Predigt Talkirche, Sonntag, 7. Juli 2019

GOTTESDIENST AM DRITTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: 1.Tim 1,12-17

Als Pastor ist man ja sozusagen ein öffentlicher Christenmensch – ein Fachmann für alles, was mit christlichem Glauben zu tun hat. Einer, der Aus­kunft geben kann über das, was man schon immer über Religion wis­sen wollte, aber bisher nie zu fragen wagte. 

Eine Frage, die ich gelegentlich höre, ist zum Beispiel die: „Sagen Sie mal, Herr Pastor, wie kommt man eigentlich dazu, ausgerech­net die­sen Beruf zu ergreifen?“ Ich kann da immer gar nicht so kurz drauf antworten. Weder war mir der Beruf des Pastors in die Wiege gelegt, noch kann ich mich an eine Stimme vom Himmel erinnern, die ge­sagt hätte: „Martin, du sollst Theologie studieren und Pfarrer wer­den!“ Ich kann eigentlich nur davon erzählen, wie ich Christ gewor­den bin, und das klingt bei mir nicht viel anders als bei den meisten, die heute hier sitzen: 

Ich bin in einem Land geboren, dass eine christlich geprägte Ge­schichte und Kultur hat. Ich hatte Eltern, die einer christlichen Kirche angehörten, die mich haben taufen lassen und die sich nach Kräften bemüht ha­ben, mich im christlichen Glauben zu erziehen. Ich war in der Sonn­tagschule und in der Jungschar, bin konfirmiert worden und hab dann in der Jugendarbeit des CVJM mitgemacht. Und als ich mich für ei­n Studium entscheiden musste, da hab ich mir überlegt: „Du inter­essierst dich für Sprachen und Geschichte, du kannst ganz gut mit Worten umgehen und dir liegt daran, anderen Menschen et­was von deinem Glauben weiterzugeben – warum sollst du nicht Theologie studieren und Pfarrer werden?“ Und so ist es dann gekom-men. Aber es war für mich immer klar, dass ich als Pfarrer nichts höheres und besseres leiste, als wenn ich mit meiner christli­chen Überzeugung einem anderen Beruf nachgehen würde – ganz davon abgese­hen, dass der tägliche Kleinkram auch bei Pfarrern oft wenig Erhe­bendes an sich hat.

Wären Sie mit dieser Antwort zufrieden, wenn Sie mich gefragt hät­ten? Ich glaube, der Verfasser des heutigen Predigttextes wäre es nicht. Er hat etwas andere Vorstellungen davon, wie jemand Christ wird und sich von Gott in Dienst stellen lässt. Ich lese einen Ab­schnitt aus dem ersten Kapitel des ersten Timotheusbriefs:

Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt, mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben. Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist. Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert: Chri­stus Jesus ist in die Welt gekommen, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin. Aber darum ist mir Barmherzigkeit wider­fahren, dass Christus Jesus an mir als erstem alle Geduld er­weise, zum Vorbild denen, die an ihn glauben sollten zum ewigen Leben. Aber Gott, dem ewigen König, dem Unvergänglichen und Unsichtba­ren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen.

Da spricht einer, der in seinem Leben eine radikale Wende erlebt hat. Er ist nicht in einem christlichen Land und Elternhaus aufgewachsen, sondern in einer Umgebung, in der niemand etwas vom christlichen Glauben wusste. Und entsprechend hat er gelebt: auf eigene Faust, als ob es Gott nicht gäbe. Und als er dann zum ersten Mal mit Chris­ten in Berührung kam, da hatte er für ihren Glauben nur Spott übrig – ja, er hat sich sogar an ihrer Verfolgung und Unterdrückung beteiligt. Aber dann kam plötzlich alles anders: Gott selbst hat eingegriffen und die­sen Menschen völlig umgekrempelt. Bis dahin war es ihm als völliger Unsinn erschienen, dass Gott Jesus Christus in die Welt ge­sandt habe, um Sünder zu retten. Nun sagt er von dieser Aussage: „Das ist ge­wisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert“. Eben noch war sein Leben von Hass und Ignoranz gegenüber den Christen geprägt, nun teilt er aus tiefster Überzeugung ihren Glauben und ihre Liebe. Und dann sagt er noch, dass das keineswegs nur bei ihm so war. Sondern was an ihm geschehen sei, das habe Gott zum Vor­bild bestimmt für alle, die an ihn glauben sollten. Wenn Men­schen Christen werden, heißt das, dann geschieht es immer nach dem Muster, das der, der hier redet, selbst erfahren hat.

Der Schreiber dieser Zeilen ist nach Ausweis des Briefanfangs der Apostel Paulus. Und bei ihm war es ja tatsächlich so. Eben noch hatte er die neue Lehre der Jesus-Anhänger aus tiefster Überzeugung ver­urteilt und die christliche Gemeinde verfolgt; dann begegnete ihm der auferstandene Christus, und aus dem entschiedenen Gegner wurde der eifrigste und wirkmächtigste Verkündiger, den die christli­che Bot­schaft je hatte. Aber nun ist es wichtig, dass nicht Paulus selbst diese Worte spricht, sondern dass ein anderer ihn hier sprechen lässt: ein später Schüler des Paulus, der mehr als vierzig Jahre nach dessen Tod den ersten Timotheusbrief schreibt. Ihn interessiert nicht mehr das Persönliche und Eigentümliche der Lebensgeschichte des Paulus, son­dern nur noch das Typische – das, was seiner Meinung nach für alle Christen gilt: die Wende um 180 Grad, die radikale Trennung zwi­schen gottloser Vergangenheit und gläubiger Gegen­wart.

Für seine Zeit hatte er damit ja auch Recht. Es waren schließlich Hei­den, die damals Christen wurden. Für sie war es eine bewusste Ent­scheidung, sich taufen zu lassen und Mitglied einer christlichen Ge­meinde zu werden. Und diese Entscheidung brachte immer einen deutlichen, oft schmerzhaften Bruch mit der Ver­gangenheit mit sich. Aber die Art und Weise, wie wir heute Christen werden, lässt sich damit kaum vergleichen. Wenn ich auf mein bishe­riges Leben zurückschaue, dann fallen mir zwar viele schwache Momente und Fehler ein, aber ein Läste­rer, Verfolger und Frevler war ich nie. Und es gibt zwar ent­schei­dende Wendepunkte in meinem Leben, aber ich kann kein be­stimmtes Datum benennen, an dem ich aus einem gottlo­sen Sünder zu ei­nem gläubigen Christen geworden wäre. Mein Glaube war nicht ir­gendwann plötzlich da, sondern er hat sich all­mählich entwickelt, und er wird sich wohl weiter entwickeln bis an mein Lebensende.

Ich denke, dass es den meisten hier ähnlich geht. Aber es gibt auch heute noch Christen die das anders sehen. Für sie ist nur ein echter Christ, wer eine bewusste Ent­scheidung für Jesus Christus getroffen hat und dafür auch einen Zeitpunkt benennen kann. Und er muss auch Re­chen­schaft darüber geben können, was sich seitdem in seinem Leben konkret verändert hat. In den frommen Kreisen meiner Jugend hatte ich viel mit sol­chen Christen zu tun. Und es hat mir zeitweise ziemlich zu schaffen ge­macht, dass ich in meinem Leben einen sol­chen Wendepunkt ein­fach nicht be­nennen konnte. War ich dann überhaupt ein richtiger Christ – trotz Taufe, Konfirmation, eh­renamtlicher Mitarbeit und allem Drum und Dran?

Es war mein Studium, das mir diese Art Selbstzweifel allmählich aus­getrieben hat. Da habe ich nämlich gelernt: Das, was Menschen tun oder lassen, ist gar nicht das Entscheidende dafür, ob jemand Christ wird oder bleibt. Weder christliche Erziehung ist eine Garantie dafür noch eine freie eigene Entscheidung. Es gibt nur eins, ohne das nie­mand Christ sein kann, und das ist Gottes Barmherzigkeit. Wenn Gott nicht von sich aus überwindet, was mich von ihm trennt, dann bleibt die Trennung unaufhebbar. Wenn ernicht uns nahe kommt, dann bleiben alle unsere Annäherungsversuche vergeblich. Aber die-se eine notwendige Bedingung ist erfüllt: Gott ist in Jesus Mensch ge­worden; darum ist er uns nahe und bleibt uns nahe jetzt und für im­mer. Dafür muss ich mich nicht erst entscheiden; das gilt für mich, und ich kann es für mich gelten lassen. Und es spielt keine Rolle, ob das an einem einmaligen Wendepunkt meines Lebens ge­schieht oder ob es sich langsam entwickelt und mit mir wächst und sich verändert.

Wenn ich nun mit dieser Einsicht nochmal in den Predigttext schaue, dann stelle ich fest, dass auch er im Grunde nichts anderes sagt. Auch da steht ja nicht: „Ich bin Gott treu gewe­sen“, sondern: „Er hat mich als treu, als zuverlässig angesehen“. Da steht nicht: „Ich habe mich in den Dienst Jesu Christi gestellt“, son­dern: „er hat mich zum Dienst eingesetzt“. Da steht nicht: „Ich habe mich für Jesus Christus entschieden“, sondern: „er hat sich über mich erbarmt“. Und das alles beleuchtet die Kernaussage in der Mitte des Textes: „Jesus Christus ist in die Welt gekommen ist, um die Sünder zu ret­ten“. Oder mit dem Wochenspruch gesagt: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“

Das ist nun in der Tat das Vorbild, nach dem wir alle Christ werden und Christ bleiben. Ich finde es auch in meiner Le­bensgeschichte wieder: Ich kann ja nichts dafür, dass ich Eltern hatte, die mich lieb hatten und mir deshalb auch etwas von der Liebe Gottes vermitteln konnten. Umgekehrt können aber auch meine El­tern nichts dafür, dass ich mich nicht irgendwann von allem Christlichen abgewendet habe. In beidem sehe ich Gottes Barmher­zigkeit am Werk. Ich kann auch nichts dafür, dass ich getauft worden bin. Und weder der Pfar­rer, der mich getauft hat, noch meine Eltern und Paten hatten es in der Hand, dass diese Taufe etwas bewirkt. Aber die Zu­sage, die Gott mir mit der Taufe gemacht hat, die gilt für mein ganzes Leben. Und ich kann auch nichts für die Begabungen, die es mir er­möglicht ha­ben, Theologie zu studieren und Pfarrer zu werden. Im Gegenteil: Ich habe auch Eigenschaften, die zum gängigen Idealbild eines Pastors gar nicht gut passen. Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und wenn das, was ich tue, bei anderen Gutes bewirkt, dann hat auch dabei Gott seine Hand im Spiel.

Ich habe jetzt von mir gesprochen. Aber alles, was ich gesagt habe, gilt genauso für jede und jeden von Ihnen. Und dafür ist es ganz egal, wie Sie Christ geworden sind, was für eine Glaubensgeschichte Sie hinter sich haben und auf welche Weise Sie Ihren Glauben leben. Ob Sie es in steter Festigkeit tun oder mit vielen Zweifeln, ob Ihr Lebens- und Glaubensweg bisher geradlinig verlaufen ist oder mit vielem Auf und Ab. Ob Sie in Glaubensdingen mehr das Traditio­nelle schätzen oder auf der Suche nach neuen Wegen sind: durch Gottes Gnade sind auch Sie alle, was Sie sind. Deshalb schließt der Pre­digt­text mit einem Lobpreis dieses Gottes, und wir können nichts Besse­res tun, als uns diesem Lobpreis anzuschließen: „Gott, dem ewigen Kö­nig, dem Unvergänglichen und Unsichtbaren, der allein Gott ist, sei Ehre und Preis in Ewigkeit! Amen“.

Ihr Pastor Martin Klein