Predigt Wenschtkirche, Donnerstag, 24.12.2015

CHRISTVESPER AM HEILIGEN ABEND

Text: Tit 2,11-14

Die Wenschtkirche hat ja sonst einen eher nüchternern Charme, aber heute ist es doch richtig schön hier, oder? Die Bänke sind gut besetzt, die Beleuchtung sorgt für Atmosphäre, der Weihnachtsbaum ist diesmal besonders wohlproportioniert und erstrahlt in voller Pracht, Orgel- und Posaunenklang sorgen für festliche Stimmung. Bis kurz vor knapp ging es hektisch zu, wie alle Jahre wieder; aber nun ist sie da, die stille, heilige Nacht, und für den Moment ist alles gut – schöne heile Weihnachtswelt.

Da mag mancher im Stillen seufzen: Ach, wenn es doch immer so wäre! Wenn es doch allezeit so ruhig und friedlich bliebe! Wenn doch die Menschen auf Dauer so wären, wie sie sich heute Abend zumindest geben: so besonnen, so rechtschaffen, so fromm! Wenn sie sich doch immer so offen und freundlich begegnen würden wie beim Austausch guter Weihnachtswünsche! Wenn sie doch stets so viel Herz für die Armen und Schwachen zeigen würden wie für „Brot für die Welt“ bei der Heiligabendkollekte!

Aber nein, der Augenblick verweilt nicht, und sei er noch so schön. In Afghanistan ist immer noch nichts gut, in Syrien und im Irak erst recht nicht. 60 Millionen Menschen sind auf der Flucht, eine Million davon sind in diesem Jahr allein hierher nach Deutschland gekom­men, und ein Ende ist nicht abzusehen. In Paris wurde zwar endlich ein Klimaabkommen verabschiedet, aber ob es eingehalten wird und Wirkung zeigt, steht noch in den Sternen – auch wegen unser aller Trägheit und Bequemlichkeit. Und ganz abgesehen vom großen Weltgeschehen: Spätestens nach Neujahr geht für uns alle der Alltag wieder los. Dann ist sich jeder wieder selbst der Nächste, dann wird wieder mit Ellbogeneinsatz um die besten Plätze gekämpft – in der Schule, an der Uni, im Beruf, dann wird wieder gemobbt, gerafft und getreten, was das Zeug hält.

Kann sich das jemals ändern? Kann unsere kaputte Welt wieder heil werden? Viele Menschen, wahrscheinlich auch viele von Ihnen, glauben nicht mehr daran. Sie denken an die zahlreichen Heilbringer, die schon an uns vorüber gezogen sind – von „Heil Caesar“ bis „Heil Hitler“, von „die Kirche kann nicht irren“ bis „die Partei hat immer recht“ – und sie wenden sich ab mit Grausen. Denn die meisten die­ser Heilbringer haben das Gegenteil von dem bewirkt, was sie ver­sprochen haben. Aber ohne den so genannten „starken Mann“, dem alle bedingungslos folgen, scheint es eben auch nicht zu funktionie­ren – man betrachte dazu nur den erbärmlichen Zustand der Europäi­schen Union.

Und die Weihnachtsbotschaft, wegen der wir heute hier sind? Die redet doch auch vom Heil: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“ So sangen die En­gel. Und wir haben es ihnen nachgesungen: „Sehet das Kindlein, uns zum Heil geboren“. Noch ein Heilbringer also. Ein kleines Kind diesmal. Was ist an dem anders? Gibt es Gründe, wa­rum wir ihm mehr vertrauen sollten als all den Heilanden dieser Welt, den selbst­ernannten und den hochgejubelten? Und wie sieht das Heil aus, das er uns zu bringen verspricht?

Der für heute vorgeschlagene Predigttext gibt uns Antwort auf diese Fragen. Er ist seit alter Zeit die Epistellesung für das Weihnachtsfest. Früher wurde häufig darüber gepredigt, aber heute bekommt man ihn selten zu hören. Vielen Predigern ist er nicht anschaulich genug. Zu begriffslastig und formelhaft. Zu wenig weihnachtlich. Ich hoffe Ih­nen zeigen zu können, das ihm damit Unrecht geschieht, und lese Ihnen deshalb die Verse 11 bis 14 aus dem zweiten Kapitel des Titusbrie­fes:

Denn erschienen ist die Gnade Gottes, Heil bringend für alle Men­schen. Sie erzieht uns, damit wir der Gottlosigkeit und den weltlichen Begierden absagen und besonnen, gerecht und fromm leben in der jetzigen Weltzeit. Wir warten dabei auf unsere selige Hoff­nung, auf die Erscheinung des großen Gottes und unseres Heilands Jesus Christus. Er hat sich für uns dahingegeben, um uns zu erlö­sen von aller Gesetzlosigkeit und uns zu reinigen zu seinem eigenen Volk, das mit Eifer gute Werke tut.

Es ist also die Gnade Gottes, es ist Gott selbst, der das Heil bringt. Das ist das erste, was wir aus diesem Text festhalten sollten. Man sollte eigentlich meinen, dass das selbstverständlich ist. Denn wer etwas heil machen will, der darf nicht selbst nur ein Bestandteil des­sen sein, was kaputt ist. Auch der intelligenteste Computer kann ei­nen Hardware-Fehler bei sich vielleicht entdecken, aber nicht behe­ben. Und auch die beste menschliche Gesellschaft oder der weiseste aller irdischen Herrscher kann nicht gegen Grundübel an, die offen­bar in der menschlichen Natur liegen. Anders ausgedrückt: Diese Welt ist nur zu retten, wenn sie einen Schöpfer hat. Und sie wird nur gerettet, wenn dieser Schöpfer selber ins Geschehen eingreift, wenn er selber in Ordnung bringt, was da von Anfang an schief gelaufen ist. Biblisch formuliert: Gott selber muss die Sünde überwinden, die Trennung aufheben, die sich zwischen ihn und uns geschoben hat, weil wir so leben, als ob es ihn nicht gibt.

Wie macht er das? Das ist die zweite Frage, auf die der Text Antwort gibt. „Die Gnade Gottes ist erschienen“, sagt er. Und da wird es nun richtig weihnachtlich. Denn erschienen ist sie in Gestalt eines kleinen Säuglings, der in Windeln in einem Futtertrog liegt. Erschie­nen ist sie dadurch, dass Gott selber Mensch wurde, dadurch, dass Gott in Jesus all das durchlebt und durchlitten hat, was jeder erlebt und viele erleiden: Er ist gewickelt und gefüttert worden, er hat Laufen und Sprechen gelernt, Unterricht bekommen und einen Beruf ergriffen. Er hat Freunde gefunden und fröhliche Feste gefeiert, aber er ist zu­zeiten auch hungrig, traurig und verlassen gewesen. Schon als Säug­ling hat er mit seinen Eltern erfahren, wie es ist, kein Zuhause zu haben und vor Gewalt und Verfolgung fliehen zu müssen. Und schließlich musste er leiden und sterben – einen frühen und schlim­men Tod, aber nicht früher und schlimmer als viele andere Menschen auch.

Mit dieser Botschaft liegt die Bibel quer zu allen Vorstellungen, die man sich landläufig vom Erscheinen einer Gottheit macht. Wenn ein römischer Kaiser sich in all seiner Pracht dem Volk zeigte, dann ju­belten die Leute: „Unser Herr und Gott ist uns erschienen!“ Aber sie hätten doch nicht diesem Kind einfacher Leute zugejubelt, das ir­gendwo im hintersten Winkel zwischen Heu und Schafsmist zur Welt kam! Und sie hätten es erst recht nicht bei der Elendsgestalt getan, die wie ein Verbrecher am Kreuz hing! Aber genau so wollte Gott es haben. So und nicht anders ist die Gnade Gottes allen Menschen er­schienen. „Er hat sich für uns dahingegeben“, sagt der Titusbrief. Er hat auf all seine göttliche Macht verzichtet und sich ohnmächtig in die Hände der Menschen begeben. Und genau dadurch bringt er uns das Heil.

Noch ist das eine wunderliche Wahrheit. Noch ist sie nur dem zu­gänglich, der sich auf sie einlässt, der ihr Glauben schenkt. Und wenn das geschieht, ist es Gottes Gnade und nicht eine Sache menschlicher Entscheidung. Aber eines Tages wird diese Wahrheit aller Welt offenbar werden. Es wird noch eine „Erscheinung des gro­ßen Gottes und unseres Heilands Jesus Christus“ geben, sagt der Titusbrief. An der wird niemand mehr zweifeln können, und niemand wird darüber die Nase rümpfen. Aber sie wird trotzdem nur für alle ans Licht bringen, was bei der ersten Erscheinung längst geschehen ist – zu Weihnachten in Bethlehem und zu Ostern in Jerusalem.

Und bis dahin? Das sagt uns der Text als drittes und letztes: Die Gnade Gottes erscheint nicht nur allen Menschen, sondern sie „er­zieht“ uns auch, sie hat – modern formuliert – einen Bildungsauftrag. Davon ist ja viel die Rede heutzutage. Überall heißt es: „Bildung ist ja so was von wichtig – da müssen wir dringend mehr für tun!“ Aber was Bildung eigentlich ist, das geht in der Diskussion um Schul- und Studienreformen meistens unter. Den alten Griechen jedenfalls ging es dabei um mehr als um die Vermittling von Wis­sen und Fertigkei­ten. Ihre Erziehung hatte höhere Ziele: Besonnenheit, Gerechtig­keit, Frömmigkeit und Tapferkeit, das waren ihre Kardi­naltugenden. Und genau diesen Zielen gilt nach dem Titusbrief auch der Bildungs­auf­trag der Gnade Gottes: der Gottlosigkeit und den weltlichen Be­gier­den absagen und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben. Nur die Tapferkeit fehlt hier – die klang den ersten Christen zu sehr nach militärischem Heldentum.

Und sind das nicht genau die Dinge, die wir auch heute dringend brauchen? Wie sollen wir denn jemals lernen, nicht auf Kosten der Armen, der Um­welt und der künftigen Generationen zu leben, wenn nicht durch Be­sonnenheit – durch vorausschauendes Handeln, zu dem auch Mäßi­gung und Verzicht gehören? Wie sollen je­mals alle Menschen dieser Erde das kriegen, was sie zum Leben brauchen, wie sollen sie in Frieden miteinander auskommen, wenn nicht durch Ge­rechtigkeit – durch die gleichmäßige Verteilung von Gütern und Chancen? Und woher soll die Motivation zu einem be­sonnenen und gerechten Leben kommen, wenn nicht aus einer recht verstandenen Frömmigkeit – aus dem Bewusstsein, einer höheren Macht verant­wortlich zu sein, der wir unser Leben verdanken? Wohl gemerkt: Frömmigkeit in diesem Sinne ist nicht dasselbe wie christ­licher Glaube. Es gibt sie auch in anderen Religionen und Weltan­schauun­gen. Aber wenn die Gnade Gottes uns zu dieser Frömmigkeit erzieht, dann gehört sie zum christlichen Glauben dazu und steht uns Chris­ten damit wohl an. Und sie bietet auch eine Basis, auf der wir ge­meinsam mit Andersgläubigen an einer besseren Zukunft für diese Welt arbeiten können.

Wie es gute Erzieher tun, ist Gott uns bei alledem mit gutem Beispiel vorangegangen. Er war zum größtmöglichen Verzicht bereit, um das kleine, machtlose Jesuskind zu werden. Es war Ausdruck seiner ganz besonderen Gerechtigkeit, dass er einer von uns wurde, damit wir ihm recht sein können. Und der Mensch Jesus hat so selbstverständ­lich im Ein­klang mit Gott gelebt, dass er damit alle Grenzen von Herkommen und Religion überwand. Die heidnischen Sterndeuter, die von weit­her kommen, um ihm zu huldigen, sind die ersten, die das deutlich machen.

Wenn ich mir also etwas wünschen dürfte zu diesem Weihnachtsfest, dann wäre es knapp gesagt folgendes: Gott möge mit seiner Gnade dafür sorgen, dass wir es machen wie er und Mensch werden. Er möge dafür sorgen, dass wir uns auf die wunderliche Wahrheit der Weihnacht einlassen. Und dann möge er unsere Erziehung und Bil­dung in die Hand nehmen, damit wir besonnene, gerechte und gottes­fürchtige Menschen werden. Nicht nur für ein paar Stunden am Hei­ligen Abend, wo es uns die äußeren Umstände leicht machen. Son­dern gerade da, wo es schwierig wird: Wo man uns ausreden will, dass Gott diese Welt geschaffen und ihr einen Sinn gegeben hat. Wo es ungerecht zugeht, oft auch noch unter Berufung auf höhere Zwänge (die Haushaltslage, die Unternehmensbilanz, die Globalisie­rung usw.). Wo wir unbesonnen und kurzsichtig nur auf un­seren ei­genen Vorteil sehen, ohne an andere und an später zu denken. Da überall muss es sich bewähren, ob Weihnachten wieder spurlos an uns vorübergeht oder diesmal wirklich bei uns angkom­mt.

Und wenn es gelingt, dann könnten wir uns beim nächsten Weih­nachtsfest nicht nur an die alte Geschichte erinnern, wie Gott Mensch geworden ist. Sondern dann könnten wir uns gegenseitig neue Ge­schichten erzählen – vielleicht im Familienkreis vor oder nach der Bescherung: Geschichten davon, wie und wo wir im vergangenen Jahr Menschen geworden sind – Menschen, wie Gott sie mit seiner Menschwerdung gemeint hat. Das wäre auf jeden Fall anregender als Fernsehen, gesünder als Gänsebraten und könnte ein richtig guter neuer Weihnachtsbrauch werden. Denken Sie doch mal drüber nach! Amen.

Pfr. Dr. Martin Klein