Predigt Talkirche, Sonntag, 28. Juli 2019

GOTTESDIENST FÜR DEN SECHSTEN SONNTAG NACH TRINITATIS

Text: 1. Petr 2,1-10

Liebe Priesterinnen und Priester, oder auch: liebe Priesterschaft!

Gefällt Ihnen diese Anrede? Oder kommt sie Ihnen seltsam vor? Oder fühlen Sie sich gar nicht angesprochen? Priester – gibt es die nicht nur in der katholischen Kirche, und sind das nicht alles Män­ner? Und sind die nicht immer unverheiratet und haben deshalb oft ein Problem mit ihrer Sexualität? Nein, so einer möchte ich gar nicht sein!

Wenn Sie so denken sollten, dann sei Ihnen ein bekanntes Zitat von Martin Luther entgegen gehalten: „Was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei.“ Oder etwas ausführlicher: „Alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes, und es ist zwischen ihnen kein Unter­schied als allein des Amts halber … Das alles kommt daher, dass wir eine Taufe, ein Evangelium und ein Glaubensbekenntnis haben; denn die Taufe, das Evangelium und das Glaubensbekennt­nis, die machen allein geistlich und Christenvolk.“ (An den christli­chen Adel deutscher Nation,1520). Also: Sind Sie getauft? Hören Sie auf das Evangelium von Jesus Christus? Bekennen Sie sich zum christli­chen Glauben? Dann sind Sie auch Priesterin oder Priester. Dann steht kein Pfarrer, kein Bischof und keine Präses und erst recht kein Papst auf einer höheren geistlichen Stufe als Sie selber. Dann haben Sie alle unmittelbaren Zugang zu Gott und seinem Wort, und kein Mensch darf Ihnen in Glaubensdingen irgendwelche Vorschrif­ten machen. 

Dieses „allgemeine Priestertum der Gläubigen“ hat Luther damals wiederentdeckt und es gegen den Machtanspruch der kirchlichen Hierarchie in Stellung gebracht. Und er konnte sich dafür bestens auf die Bibel berufen. Eine wichtige Belegstelle, die er immer wieder zitiert hat, gehört zum heutigen Predigttext, einem Abschnitt aus dem zweiten Kapitel des ersten Petrusbriefes:

So legt nun ab alle Bosheit und allen Betrug und Heuchelei und Neid und alle üble Nachrede und seid begierig nach der vernünftigen laute­ren Milch wie die neugeborenen Kindlein, auf dass ihr durch sie wachset zum Heil, da ihr schon geschmeckt habt, dass der Herr freund­lich ist. Zu ihm kommt als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar. Und auch ihr als lebendige Steine lasst euch als geistliches Haus er­bauen zu einer heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus.Darum steht in der Schrift: »Siehe, ich lege in Zion einen auserwähl­ten, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschan­den werden.« Für euch nun, die ihr glaubt, ist er kostbar. Für die aber, die nicht glauben, ist er »der Stein, den die Bauleute verwor­fen haben; der ist zum Eckstein geworden« und »ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses«. Sie stoßen sich an ihm, weil sie nicht an das Wort glauben, wozu sie auch bestimmt sind. Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht. Ihr wart einst kein Volk, nun aber seid ihr das Volk Gottes; ihr wart ohne Erbarmen, nun aber ist euch Barmherzig­keit widerfahren.

Okay, wir Christen sind also eine „heilige“ oder „königliche Priester­schaft“, „zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind“, „dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht“. Das klingt gut. Aber wie ist das konkret gemeint?

Dazu müssen wir wohl erstmal klären, was Priester überhaupt sind. Ganz allgemein gesprochen sind sie Kontaktpersonen zwischen Mensch und Gott, zwischen der irdischen und der himmlischen Welt. Es gibt sie in allen Religionen. Sie bringen die Gebete der Gläubi­gen vor die Gottheit. Sie bringen Opfergaben dar, um den Frieden zwischen Göttern und Menschen zu bewahren oder wiederher­zustellen. Sie vollziehen Rituale, damit zwischen Himmel und Erde alles seine Ordnung hat. Und sie erfragen den Willen Got­tes und geben ihn an die Gemeinschaft oder an Einzelne weiter. Und damit sie als Menschen vor der Heiligkeit Gottes nicht vergehen müssen, wird ihnen selber ein gewisses Maß an Heiligkeit zugespro­chen. Sie wer­den rituell zu Priestern geweiht – weil sie bestimmte Gaben und Fähigkeiten haben, weil sie zu einer Priesterkaste gehö­ren oder weil sie sich das dafür nötige, oft geheime Wissen angeeig­net haben.

Schön und gut, könnten Sie jetzt sagen. Aber wir sind doch aufge­klärte Menschen. Wir sind doch längst hinweg über rituelles Tam­tam und die Verehrung heiliger Männer oder Frauen. – Wirklich? Sie glauben ja gar nicht, wie oft ich als evangelischer Pfarrer mir wie ein Priester vorkomme, obwohl ich als solcher doch gar keiner sein will. Bei irgendei­ner Versammlung soll ein Gebet gesprochen werden? Alle schauen zu mir! Die Gemeinde plant eine Freiluftveranstaltung? Unweigerlich macht jemand die scherzhafte, aber doch entlarvende Bemerkung, dass ich doch mal meinen „guten Draht nach oben“ nutzen und für schönes Wetter sorgen solle. Brautpaare planen ihre Hochzeit? Dafür gibt es jede Menge Tipps und Ratgeber, mit denen man es selber hinbekommt – aber für das religiöse Zeremoniell in der Kirche wird dann doch noch einer gebraucht, der die „heiligen Worte“ spricht und den Segen erteilt.

In gewissem Sinne ist das ja auch in Ordnung so. Im Grunde kann und darf zwar jeder Geistliche, also jeder Christ predigen, taufen, das Abendmahl feiern, unterrichten und Seelsorge betreiben. Aber damit es dabei geregelt und ordentlich zugeht, haben Sie die öffentli­che Verkündigung und Sakramentsverwaltung an mich und meinesgleichen delegiert, und wir werden ja auch dafür bezahlt. 

Trotzdem bleibt es dabei, was der erste Petrusbrief sagt: Ihr alle seid die lebendigen Steine, aus denen das Haus Gottes gebaut wird. Ihr alle seid die Auserwählten Gottes, die Priesterschaft in seinem König­reich, das heilige Volk, das Volk, das sein besonderes Eigentum ist. Und ihr seid das alles, weil ihr es durch Jesus Christus geworden seid. Er ist der Grundstein, auf dem Gott seine Gemeinde baut. Er und sonst keiner ist der Mittler zwischen Gott und Mensch, zwi­schen Himmel und Erde. Er, so sagt es der Hebräerbrief, ist allein der Hohepriester, und sein Opfer gilt ein für allemal. Und durch ihn habt ihr alle an seiner Priesterschaft Anteil.

Also, liebe Gemeinde, wartet nicht darauf, dass euer Pastor an eurer Stelle betet, sondern tut es selber. Redet mit Gott und erwartet Ant­wort von ihm. Tut es mit euren eigenen schlichten Worten, ganz ohne Ritual und Brimborium. Ihr braucht keine Scheu zu haben, dem heiligen Gott zu begegnen, müsst ihn nicht mit Opfern und Wohlverhal­ten besänftigen und müsst dafür auch niemand anderen vorschicken. Sondern Gott ist mit seiner Liebe längst bei euch, ist mit seinem guten Geist in euer Herz eingezogen. Damit dürft ihr leben und euch ihm dankbar zeigen in Wort und Tat. Ihr braucht auch niemanden der an eurer Stelle für Frieden sorgt zwischen euch und Gott, sondern der Friede ist längst da, weil Gott selber alles dafür getan hat. Ihr braucht niemanden, der in Sachen Glaube über irgendwelches geheimes Wissen verfügt und euch deshalb sagt, was ihr zu tun und zu lassen habt. Sondern alles, was es über Gott zu wissen gibt, steht in der Bibel. Lest es, zieht eure Schlüsse daraus, und dann handelt danach.

So sollte es sein, in einer Kirche, die wahrhaft evangelisch ist. Und deshalb bereitet es mir große Sorge, dass immer mehr getaufte Chris­ten von ihrem allgemeinen Priestertum keinen Gebrauch mehr machen. Das bisschen, was sie an Religionsausübung für nötig hal­ten, überlassen sie den Pastoren und anderen Hauptamtlichen, las­sen sich von ihnen trauen und beerdigen, lassen sie ihre Kinder tau­fen und konfirmieren, gehen hier und da mal zum Gottesdienst. Aber schon die Tatsache, dass man Gottesdienste nicht einfach konsu­mieren kann, sondern immer selber beteiligt ist – durch Mitbe­ten, Mitsingen, Mitdenken – ist vielen nicht mehr bewusst. Und erst recht wird zu Hause nicht mehr gebetet oder in der Bibel gelesen. Kinder bekommen das Christsein, auf das sie vielleicht noch getauft sind, nicht mehr vorgelebt. Und im alltäglichen Leben und Verhalten spielt der Glaube schlicht keine Rolle. Aber wie soll es auch anders sein, wenn sich immer weniger Vorbilder dafür finden, dass es auch anders geht? Eine schwindende Schar von Pfarrersleu­ten kann jedenfalls nicht ausgleichen, was da über Jahrzehnte hin weggebrochen ist – bis weit in die Kerngemeinde hinein.

Deshalb sage ich allen, die heute hier sind und damit zeigen, dass ihnen gelebtes Christsein noch etwas bedeutet: Nehmt bitte ernst, dass ihr alle zur Priesterschaft Jesu Christi gehört! Ihr müsst zwar den Kontakt zwischen Gott und Welt nicht erst herstellen, wie es Priester sonst zu tun versuchen. Denn dieser Kontakt ist durch Chris­tus längst da und geht nie verloren. Aber es ist eure Aufgabe, in eu­rem Alltag davon Zeugnis zu geben in Wort und Tat. Also sagt euren Mitmenschen, dass ihr Christen seid und warum. Betet mit euren Kindern und Enkeln, erzählt ihnen biblische Geschichten, lebt ihnen euren Glauben vor, so gut ihr könnt. Beteiligt euch am Leben eurer Gemeinde, feiert Gottesdienst und dient Gott, jeder auf seine Wie-se. Und sagt entschlossen Nein zu allem, was eurem Glauben wider-spricht. „Betrug, Heuchelei, Neid und üble Nachrede“ nennt der Text dazu gleich am Anfang. Man könnte noch mehr aufzählen, aber schon dabei gibt es ja genug zu tun. Und schaut euch nicht nach euren Pfarrersleuten um, denn wir können das alles nicht für euch übernehmen. Wohl aber ist es unsere Auf­gabe, euch dafür zu rüsten und zu stärken, und das wollen wir nach Kräften tun.

Einer Kirche, die das allgemeine Priestertum in dieser Weise ernst nimmt, muss auch vor schrumpfenden Mitgliederzahlen nicht bange sein. Denn in ihr sind die, die dabei bleiben, besser erkenn­bar als das, was sie sind: „ein auserwähltes Geschlecht, eine königli­che Priester­schaft, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum“. Oder kurz gesagt: Menschen, die zu Gott gehören und denen man das auch anmerkt. Das ist das, wofür man uns Christen wirklich noch braucht und was uns auch keiner abnehmen kann. Und Gottes Wohlge­fallen ist uns dabei sicher. Amen.

Ihr Pastor Martin Klein