GOTTESDIENST FÜR DEN SONNTAG EXAUDI
Text: Joh 7,37-39
Am letzten, dem höchsten Tag des Festes, trat Jesus auf und rief: „Wen da dürstet, der komme zu mir, und es trinke, wer an mich glaubt. Wie die Schrift sagt: Von seinem Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“ Das sagte er aber von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da; denn Jesus war noch nicht verherrlicht.
„Ströme lebendigen Wassers“ – was für einen kraftvollen Ausdruck hat Martin Luther da mal wieder gefunden, als er Johannes 7 übersetzte! Was schwingt da nicht alles mit: an Lebensfülle und Lebensdurst, an Sehnsüchten und Hoffnungen! Und wer versucht nicht alles, etwas von diesem kräftigen Sprachfluss auf seine eigenen Mühlen zu leiten! Ich hab dazu mal ein bisschen gegoogelt. Als Erstes bin ich auf „lebendigeswasser.de“ gestoßen. Diese Homepage wollte mich überzeugen, dass ich unbedingt eine „Osmose-Anlage“ für besseres Trinkwasser brauche. Und als ich „Wasser des Lebens“ eingegeben habe, sprang mir ein Buch ins Auge mit dem Titel: „Wasser des Lebens – Einführung in die Spiritualität des Whiskys“. Denn „Whisky“ soll auf Gälisch „Wasser des Lebens“ bedeuten. Aha. Mein ehemaliger Vikar hat mich zwar überzeugt, dass ein Whisky-Tasting in der Kirche auch geistlich durchaus anregend sein kann – Stichwort: „genussvoll glauben“. Aber sind deshalb die Spirituosen jetzt auch schon spirituell? Und kann eine Osmose-Anlage wirklich Wasser zum Leben erwecken? Auch ein Mineralwasser wurde vor Jahren mal mit „das Wasser des Lebens“ beworben – für solche Angeberei wurde die Firma allerdings längst mit der Pleite bestraft.
Nein, in der Werbung ist das „lebendige Wasser“ wohl doch eher fehl am Platz. Ohne Google schießt mir da ganz anderes durch den Kopf: Bilder, Erfahrungen, Wissensfetzen. Ich sehe Erde ohne Wasser vor mir: steinhart und aufgesprungen, und abgezehrte Menschen, die auf diesem Boden kauern, hungernd und dürstend. Ich muss an Quellen in der Wüste denken: Inseln der Fruchtbarkeit in einer lebensfeindlichen Umgebung. Mir fällt ein, dass im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, der gerade wieder auflodert, das knappe Wasser eine wichtige Rolle spielt. Im Wasser hat alles Leben angefangen, habe ich gelernt, und ohne Wasser geht alles zugrunde. Wasser des Lebens, in der Tat. Wasser ist Leben!
Kein Wunder, dass sich viele Sagen und Geschichten darum gerankt haben. Unter Grimms Märchen zum Beispiel gibt es eins namens „Das Wasser des Lebens“. Es geht dabei um ein Wasser, das alle Krankheiten heilen kann. Und der berühmte „Jungbrunnen“, der ewige Jugend verleiht, geistert schon seit dem Mittelalter durch die Literatur- und Kunstgeschichte – und durch die Sehnsüchte von Entdeckungsreisenden.
Kein Wunder ebenfalls, dass Wasser auch in allen Religionen eine wichtige Rolle spielt. Es ist nicht nur das Element des Lebens, sondern es ist auch ein Symbol für Ursprung, Sinn und Ziel des Lebens. Dafür gibt es zahllose Beispiele. Von einem möchte ich erzählen, weil es mit dem heutigen Predigttext zu tun hat.
Eins der drei jüdischen Hauptfeste ist das Laubhüttenfest im Herbst. Es ist ein Erntedankfest und zugleich ein Erinnerungsfest an die Zeit der Wüstenwanderung Israels. Es dauert eine Woche und erreicht seinen Höhepunkt am letzten Tag. Zur Zeit Jesu, als in Jerusalem noch der Tempel stand, wurde beim Laubhüttenfest ein eigenartiger Brauch gepflegt. Am Fuß des Tempelbergs, im Kidron-Tal, gab und gibt es noch immer die Gihon-Quelle, die einzige Quelle Jerusalems, die das ganze Jahr Wasser führt. Seit König Hiskias Zeiten wird das Wasser dieser Quelle durch einen unterirdischen Tunnel in den Schiloa-Teich auf der anderen Bergseite geleitet und gelangt so ins Innere der Stadt. An jedem Tag des Laubhüttenfestes schöpften Priester Wasser aus diesem Teich, trugen es hinauf zum Tempel und gossen es dort auf den Brandopfer-Altar. Besonders feierlich ging es dabei am letzten Festtag zu. Wie das Symbol des Wassers überhaupt hatte dieser Brauch viele Bedeutungen. Einmal bat man damit Gott zum Jahresanfang um genügend Regen für die nächste Ernte. Dann erinnerte man sich an die Wüstenwanderung: daran, wie Mose im Auftrag Gottes mit seinem Stab an einen Felsen schlug und Wasser heraus floss, das den Durst des Volkes stillte. Und schließlich blickte man voraus auf die Zukunft: Man dachte an Verheißungen aus dem Propheten Jesaja: „Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsbrunnen“ (Jes 12,3). Oder: „Ich, der Herr, will Wasser gießen auf das Durstige und Ströme auf das Dürre: ich will meinen Geist auf deine Kinder gießen und meinen Segen auf deine Nachkommen“ (Jes 44,3). Und man las beim Propheten Hesekiel nach, wie er einen Wasserstrom beschreibt, der in der künftigen Heilszeit mitten im Tempel entspringen und das ganze Land bewässern wird. Die Offenbarung des Johannes greift dieses Bild auf, wenn sie das himmlische Jerusalem beschreibt. All diese Bilder drücken Sehnsucht und Hoffnung aus. Hoffnung auf eine Zeit, in der es Leben in Hülle und Fülle geben wird. Niemand muss dann mehr Hunger und Durst leiden, niemand muss sich mehr um knappes Wasser streiten. Alles Leben kann sich frei und ungehindert entfalten. Und dass es so kommt, dafür sorgt Gott, sagen die Propheten.
An diesem letzten Tag des Laubhüttenfestes nun, während die feierliche Wasserzeremonie stattfindet, stellt sich Jesus im Tempel hin und sagt: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“ Das ist eine Ansage, die es in sich hat. Denn der Evangelist will damit sagen: In Jesus Christus sind all die Verheißungen der Propheten erfüllt. Aus ihm werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Er ist das Wasser des Lebens. Nicht deshalb, weil er ein so bemerkenswerter Mensch ist. Auch nicht deshalb, weil er einzigartige Dinge sagt und tut. Sondern deshalb, weil in ihm Gott selbst Mensch geworden ist. Nur Gott kann von sich behaupten, dass er das Wasser des Lebens ist. Denn ohne ihn, den Schöpfer, gäbe es kein Leben und auch kein Wasser, das Leben spendet. Unser christliches Symbol dafür ist die Taufe – und die Gabe des heiligen Geistes, die mit der Taufe verbunden ist.
Wir sehen: Es steckt viel drin in dem Ausdruck „Wasser des Lebens“. Es geht dabei letztlich um nicht weniger als das Heil der Menschheit und der ganzen Welt. Und dann kommen irgendwelche Werbestrategen daher und wollen uns mit diesem Etikett Sprudel, Schnaps oder Filteranlagen verkaufen. Was für eine absurde Anmaßung, kann man da nur sagen, wenn man all die Sagen und Mythen, wenn man Jesaja, Jesus und Johannes im Kopf hat! Was für eine dreiste Gedankenlosigkeit! Das Wasser des Lebens lässt sich doch nicht technisch herstellen oder auf Flaschen ziehen!
Gut, wahrscheinlich nehme ich die Werbung viel zu ernst. Die meisten Zeitgenossen zucken da nur mit den Schultern und sagen: „Na und? Ist halt irgend so ein Spruch!“ Und der verantwortliche Marketing-Experte würde auf Nachfrage wohl antworten: „Ein Produkt wird nur gekauft, wenn es auffällt. Und weil der Markt heiß umkämpft ist, muss man eben mit starken Sprüchen nachhelfen.“ Bei mir verfängt das allerdings nicht. Ich werde trotzdem keine Osmose-Anlage kaufen. Und wenn ich mal einen Whisky trinke, dann einfach zum Genießen und nicht zum „genussvoll glauben“.
Also starte ich besser doch keinen Feldzug gegen den Missbrauch religiöser Sprache in der Werbung. Es wäre auch ein viel zu weites Feld, und ich würde ich mich damit nur lächerlich machen. Ich stelle einfach nur fest, dass es so ist. Und ich frage mich, wie das kommt. Wie kommt es, dass sich heutzutage ein Ausdruck von so tiefer und weitreichender Bedeutung auf so banale Dinge reduzieren lässt? Und warum ist uns das so egal?
Vielleicht deshalb: Lange ist uns gar nicht mehr bewusst gewesen, was Wasser wirklich bedeutet. Während die Wüsten immer größer werden und ein Großteil der Menschheit kein sauberes Wasser zur Verfügung hat, haben wir gedankenlos mit bestem Trinkwasser unseren Rasen gesprengt oder unser Klo gespült. Und trockenes Wetter mit viel Sonne haben wir einfach genossen, ohne uns viel um die Sorgen der Landwirte zu scheren. Okay, einige extrem trockene Sommer und der traurige Anblick staubiger Äcker und abgeholzter Fichtenwälder haben uns inzwischen nachdenklicher gemacht. Aber solange die Obernau im Frühjahr wieder voll ist und immer genug Wasser aus dem Hahn kommt, sind wir noch nicht wirklich beunruhigt.
Und wie mit dem Symbol des Wassers, so ist es wohl auch mit dem, wofür es steht. Leben, erfülltes Leben, Leben im Einklang mit Gott und der Welt. Sicher, unser Leben lässt immer manche Wünsche offen, beim einen mehr, beim anderen weniger. Aber kennen wir noch echten Lebensdurst? Schließlich ist es noch keiner Generation und keinem Landstrich der Erde je so gut gegangen wie uns hier und heute. Wir können uns Lebensträume erfüllen, die für unsere Großeltern noch unerreichbar waren und es für siebzig bis achtzig Prozent der Menschheit immer noch sind. Brauchen wir da noch einen, der uns zuruft: „Wen da dürstet, der komme zu mir“? Ist doch auch nur so ein Werbeslogan, denken viele. Und dann nehmen sie die Einladung Jesu genauso schulterzuckend zur Kenntnis wie die sonstige Reklame. Erfülltes Leben? Danke, wir haben’s ja – und was wir noch nicht haben, das bekommen wir noch!
So haben wir jedenfalls bis März 2020 gedacht. Dann kam „Corona“, und uns wurde schlagartig klar, dass unsere ganze Selbstzufriedenheit auf tönernen Füßen steht. Bisher hatten immer die Armen die Viren – Denge, Ebola und wie sie alle hießen – jetzt kamen die Bilder von überforderten Krankenhäusern und endlosen Sargreihen plötzlich aus Norditalien, aus New York, aus Sachsen. Bisher war Wirtschaftswachstum das Maß aller Dinge – jetzt musste plötzlich die Gesundheit vorgehen, trotz heftiger Rezession. Bisher ging uns die Freiheit, nicht zuletzt die Reisefreiheit über alles – jetzt mussten wir plötzlich auf vieles verzichten, was vorher unverzichtbar schien. Zwar sind schon immer Dinge geschehen, die das Leben von Menschen plötzlich über den Haufen geworfen haben – Unfälle, Katastrophen, Terroranschläge. Aber sonst sind nie alle gleichzeitig davon betroffen. Und wir merken, wie schnell alles vergehen kann, worauf wir unser Leben bauen. Wäre es da nicht doch gut, wenn dieses Leben doch nicht damit steht und fällt, was wir daraus machen? Wäre es nicht tröstlich, zu wissen, dass die Quelle des Lebens nicht versiegt, auch wenn wir mit unseren Plänen auf eine lange Durststrecke geraten?
Vielleicht sollten wir also noch einmal über die Einladung Jesu nachdenken: „Wen da dürstet, der komme zu mir“, der suche und finde das Leben bei dem, der es uns gegeben hat. Das sollten wir immer wieder tun, auch wenn wir die Einladung schon oft gehört haben, auch wenn wir sie grundsätzlich schon angenommen haben. Denn es tut uns gut, wenn wir uns das immer wieder klar machen: Wir können das Wasser des Lebens nicht auf Flaschen ziehen. Aber wir können uns darauf verlassen, dass seine Quelle niemals aufhören wird zu sprudeln – in diesem Leben und darüber hinaus. Amen.
Ihr Pastor Martin Klein