Quelle des Le­bens nicht versiegt, auch wenn wir mit unseren Plänen auf eine lange Durststrecke geraten?

Vielleicht sollten wir also noch einmal über die Einladung Jesu nachden­ken: „Wen da dürstet, der komme zu mir“, der suche und finde das Leben bei dem, der es uns gegeben hat. Das sollten wir immer wieder tun, auch wenn wir die Einladung schon oft gehört haben, auch wenn wir sie grundsätzlich schon angenommen haben. Denn es tut uns gut, wenn wir uns das im­mer wieder klar machen: Wir können das Wasser des Lebens nicht auf Flaschen ziehen. Aber wir können uns darauf verlas­sen, dass seine Quelle niemals aufhö­ren wird zu sprudeln – in diesem Leben und darüber hinaus. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein