Predigt Wenschtkirche, 1. Januar 2024

Gottesdienst für Silvester

Text: Pred 3,1-9.15

Der Predigttext für heute stammt aus dem Buch Prediger, Qohelet auf Hebräisch. Man hat es dem König Salomo zugeschrieben, aber es ist erst viel später entstanden. In der Vergangenheit wurde nur sehr selten über dieses biblische Buch gepredigt, und das kommt nicht von ungefähr. Denn der Prediger hat es seinen jüdischen und christlichen Auslegern immer schwer gemacht, ihn als „heilige Schrift“ zu betrachten. Als der Komponist Johannes Brahms kurz vor seinem Tod Texte aus dem Prediger vertont hatte, schrieb er über diese „Vier ernsten Gesänge“ an einen Freund: „Sie sind nicht ge­rade Spaß – im Gegenteil, sie sind verflucht ernst­haft und dabei so gottlos, dass die Polizei sie verbieten könnte – wenn die Worte nicht alle in der Bibel ständen.“

Als „gottlos“ kann man den Prediger zwar eigentlich nicht bezeich­nen. Denn er zweifelt nicht daran, dass Gott existiert, dass er die Welt erschaffen hat und dass er sie auch gegenwärtig lenkt und re­giert. Aber ein Skeptiker, ein Zweifler ist er sehr wohl. Gott ist für ihn weit weg im Himmel, und wir sind auf Erden. Sein Handeln ist für uns Men­schen nicht zu durchschauen. Und so verliert auch unser Leben sei­nen Sinn und sein Ziel. „Eitel“ nennt es der Prediger, nich­tig und sinnlos: ein kraftloser Windhauch, den man nicht greifen kann und der vorüber gezogen ist, ehe man ihn recht wahrgenom­men hat. Es bleibt uns nichts Besseres, als das Leben zu genießen und uns an den guten Gaben zu erfreuen, die Gott uns immerhin zukommen lässt. Mehr haben wir nicht zu erwarten, ehe wir sterben müssen, und dann ist alles vorbei.

Hier wird also ein nüchternes, wenig erfreuliches Bild des menschli­chen Le­bens gezeichnet, und es ist bis zum heutigen Tag be­drü­ckend aktuell. Menschen mit einer pessimistischen Weltsicht, ob gläubig oder ungläubig, haben den Prediger deshalb immer ge­schätzt. Aber wo bleibt da der Glaube, die Liebe, die Hoffnung? Der Trost im Leben und im Sterben? Kein Wunder also, dass sich die jüdischen Schrift­gelehrten lange uneins waren, ob das Buch Prediger als heilige Schrift anzuerkennen sei. Kein Wunder, dass es im Neuen Testament nirgends zitiert wird – als fast einziges Buch der hebräi­schen Bibel.

Aber heute haben wir es nun doch mit einem Abschnitt aus dem Prediger zu tun, und so lese ich den Text in einer eige­nen Überset­zung:

Alles hat seine Zeit,
und jedes Vorhaben unter der Sonne hat seine Stunde.
Da ist Zeit zum Gebären und Zeit zum Sterben,
Zeit zum Pflanzen und Zeit zum Ausreißen,
Zeit zum Töten und Zeit zum Heilen,
Zeit zum Abreißen und Zeit zum Aufbauen,
Zeit zum Weinen und Zeit zum Lachen,
Zeit zum Klagen und Zeit zum Tanzen,
Zeit zum Umarmen und Zeit, sich zu lösen,
Zeit zum Suchen und Zeit zum Verlieren,
Zeit zum Bewahren und Zeit zum Wegwerfen,
Zeit zum Zerreißen und Zeit zum Nähen,
Zeit zum Schweigen und Zeit zum Reden,
Zeit zum Lieben und Zeit zum Hassen,
Zeit des Krieges und Zeit des Friedens.
Welchen Gewinn hat das Tun, mit dem man sich abmüht?
Was geschah, das ist schon längst wieder geschehen,
und was geschehen wird, das ist schon längst zuvor geschehen.
Und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.

„Alles hat seine Zeit“ – das ist für uns zum Sprichwort geworden. Wenn wir es benutzen, dann meinen wir es meistens als Trost. Wenn uns der Stress plagt, wenn wir uns abhetzen müssen, um alles zu schaf­fen, was dringend getan wer­den muss, wenn wir keine Zeit für die Dinge haben, die uns Freude machen und die wir eigentlich viel lie­ber tun wür­den, dann sagen wir uns: „Alles hat seine Zeit! Was wir jetzt zu tun haben, muss eben sein, aber irgendwann geht es auch wieder ruhiger zu. Dann können wir uns endlich den schö­nen Seiten des Lebens wid­men.“ Oder wenn es uns schlecht geht, wenn Krank­heit uns die Kraft raubt und wir tatenlos im Bett liegen müssen, wäh­rend draußen das Leben ohne uns weitergeht, dann sagen wir uns: „Alles hat seine Zeit! Krankheit trifft jeden, mal schwe­rer mal leichter, aber irgendwann wird’s auch wieder bes­ser, so dass wir gesund an unsere Arbeit gehen können.“ Ja selbst über den Tod eines lieben Menschen mag uns das Sprichwort noch hin­weghelfen: „Al­les hat seine Zeit“, sagen wir dann. Auch ein Men­schenleben hat seine Zeit, und die ist nun mal begrenzt. So hat es Gott, der Schöp­fer, geordnet und so ist es gut: „Der Herr hat’s gege­ben, der Herr hat’s ge­nommen, der Name des Herrn sei ge­lobt“.

In diesem Sinne wird der Text aus Prediger 3 oft verstanden: „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde“ – das, so meinen wir, ist dasselbe wie unser Sprich­wort. Und die Dinge, die der Prediger dann auf­zählt, scheinen zu­nächst diese Ansicht zu bestätigen: „Gebären hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit“ – das ist unser Menschenleben mit seinen Grenzen; „pflanzen hat seine Zeit, ausreißen hat seine Zeit“ – dahinter steht der Lauf der Na­tur, wo es Wachsen und Gedeihen, aber auch Verdor­ren und Absterben gibt. Und so könnte man fortfahren: mit Lachen und Weinen, mit Ab­rei­ßen und Aufbauen, mit Schweigen und Reden – das Leben ist eine weite, sanfte Hügellandschaft.

Aber da werden auch Dinge genannt, die gar nicht in dieses schöne Bild passen: Nicht nur das Heilen hat seine Zeit, sagt der Prediger, sondern auch das Töten; nicht nur die Liebe, sondern auch der Hass; nicht nur der Friede, sondern auch der Krieg. Wir merken, dass hier nicht in heiterer Gelassenheit über den Lauf der Dinge nachgedacht wird, sondern mit Enttäuschung und Resignation. Hier spricht einer, der am unabänder­lichen Werden und Vergehen leidet, der sich einge­sperrt fühlt ins Gefängnis der Zeit. Er erfährt nicht nur, dass Gutes und Böses seine Zeit hat, sondern vor allem, dass nichts Gutes von Dauer ist.

Wenn wir uns umschauen in dieser Welt, werden wir rasch den Ein­druck gewinnen, dass er recht hat: Kaum war das mit Corona einigerma­ßen vorbei, kam der Ukraine-Krieg und mit ihm die nächste Wirtschaftskrise. Kaum hat ein Land wie Afghanistan mal ein bisschen Freiheit geschnuppert, sind die Taliban schon wieder an der Macht und machen alles wieder zunichte. Und jeder kleine Fort­schritt beim Klima­schutz wird sofort von neuen alarmierenden Zah­len überholt. Auch im persönlichen Leben sieht es nicht anders aus. Wer garantiert mir denn, dass mein Wohlstand, mein Erfolg, mein Ehe- und Fami­li­en­glück, meine Gesundheit von Dauer sein werden? Wer kann denn garantieren, dass ich beim nächsten Jahreswechsel noch da bin, ja, dass ich überhaupt nur den nächsten Morgen noch erleben werde? „Man mühe sich ab, wie man will“, sagt der Predi­ger, „so hat man keinen Gewinn davon.“

Auch wir Christen machen täglich und ständig solche Erfahrungen. Darin ist uns der Prediger also sehr nahe. Aber sein pessimistisches Fazit kann für uns trotzdem nicht das letzte Wort sein. Wir können uns dazu auf ein anderes Bibelwort berufen, dass die Worte von Prediger 3 ergänzt und in ein anderes Licht rückt. Es ist der Halbvers aus Psalm 31, der zu Silvester Wochen­spruch ist: „Meine Zeit steht in deinen Händen“. Dieser Satz ist kein Wort des Zweifels und der Enttäuschung, sondern ein Wort des Ver­trauens: Meine Zeit steht letztlich nicht in meiner Macht, aber es gibt einen Herrn der Zeit, und bei dem bin ich geborgen. Wie kommt der Beter des Psalms zu dieser Aussage? Und wie kommen Menschen dazu, diese Worte nach­­zu­be­ten?

Ein Skeptiker würde sagen: Sie haben halt andere Erfah­rungen ge­macht, sie gehö­ren zu denen, die Glück gehabt haben, die immer heil davongekom­men sind, bei denen alles gut gegangen ist. Das ist ja auch nicht ganz falsch. Na­türlich singen sich Danklie­der leichter, wenn man in sei­nem Leben viele Gründe zum Danken findet. Aber das kann wohl nicht al­les sein. Denn der Beter des 31. Psalms lebt keineswegs auf einer Insel der Seligen, er schaut auch nicht dankbar auf vergangene Not zurück. Im Gegenteil: ihm steht das Wasser bis zum Hals. „Herr, sei mir gnädig“, so betet er, „denn mir ist angst! Mein Auge ist trübe ge­worden vor Gram, matt meine Seele und mein Leib. Denn mein Le­ben ist hingeschwunden in Kummer und meine Jahre in Seufzen. Vor allen meinen Bedrängern bin ich ein Spott ge­worden, eine Last mei­nen Nachbarn und ein Schrecken mei­nen Bekann­ten. Die mich sehen auf der Gasse, fliehen vor mir. Ich bin ver­gessen in ihrem Herzen wie ein Toter; ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß“. Ein Klagegebet. Aber dann keimt mit­ten in der Klage Zuver­sicht auf: „Ich aber, Herr, hoffe auf dich und spre­che: Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen.“ Für den, der hier spricht, ver­hängt Gott nicht ein Schicksal, dem nie­mand entrinnen und das kei­ner entwirren kann. Für ihn ist Gott nicht ein fernes Etwas, son­dern ein Du, ein leben­diges Gegenüber. Ihm kann man seine Not klagen, und zu ihm kann man um Hilfe schreien.

Dieses Gottvertrauen gegen allen Augenschein ist nicht das Er­gebnis menschlichen Nachden­kens, keine logische Schlussfolgerung aus irdischen Gegebenheiten, nicht die Quintessenz aus den Er­fahrun­gen des Lebens. Wenn wir so verfahren wollten, würden wir eher beim Fazit des Predigers landen: alles ist eitel und sinnlos, und jeder selbst gebastelte Lebenssinn erweist sich letztlich als Selbstbetrug. Und weil der Prediger diesen Selbstbetrug schonungslos auf­deckt, steht er zu Recht in der Bibel. Aber er steht dort zum Glück nicht allein, sondern neben sol­chen Sätzen wie dem des Psalmisten. Das Vertrauen, das sich darin ausdrückt, ist nicht machbar, es ist ein Geschenk. Und das kommt bei uns an, wenn wir nicht nur über Gott reden, sondern zu Gott rufen und Antwort von ihm erwar­ten. Wir haben die Ver­heißung, dass Gott niemanden, der sich an ihn wen­det, ohne Antwort lassen wird – selbst wenn er mit Ankla­gen und Vorwürfen kommt. Diese Antwort erhalten wir nicht immer gleich und auch nicht immer voll­ständig. Den Sinn mancher Er­lebnisse erken­nen wir erst viel spä­ter, bei manchen bleibt er uns immer ein Rätsel. Aber wir dürfen damit rechnen, genug von Gottes Spuren in unserem Leben entdecken. Sie bestätigen uns, dass unser Vertrauen auf Gott zu keiner Zeit vergebens war und es auch in Zukunft nicht sein wird. Auch das neue Jahr 2024 ist ein „Jahr des Herrn“. Es ist Zeit, die in Gottes Händen steht. Und im Vertrauen darauf können wir es angehen, was es uns auch bringen mag. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein