Predigt Wenschtkirche, Sonntag, 12.09.2021

GOTTESDIENST FÜR DEN FÜNFZEHNTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: Lk 17,5-6

Und die Apostel sprachen zu dem Herrn: „Stärke uns den Glauben!“ Der Herr aber sprach: „Wenn ihr Glauben hättet so groß wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und verpflanze dich ins Meer!, und er würde euch gehorsam sein.“

Es gibt ein schönes Buch, inzwischen schon etwas älter, dessen Lektüre man frommen Christenmenschen immer noch wärmstens empfehlen kann – jedenfalls, wenn sie die Gabe haben, über sich selber lachen zu können: das „Tagebuch eines frommen Chaoten“ von Adrian Plass. Der so titulierte Tagebuchschreiber ist eigentlich gar kein Chaot, son­dern eine in durchaus liebenswerte Figur mit ver­trauten menschli­chen Schwächen. Eines Tages stößt er im christli­chen Buchladen auf ein „wirklich gutes Buch über den Glauben“. Es handelt davon, „wie Christen durch den Glauben Berge versetzen können, wenn sie wirk­lich im Einklang mit Gott sind“. Der „fromme Chaot“ findet das Buch „sehr inspirierend“. Und weil man ja erst mal klein anfangen muss, bevor man Berge versetzen kann, übt er heim­lich mit einer Büroklammer. Jedoch – wie gebieterisch er die Klam­mer auch an­schaut, wie laut er ihr Befehle gibt, wie viel „Vollmacht“ er über sie in Anspruch nimmt, sie bewegt sich keinen Millimeter vom Fleck. Immer wieder probiert er es und beginnt an seinem Glauben zu zwei­feln. Schließlich ertappt ihn seine Familie bei einem letzten verzwei­felten Versuch und fragt sich besorgt, warum ihr Ehemann und Vater auf eine Büroklammer einredet. Er erklärt ihnen mit dem Rest an Würde, den er aufbringen kann, dass er gerade ein „Glaubensexperi­ment“ durchführt. „Aber Liebling“, entgegnet ihm seine Frau, „Christ Sein heißt doch nicht, einem magischen Zirkel anzu­gehören. Warum sollte Gott wollen, dass du durch den Glauben eine Büroklammer versetzt?“

Gute Frage. Wörtlich genommen trifft sie allerdings auch auf Berge zu – oder wie hier bei Lukas auf Maulbeerbäume. Doch Jesus wört­lich zu nehmen, in der Gefahr stehen wir wohl eher nicht. Im über­trage­nen Sinn allerdings, da trauen wir einem starken Glauben ei­niges zu. „Glaube versetzt Berge“ – so haben wir das Jesus-Wort zum Sprich­wort gemacht. „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt“ – das ist bei Konfis ein beliebter Konfirmationsspruch. Und wer mit seinem Glauben viel bewegen kann oder um des Glaubens willen vieles auf sich nimmt, der hat unsere Bewunderung sicher. Davon zeugte hier in Geisweid mal ein Luther-Haus und immer noch eine Albert-Schweitzer-Schule, und meine alte Schule in Neunkir­chen heißt inzwischen Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium. Die Bei­spiele ließen sich noch beliebig vermehren.

Alle diese Namensgeber sind dafür be­kannt, dass sie ihre christliche Überzeugung mit aller Konsequenz in die Tat umgesetzt zu haben, dass sie bereit waren, für ihren Glauben auch Nachteile in Kauf zu nehmen, bis hin zum Ver­lust des eigenen Lebens. Und wenn wir sie bewundern und verehren, dann gehört dazu auch das Eingeständnis: Solch einen Glauben habe ich nicht! Ich könnte das nicht, allein vor Kaiser und Fürsten treten und sagen: „Hier stehe ich und kann nicht anders!“ – wie Luther in Worms. Ich brächte es nicht über mich, Heimat und Besitz aufzugeben und auf eine glänzende wissen­schaft­liche Karriere zu verzichten, um ir­gendwo in Afrika ein Kran­kenhaus aufzumachen – wie Albert Schweitzer in Lambarene. Ich würde den Mut nicht aufbringen, aus christlicher Überzeugung Wi­derstand zu leisten gegen Dik­tatur und Gewaltherrschaft – wie Dietrich Bonhoef­fer oder Sophie Scholl. Wohl aber würde ich das alles gern kön­nen, wenn’s drauf ankommt. Und deshalb ist es wohl unser aller Wunsch, den die Apostel Jesus vortragen: „Stärke unseren Glauben! Verleih uns solchen Glauben, der wirklich etwas bewegt in dieser Welt und der jedem Druck standhält!“

Ich wiederhole noch mal Jesu Erwiderung auf diese Bitte: „Wenn ihr Glauben hättet so groß wie ein Senfkorn, dann würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiß dich aus und verpflanze dich ins Meer!, und er würde euch gehorsam sein.“ Ist das überhaupt eine Antwort? Und wenn ja, was will Jesus damit eigentlich sagen?

Das win­zige Senf­korn war damals sprichwörtlich für die kleinst­mögliche Menge – so viel ist klar. Also besagen Jesu Worte, positiv formuliert: Schon das kleinste bisschen Glauben reicht aus, um damit schlicht­weg alles zu bewegen. Aber Jesus formuliert es ja anders: „Wenn ihr Glauben hättet so groß wie ein Senfkorn …“ So übersetzt es Luther, und so wird es auch meistens verstanden. Das wäre dann aber eine kom­plette Abfuhr: „Ihr wollt, dass ich euren Glauben stärke? Völlig fal­sche Frage! Denn wenn ihr auch nur die winzigste Kleinig­keit an Glauben hättet, dann hätte er gar keine Stärkung nötig. Da ihr aber keinen habt, gibt’s da auch nichts zu stärken!“ Also: Glaube versetzt entweder Berge oder er ist gar nicht da. Das wären dann allerdings finstere Aussichten für uns Otto-Normalchristen hier in der Wenschtkirche und anderswo.

Aber zum Glück muss man den Satz wohl anders lesen. Denn wört­lich steht da: „Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, dann hättet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen können: Entwurzele dich und pflanz dich ins Meer, und er hätte euch gehorcht.“ So klingt das schon anders. Denn so ist das mit dem Maulbeerbaum zwar ein irre­ales Bei­spiel – ist ja auch sinnlos, einen Baum ins Meer zu pflanzen, genauso wie die Nummer mit der Büroklammer –, aber der Senf­korn-Glaube ist eine reale Möglichkeit. So einen Glau­ben kann jeder haben, sagt Jesus, und mehr Glauben braucht keiner, denn die­sem Glauben sind alle Dinge möglich.

Die Frage ist nur: Wie komme ich zu diesem Glauben? Kann ich ihn mir einfach vornehmen? Muss ich mich für Jesus Christus entschei­den, um zum Glauben zu kommen? Ist der Glaube ein Ge­fühl, das mal da und mal weg ist, das man aber auch durch bestimmte Reize hervorrufen kann? Muss ich alle Zweifel verbannen? Muss ich ein religiöser Typ sein, um glau­ben zu können? Braucht man dazu ein bestimmtes Gen, das die eine hat und der andere nicht? Nein, das alles kratzt höchstens ein bisschen an der Außenseite. Es trifft nicht das, was christlicher Glaube wirklich ist. Für mich ist die­ser Glaube meine Antwort dar­auf, dass Gott mich bei der Hand nimmt, mich beim Namen ruft und mir zusagt: Du gehörst zu mir, weil ich dich lieb habe. Glaube ist, wenn mir aufgeht, dass Gott da ist und mir seine Liebe schenkt, und mein Ja dazu ist dann eine Selbst­verständlichkeit. So wie bei einem Kind: Drück ihm ein Päckchen in die Hand, und es kommt gar nicht auf die Idee, dieses Päckchen nicht anzunehmen und auszupacken. Also: Ich sage Ja zu Gott, weil er Ja zu mir sagt. Das ist das Senfkorn. Alles andere kann und wird daraus wachsen.

Mehr als dieses Senfkorn hat übrigens keiner, auch all die großen Gestalten nicht, nach denen wir unsere Häuser benennen. Im Gegen­teil: Je intensiver sie ihren Glau­ben lebten, desto mehr wurde ihnen seine Winzigkeit bewusst, desto stärker waren sie von Zweifeln und Anfechtungen geplagt, desto mehr zerrann ihnen alle Gewissheit zwischen den Fingern. Für Mar­tin Luther blieb als letzter Nothaken oft nur die Berufung auf seine Taufe: Ich bin getauft, also ge­höre ich zu Gott, und nichts reißt mich aus seiner Hand. „Dein bin ich, o Gott!“ – mit diesen Worten schrieb auch Dietrich Bonhoeffer gegen die Ängste und die innere Leere im Te­geler Gefängnis an.

Noch deutlicher wird es vielleicht an einem anderen Beispiel, wie­der einem Tagebuch, aber diesmal einem echten. Vor einigen Jahren wurden Auszüge aus den Tagebüchern von Mutter Teresa veröffent­licht – Sie wissen schon: der „Engel der Armen“ von Kalkutta, Frie­dens­nobelpreisträgerin 1979, hoch verehrt von Gläubigen und Un­gläubi­gen. Herausgeber der Tagebücher war ihr Anwalt im Verfah­ren der Heiligsprechung. Trotz­dem sind diese Auf­zeichnungen das genaue Gegenteil dessen, was man landläufig von einer Heiligen erwartet. Sie zeigen, dass Mutter Teresa in all den Jahren, in denen sie sich aufopferungsvoll um die Ärmsten der Armen küm­merte, unter einer tiefen Glaubenskrise litt. Kaum hatte sie ihr Werk in Kal­kutta begründet, ging ihr das Gefühl der mystischen Ein­heit mit Christus verloren, das sie angetrieben hatte. Sie spürte keinen Glau­ben und keine Liebe mehr. Der Himmel schien ihr leer und bedeu­tungslos. „Wofür arbeite ich?“ fragte sie sich. „Wenn es keinen Gott gibt – kann es auch keine Seele geben. – Wenn es keine Seele gibt, dann, Jesus – bist auch Du nicht wahr.“ Nach einigen Jahren kehrte das alte Hochgefühl noch mal für kurze Zeit zurück, nur um dann für immer zu verschwinden. „Unser Herr meinte“, schrieb sie daraufhin, „es sei besser für mich, im Tunnel zu sein – so ist Er also wieder gegangen – und hat mich allein gelassen.“ Sie selbst fragt sich, ob sie nicht zur Lügnerin wird und der Welt etwas vor­spielt, wenn sie mit ihrer Arbeit weitermacht. Aber Gott bleibt für sie Wirklichkeit, auch wenn sie ihn als abwesend erlebt. Christus bleibt ihr Auftraggeber, obwohl sie sich von ihm verlassen fühlt. Das ist ihr Senfkorn, ihr Strohhalm, an dem sie sich festhält und der sie nicht aufgeben lässt bis zu ihrem Tod mit 87 Jahren. Und wer wollte be­zweifeln, dass dieses Senfkorn unheimlich viel bewegt hat? Inzwischen ist die Hei­ligsprechung erfolgt, aber das ist eine An­gelegenheit der katholi­schen Kirche. Aus evangeli­scher Sicht kann man nur sagen: Mutter Teresa ist heilig, weil sie zu Gott gehört – so wie alle, denen das Senfkorn des Glaubens zuteilwird. Die Zweifel, das Gefühl, von Gott verlassen zu sein, die können daran nichts än­dern – so wenig wie bei Martin Luther oder Dietrich Bon­hoeffer, so wenig wie bei uns klei­nen Glaubenslichtern hier und heute. Schließ­lich starb auch Jesus mit den Worten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – und ließ doch mit seinem Tod den Berg unserer Schuld und Gott­verlassenheit im Meer versin­ken! Sollte er da mit unserem klei­nen Glauben nicht große Dinge tun können? Amen.

Ihr Pastor Martin Klein