Predigt Wenscht- und Talkirche, Sonntag, 10.12.2017

GOTTESDIENST FÜR DEN ZWEITEN ADVENT

Text: Jes 63,15-64,3

Advent – wie wohl die meisten hier wissen, heißt das auf Deutsch „Ankunft“. Aber auch, wer das vielleicht bisher noch nicht wusste, der weiß auf jeden Fall, dass man auf Ankunften manchmal lange warten muss. Und das tut keiner besonders gern. Denn:
Warten ist lästig. Da steht man zum Beispiel in Kälte und Regen auf dem Bahnsteig, wartet auf den Zug und hört dann eine dieser netten Durchsagen: „Achtung an Gleis drei: Der Regional-Express nach Hagen, planmäßige Abfahrt 9.32 Uhr, wird heute voraussichtlich 20 Minuten später eintreffen. Wir entschuldigen uns und bitten um Geduld!“ Die ist dann nur nicht immer gleich zur Hand.
Warten macht unruhig. Da hat sich die Tochter für nachmittags zum Kaffee angekündigt, aber es wird vier, halb fünf, fünf, und niemand kommt. Und während der Kaffee langsam kalt wird, beginnt man sich Sorgen zu machen: „Wo bleibt sie denn nur? Ihr wird doch nichts passiert sein! Sie hätte doch wenigstens anrufen können, wenn sie später kommt!“ Wenn sie dann doch noch auftaucht, wird sie sich einiges anhören müssen.
Warten ist zermürbend. Da hat der Arzt hat bei einer Routine-Untersuchung bedenkliche Symptome festgestellt. Er hat Untersuchungen angestellt, Proben genommen und eingeschickt. Aber es dauert seine Zeit, bis die Ergebnisse kommen, und so lange verbringt man schlaflose Nächte: „Bin ich ernsthaft krank oder ist alles ganz harmlos? Muss ich mich auf eine Operation gefasst machen, oder vielleicht gar auf Schlimmeres?“ Und selbst wenn der Befund schließlich Entwarnung gibt, braucht man noch eine Weile, bis die Angst sich gelegt hat.
Oft nimmt Warten aber auch gar kein Ende. Arbeitslose warten jahrelang auf einen Job und kriegen keinen. Alte und lebenssatte Menschen warten auf den Tod, und er kommt nicht. Unzählige Menschen auf der Welt sehnen sich nach Frieden und nach gerechten Lebensverhältnissen, und viele von ihnen warten jahrzehnte- oder auch ein Leben lang vergebens.
Ja, Warten kann eine Qual sein. Davon weiß auch der heutige Predigttext ein Lied zu singen. Es ist ein Klagelied, und es steht in Jesaja 63 und 64:

So schau nun vom Himmel
und sieh herab von deiner heiligen, herrlichen Wohnung!
Wo ist nun dein Eifer und deine Macht,
deine innere Regung und deine Barmherzigkeit?
Halte nicht an dich, bist du doch unser Vater!
Denn Abraham weiß von uns nichts,
und Israel kennt uns nicht.
Du, Herr, bist unser Vater;
»Unser Erlöser«, das ist von alters her dein Name.
Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab,
dass die Berge vor dir zerflössen,
wie Feuer Reisig entzündet
und wie Feuer Wasser sieden macht,
dass dein Name kundwürde unter deinen Feinden
und die Völker vor dir zittern müssten,
wenn du Furchtbares tust, das wir nicht erwarten
und das man von alters her nicht vernommen hat.
Kein Ohr hat gehört,
kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir,
der so wohltut denen, die auf ihn harren.

Hier warten Menschen auf Gott. Und sie warten schon schrecklich lange. Seit vielen Jahren ist Jerusalem zerstört, liegt der Tempel des Gottes Israels in Trümmern. Die Bevölkerung von Juda ist arm und machtlos, und den Nachbarvölkern ist das gerade recht. Damit sind sie schließlich einen lästigen Konkurrenten los. Und die Leute in Juda wissen: aus eigener Kraft gibt es keinen Ausweg aus der Misere.
Dabei hatten sie noch vor kurzem neue Hoffnung geschöpft: Die Babylonier, die Jerusalem zerstört hatten, waren von den Persern besiegt worden. Und der Perserkönig Kyros hatte den Exils-Juden in Babylon die Heimkehr gestattet. Ja, er hatte sogar erlaubt, den Tempel wiederaufzubauen. Der Prophet, den wir den Zweiten Jesaja nennen, schien recht zu behalten. „Jetzt bricht eine neue Heilszeit an“, hatte er gesagt. „Gott wendet sich seinem Volk wieder zu. Er beweist seine Macht an uns – noch herrlicher als damals, als er unsere Vorfahren aus Ägypten befreit hat.“
Aber aus alledem ist nichts geworden. Ein paar Leute sind aus dem Exil heimgekehrt, sie haben auch den Grundstein zu einem neuen Tempel gelegt, aber die feindseligen Nachbarn und die ärmlichen Verhältnisse haben alle Blütenträume zerstört. An der trostlosen Lage hat sich nichts geändert.
Jedenfalls noch nicht. Denn wenn eine großartige Hoffnung einmal geweckt ist, dann ist sie so leicht nicht wieder tot zu kriegen. Die Menschen in Juda und Jerusalem erwarten immer noch alles von ihrem Gott. Und deshalb haben sie das Warten noch nicht aufgegeben, so zermürbend und qualvoll es auch ist. Allerdings ist ihr Geduldsfaden zum Zerreißen gespannt. Sie bestürmen ihren Gott geradezu mit Klagen, Bitten und Hilferufen. Der Text, den ich gelesen habe, ist davon nur ein kleiner Ausschnitt. Sie lassen nichts unversucht, um bei Gott Gehör zu finden.
Sie erinnern ihn an seine großen Taten: „Damals, beim Auszug aus Ägypten, da hast du tatsächlich den Himmel zerrissen wie einen Vorhang, der dich vor der Welt verbarg. Du hast dein Volk befreit und die Ägypter im Schilfmeer versinken lassen. Du hast sie durch die Wüste geführt. Und am Berg Sinai bist du ihnen erschienen in Feuer, Donner und Erdbeben. Keiner konnte da noch an dir zweifeln.“
Sie packen ihn bei seiner Ehre: „Es ist doch dein Volk, das so misshandelt wird, es ist dein Heiligtum, das man mit Füßen tritt! Wie kannst du das so einfach hinnehmen? Wie kannst du die Feinde nur denken lassen, dass du deine Leute nicht im Griff hast, dass du zu schwach warst, um sie bei der Stange zu halten?“
Sie nageln ihn fest auf seine Zusagen: „Hast du nicht immer gesagt, dass wir dein Volk, dein Erbteil sind? Hat es nicht immer geheißen: Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte? Was ist nun mit all diesen großen Worten? Wo bleibt sie, deine Barmherzigkeit?“
Sie erinnern ihn an seine Verantwortung: „Unsere irdischen Stammväter, Abraham, Isaak und Jakob, sind längst zu Staub zerfallen. Sie können nichts für uns tun. Aber du, du bist doch in Wahrheit unser Vater, unser Erlöser, unser Gott und unser Herr! Wer soll uns denn helfen, wenn nicht du?“
Und sie trauen ihm etwas zu: „Du hast die Macht, um die Feinde zum Zittern zu bringen und ihnen das Maul zu stopfen. Du kannst mehr tun und bewirken, als wir Menschen uns vorstellen können. Du kannst die ganze Weltgeschichte umkrempeln, wenn du nur willst.“
Man kann es fast unverschämt nennen, wie das Volk hier auf seinen Gott einredet. Nichts lassen sie unversucht, um ihn zu einer Antwort zu bewegen. Aber lohnt sich die Anstrengung? Bewirkt all das Beten und Fragen etwas – außer vielleicht für das eigene seelische Wohlbefinden? Oder verhallt es letztlich doch im Nichts – weil es zu dem, den wir mit unseren Gebeten meinen, gar nicht durchdringt? Oder weil da im Himmel gar keiner ist, der uns zuhört?
Ich denke, wir kennen das. Wir haben alle schon Situationen erlebt, in denen uns danach war, Gott mit den Fragen zu überschütten, die uns quälen: Warum treffen Leiden, Not und Tod anscheinend immer die falschen, warum ausgerechnet mich? Warum kann ich mich abstrampeln, wie ich will, und komme doch nie auf einen grünen Zweig? Warum schwimmen die einen im Geld, und die anderen ertrinken in Schulden? Was soll aus mir, aus meiner Familie, meiner Kirche, meinem Land, meiner Welt werden, wenn alle nur noch an sich selber denken und auf den eigenen Vorteil aus sind? Wie lange kann es noch gutgehen, bis die Krisen, Kriege und Katastrophen, die die Welt umspannen, auch über uns hereinbrechen? Und wann antwortet Gott endlich auf diese Fragen? Wann fängt er endlich an damit, die Welt heil zu machen, wie er es auch uns versprochen hat – im Alten und im Neuen Testament?
Auch ich wünsche mir manchmal, dass Gott endlich den Himmel zerreißt und sichtbar als Herr der Welt erscheint. Damit den Armen endlich das Himmelreich gehört. Damit die Leidtragenden endlich getröstet werden. Damit der Hunger nach Gerechtigkeit endlich gestillt wird. Damit die Barmherzigen endlich Barmherzigkeit erlangen. Und damit ich endlich die Zweifel loswerde, ob ich mir und anderen nicht doch etwas vormache, wenn ich darauf hoffe und von dieser Hoffnung rede.
Noch warte ich: auf Antwort, auf Erfüllung, auf Gott. Und manchmal wird das Warten arg lang. Aber ein Zeichen habe ich doch, dass ich nicht vergebens warte. Der Himmel ist noch nicht zerrissen, aber er hat sich schon einen Spalt breit aufgetan. Damals, als Jesus geboren wurde und der Engel den Hirten verkündete: „Euch ist heute der Heiland geboren“. Damals, als Jesus sich taufen ließ und eine Stimme vom Himmel sagte: „Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.“ Damals, als der Auferstandene seinen Jüngern erschien und sprach: „Mir ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden.“ Ein Spalt nur, ein Strahl vom Licht Gottes im Dunkel der Welt. Aber dieser Himmelsspalt weckt berechtigte Hoffnung auf mehr. In den 2000 Jahren seit Jesus, in den zweieinhalbtausend Jahren seit Jesaja ist diese Hoffnung nie gestorben. Und wenn ihre ganze Erfüllung auch noch aussteht, so hat sie doch vielen Menschen durch die Jahrtausende Trost und Kraft gegeben, und sie tut es noch. Das alles ist zwar kein Beweis für die Richtigkeit dieser Hoffnung. Aber doch ein Grund, mich auf sie einzulassen. Und dann selber zu erfahren: Wer Hoffnung hat, der kann auch warten. Und wartet nicht vergebens. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein