Predigt Wenscht- und Talkirche, Sonntag, 10. August 2014

Gottesdienst für den achten Sonntag nach Trinitatis

Text: Röm 6,15-23

Wie nun? Sollen wir sündigen, weil wir nicht unter dem Gesetz, son­dern unter der Gnade sind? Das sei ferne! Wisst ihr nicht: wem ihr euch zu Knechten macht, um ihm zu gehorchen, dessen Knechte seid ihr und müsst ihm gehorsam sein, es sei der Sünde zum Tode oder dem Gehorsam zur Gerechtigkeit? Gott sei aber gedankt, dass ihr Knechte der Sünde gewesen seid, aber nun von Herzen gehorsam geworden der Gestalt der Lehre, der ihr ergeben seid. Denn indem ihr nun frei geworden seid von der Sünde, seid ihr Knechte geworden der Gerechtigkeit. Ich muss menschlich davon reden um der Schwachheit eures Fleisches willen: Wie ihr eure Glieder hingege­ben hattet an den Dienst der Unreinheit und Ungerechtigkeit zu im­mer neuer Ungerechtigkeit, so gebt nun eure Glieder hin an den Dienst der Gerechtigkeit, dass sie heilig werden. Denn als ihr Knechte der Sünde wart, da wart ihr frei von der Gerechtigkeit. Was hattet ihr nun damals für Frucht? Solche, deren ihr euch jetzt schämt; denn das Ende derselben ist der Tod. Nun aber, da ihr von der Sünde frei und Gottes Knechte geworden seid, habt ihr darin eure Frucht, dass ihr heilig werdet; das Ende aber ist das ewige Le­ben. Denn der Sünde Sold ist der Tod; die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserm Herrn.

Vielleicht kennen Sie den alten Witz: Da geht ein eher wortkarger Mann eines Sonntags ganz gegen seine Gewohnheit zum Gottes­dienst. Als er nach Hause kommt, fragt ihn seine Frau: „Na, wie war’s denn in der Kirche?“ Ihr Gatte zuckt nur mit den Schultern und brummt: „Wie immer.“ Mit dieser Auskunft ist sein Ehe­weib aller­dings nicht zufrieden. „Jetzt erzähl doch mal“, bohrt sie, „worüber hat der Pastor denn gepredigt?“ – „Über die Sünde“, lautet die er­schöpfende Auskunft. „Ja, und?“ fragt die Frau weiter. „Was hat er denn über die Sünde gesagt?“ Und wieder ist die Antwort knapp und präzise: „Er war dagegen.“

Ehe Sie jetzt lachen: Wie wäre es denn, wenn ich Sie fragen würde, was der Apostel Paulus über die Sünde sagt – in dem Predigt­text, den ich eben gelesen habe? Auch er ist dagegen, soviel steht fest. Aber was heißt das? Und was hat es für Konsequenzen?

Ich glaube, mit dem Begriff „Sünde“ hat die Kirche heute ein großes Verständigungsproblem. Und das nicht nur, wenn sie alte Bibeltexte zitiert, die schwer zu verstehen sind, sondern auch, wenn sie ver­sucht, Menschen von heute zu erklären, was damit gemeint ist. Wie man’s auch anpackt, ­kommt meistens doch nur an: „Sünde nennt die Kirche das, wo sie dagegen ist.“ Und wogegen ist die Kirche? Nach landläufigem Vor­urteil meistens gegen Dinge, die heutzutage einfach zum Leben gehören, die der Kirche aber aus irgendwelchen Gründen nicht in den Kram passen. Wer zum Beispiel die Pille benutzt oder unverheiratet Kinder hat, kriegt es immer noch mit der katholischen Sexualmoral zu tun. Und wer stolz auf die eigene Leistung ist und dafür auch noch gut be­zahlt wird, hat dafür bei den Evangelen einen schweren Stand. Beides können Normalsterbliche kaum noch nach­vollziehen.

Mit dem, was Paulus unter Sünde versteht, hat das alles wenig zu tun. Aber wie lässt sich denn dann für heutige Zeitgenossen ver­ständlich ausdrücken, was die Sünde wirklich ist? Ich will es zumin­dest versuchen.

Ich fange mal mit der Bedeutung des Wortes an. Das griechische Wort für „sündigen“ heißt ursprünglich „das Ziel verfehlen“. Und das deutsche Wort „Sünde“ hängt mit „absondern, trennen“ zusam­men. Und damit bin ich schon bei dem, was Paulus mit Sünde meint. Sünde heißt, dass wir Menschen das Ziel verfehlen, für das Gott uns geschaffen hat. Durch Gottes Wort wurde die Welt erschaffen, sagt die Bibel. Und wir Menschen sind das Geschöpf, das Gott auf sein Wort Antwort geben sollte. Eine zustimmende Antwort. Ein Ja zu Gott und seiner Schöpfung. Aber diese Antwort hat Gott nie von uns bekommen. Wir haben gelebt und tun es noch, als ob es ihn nicht gäbe. Und statt unseres Schöpfers haben wir uns selber Götter ge­macht. Einst hießen sie Zeus oder Isis oder Wotan. Heute heißen sie „Geld“ oder „Einfluss“ oder einfach „Ich“. Und solange wir diesen Göttern verfallen sind, solange trennt uns ein tiefer, unüberwindli­cher Graben vom wahren Gott und von unserer eigentlichen Bestim­mung. Genau das ist die Sünde.

Und schlimmer noch: Für Paulus ist die Sünde nicht einfach nur ein Zustand. Sie ist eine unüberwindliche Macht. Ich bin ihr ausgeliefert, sie macht mich zu ihrem Knecht, ihrem Sklaven. Ich kann nicht an­ders, als ihr zu gehorchen. Was ich auch will und was ich auch tue, ich zementiere damit nur das gestörte Verhältnis zu Gott. Selbst mit meinen guten Taten ändere ich nichts daran. Im Gegenteil. Je mehr Gutes ich tue, desto eher bin ich der Meinung: „Ich bin doch gar kein so schlechter Mensch, also ist doch zwischen mir und Gott alles in Ordnung.“ Aber damit täusche ich mich auf fatale Weise darüber hinweg, wie es in Wahrheit zwischen Gott und mir steht.

Natürlich können Sie jetzt sagen: „Na, Paulus, da übertreibst du aber! So völlig ab von Gott sind wir doch gar nicht. Glauben denn nicht immer noch die meisten Leute irgendwie, dass es ihn gibt? Und steckt nicht in jedem Menschen zumindest ein guter Kern? Gibt es nicht doch Momente, wo wir von uns aus Gott ganz nahe kommen?“

Das kann man natürlich so sehen, und ich kann Ihnen auch nicht be­weisen, dass Paulus Recht hat, wenn er sagt, dass es von uns aus kei­nen Weg zu Gott und zum Guten gibt. Aber ein paar Argumente für seine Sicht der Dinge gibt es meiner Meinung nach schon. Oder wie kommt es, dass gerade die höchsten Ideale der Menschheit immer wieder in ihr Gegenteil verkehrt werden, wenn man sie in die Tat umsetzen will? Die Kreuzritter wollten treue Nachfolger Jesu Christi sein – was dabei herauskam, war brutale Gewalt gegen Andersgläu­bige. Die christlichen Missionare der Neu­zeit wollten das Evange­lium in alle Welt tragen – was dabei heraus­kam, war Imperialismus und Verachtung fremder Kulturen. Die fran­zösischen Revolutionäre wollten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – was dabei herauskam, war die Guillotine. Die Kommunisten woll­ten die klassenlose Gesell­schaft – was dabei herauskam, war Man­gelwirtschaft und Überwa­chungsstaat. Die Nazis wollten den Über­menschen – was dabei her­auskam, war abgrundtiefe Unmenschlich­keit. Die Prediger des freien Marktes wollen, dass jeder sei­nes Glückes Schmied sein kann – was dabei herauskommt, ist schamloser Reichtum für wenige und bitteres Elend für viele. Die Demonstranten des „Arabischen Frühlings“ wollten mehr Demokratie – was bis jetzt dabei herauskommt, ist Gewalt, Zerstörung und neue Tyrannei. Oft heißt es dazu: „Die Idee war ja gut, aber die Ausführung war schlecht.“ Aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren: Je bes­ser und konsequenter eine gute Idee in die Tat umgesetzt wird, desto schlimmer ist das Resultat. Ich kann mir das nur so erklären, dass da mit uns Menschen etwas grundsätzlich nicht in Ordnung ist. Solange wir von Gott getrennt bleiben, kann aus unseren guten Vorsätzen einfach nichts werden, selbst wenn wir sie im Namen Gottes umzu­setzen versuchen.

Aber nun sagt ja Paulus den Christen in Rom und damit auch uns Christen in Geisweid und Umgebung: Das alles ist für euch Vergan­genheit! Ihr seid Sklaven der Sünde gewesen, aber jetzt seid ihr frei. Jetzt dient ihr nicht mehr der Sünde, sondern der Gerechtigkeit. Jetzt seid ihr nicht mehr dem Tod verfallen, sondern auf dem Weg zum ewigen Leben. Und das ist so, weil ihr das für euch angenommen habt, was Jesus Christus für euch getan hat: weil ihr glaubt, weil ihr getauft seid, weil ihr zur Gemeinde Jesu Christi gehört. Das Ziel, das ihr verfehlt habt, hat Gott in Christus für euch erreicht. Den Graben, der euch von ihm trennt, hat er für euch überwunden. Die Sünde hat keine Macht mehr über euch.

Ja, das steht da so. Aber es fällt uns schwer, das zu glauben. Warum hat sich denn trotz so vieler Christen auf der Welt seit 2000 Jahren so erschreckend wenig getan? Warum ist das alles, was ich eben aufge­zählt habe, trotzdem geschehen und geschieht noch – und das teils sogar unter christlichem Vorzeichen?

Die nächstliegende Antwort ist natürlich, dass Paulus sich etwas ein­gebildet hat, dass auch die christliche Hoffnung nur die Illusion einer besseren Welt ist. Das kann man so sehen. Aber damit blieben mir als Lebensmöglichkeiten nur noch der Zynismus – „bleibt mir weg mit all dem Elend, Hauptsache mir geht’s gut“ – oder die Resigna­tion – „es ist so: die Welt ist schlecht, und ich kann nichts dran än­dern“. Beides hätte zur Folge, dass wir unser Christsein an den Nagel hängen müssten. Wir bräuchten keine Gottesdienste mehr zu feiern, und wir müssten zusehen, wie wir irgendwie durchs Leben kommen.

So schnell möchte ich der Sünde und ihren Folgen aber doch das Feld nicht überlassen. Und deshalb gehe ich noch einmal den beiden Antwortmöglichkeiten nach, die Paulus selber anbietet.

Die eine Antwort ist die: Dass auch wir Christen an uns und unserer Welt so wenig ändern, liegt daran, dass wir unser Christsein so ver­stehen, wie man es Paulus zu Unrecht vorgeworfen hat: Gott ist uns sowieso gnädig, da können wir doch weiterhin fröhlich in den Tag hinein leben und machen, was wir wollen. Und wenn dabei etwas schief geht – was soll’s? Gott wird’s schon richten, Vergeben ist ja schließ­lich sein Geschäft. „Billige Gnade“ hat Dietrich Bonhoeffer das ge­nannt. Paulus streitet energisch ab, dass er so denkt, und das mit Recht. Auch über weite Teile der Kirchengeschichte hinweg war die Gefahr gering, das Christsein zu billig zu machen. Aber in der evan­gelischen Kirche unserer Tage scheint mir das anders zu sein. Es ist zwar richtig, dass wir von Gottes unendlicher, bedingungsloser Liebe predigen, und ich werde auch nie davon lassen. Aber oft wird diese Liebe so missverstanden, als ob sie auch noch über schlimms­tes Fehlverhalten den Mantel des Vergessens breiten würde. Da geht unser Verständnis für die Schattenseiten der menschlichen Natur so weit, dass wir keinerlei Grenzen mehr setzen. Und da gehen wir nicht zuletzt mit unseren eigenen Schwächen sehr milde um und erwarten das auch von anderen. Wir vergessen dabei, dass Gott zwar den Sün­der liebt – und zwar jeden ohne Einschränkung –, dass er aber die Sünde zutiefst verabscheut. Ihr seid von der Sünde frei, sagt Paulus, aber wenn sich dadurch an eurem Leben nichts än­dert, dann stimmt etwas nicht!

Die andere Antwortmöglichkeit: Wenn ich auch als Christ immer noch so lebe, als ob es Gott nicht gäbe, dann ist es bei mir noch nicht richtig angekommen, dass Gott mich von der Sünde befreit hat und was ihn das gekostet hat. Das wäre dann so ähnlich wie bei einem Wel­lensittich, den wir mal hatten: Der hatte sein ganzes bisheriges Leben im Käfig verbracht und flog deshalb selbst dann nicht heraus, wenn die Käfigtür offenstand. Man konnte ihn nur ganz langsam an die Freiheit gewöhnen. So mag es auch in unserem Christenleben sein. Auch da müssen wir erst lernen, die Flügel zu gebrauchen, die Gott uns geschenkt hat. Gut, wenn uns dazu jemand den Anstoß gibt. Gut wenn uns jemand sagt: Gott hat zwischen sich selbst und dir alles in Ordnung gebracht. Du bist nun frei, um das Ziel zu erreichen, das er dir gesteckt hat. Also mach dich auf den Weg! Lebe im Einklang mit Gott, mit dir selbst und mit deinen Mit­menschen. Du wirst sehen, dass du es kannst. Und du wirst erleben, dass Gottes Geist dir die Kraft dazu gibt. Amen.

Pfarrer Dr. Martin Klein