Predigt Talkirche, Sonntag, 31.12.2017

GOTTESDIENST ZUM JAHRESSCHLUSS

 

Text: Ex 13,20-22

Und, liebe Autofahrer, wie sehr velassen Sie sich auf Ihr Navi? Ich gebe gern zu, dass ich da immer noch ein gewisses Misstrauen hege. Ich erlebe halt immer wieder, dass ich den schnellsten Weg doch besser kenne, und dann braucht das blöde Navi meist noch ziemlich lang, bis es sich meiner besseren Erkenntnis angeschlossen hat. Erst kommt zwar ein leicht verunsichertes „neu berechnen“, aber dann schaltet es auf stur und beharrt auf „kehren Sie, wenn möglich, um“ – bis es irgendwann endlich kapiert, wie ich fahren will. Also verlasse ich mich im Zweifel doch eher auf meine Ortskenntnis und meinen Orientierungssinn. Aber ich will nicht unfair sein: Im letzten Sommerurlaub hätten wir den verkehrsgünstigen Parkplatz in der Innenstadt von Ravenna ohne unser Navi nie gefunden, und wenn ich mich dann doch mal verfahre (doch, ist schon vorgekommen), dann hilft es mir zurück auf den richtigen Weg – und anders als manche menschliche Beifahrer bleibt es dabei stets freundlich und gelassen.
Alles in allem also doch eine recht nützliche Erfindung, so ein Navi. Da kommt mir manchmal der Gedanke, wie es wäre, wenn es so ein Navigationssystem auch für andere Dinge gäbe. Es wäre doch schön, wenn bei allen wichtigen Entscheidungen des Lebens auch so eine nette Stimme ertönen würde, die einem sagt, was das Beste ist. Zum Beispiel: „Nach dem Schulabschluss ausgiebig feiern, dann Beruf X oder Studienfach Y wählen.“ Oder: „Annäherungsversuche von A ignorieren, stattdessen B zum Essen einladen und spätere Heirat anstreben.“ In einem Konfi-Begrüßungs-Gottesdienst haben wir das vor einiger Zeit schon mal durchgespielt. Aber nein, so was wird es wohl nie geben. Wir Menschen sind ja auch lieber frei in unseren Entscheidungen – siehe Autofahren. Und deshalb wird allerorten die „freie Auswahl“ gepriesen und „mehr Eigenverantwortung“ von uns gefordert. Oft sind wir dann allerdings mit unserer Entscheidungsfreiheit ziemlich alleingelassen. Kein Wunder, dass sich da manch einer überfordert fühlt und die Orientierung verliert – oder sich an Leute hängt, die scheinbar genau wissen, wo’s lang geht.
Die Bibel erzählt uns allerdings, dass es beim Zug der Kinder Israel durch die Wüste mal so eine Art „Lebens-Navi“ gab. Natürlich kein technisches Gerät, sondern eine wunderbare Erscheinung. Davon hören wir im heutigen Predigttext aus dem zweiten Buch Mose, Kapitel 13:

So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. Und der Herr zog vor ihnen her, am Tage in einer Rauchsäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.

Rauch bei Tag und Feuer bei Nacht, und darin verborgen Gott selber, der seinem Volk den Weg weist – da kann natürlich auch die ausgefeilteste Elektronik und Computertechnik unserer Tage nicht mithalten. Keiner konnte diesen Wegweiser übersehen, und Fehler waren nicht zu befürchten. Da konnte einfach nichts schief gehen auf dem Weg aus der ägyptischen Knechtschaft ins Gelobte Land Kanaan. Selbst Mose, der Anführer musste nur einfach der Säule folgen, um seine Leute sicher ans Ziel zu bringen.
Aber wenn man sich die Geschichte der Wüstenwanderung Israels näher anschaut, liegen die Dinge deutlich komplizierter. Es klingt so lapidar: „zogen aus von Sukkot und lagerten sich in Etam“ – Ziel erreicht, Tagesetappe geschafft, morgen geht’s weiter. Aber von da führte Gott die Kinder Israel nicht geradewegs durch die Wüste, sondern erst einmal in eine Sackgasse. So lag schließlich vor ihnen das Schilfmeer und hinter ihnen jagte das Heer des Pharao mit seinen Streitwagen heran. Nie wären sie da lebend herausgekommen, wenn der Herr nicht ein Wunder getan hätte und das Meer vor Israel zurückgewichen wäre. Dieses Wunder hat Israel bis heute nicht vergessen. Aber bevor es geschah, hat sicher mancher voller Panik gedacht, dass die Rauch- und Feuersäule sie auf fatale Weise in die Irre geführt hatte. Und auch danach wurde es nicht anders: Auf direktem Weg wären die Israeliten in ein paar Wochen im Gelobten Land angekommen. Aber die Rauch- und Feuersäule führte sie erst einmal einen Riesenumweg bis zum Berg Sinai und danach noch vierzig Jahre hin und her durch die Wüste, bis sie – das heißt: eher ihre Kinder – endlich am Ziel waren. Sicher, die Bibel berichtet uns, dass Gott für alle diese Umwege gute Gründe hatte und dass er die Seinen auch nie im Stich ließ. Aber darauf konnte man wohl erst im Nachhinein kommen. Bis dahin musste es dem nüchternen Betrachter so scheinen, als ob Gott sein Volk entweder ärgern wollte oder selbst nicht so genau wusste, wo es lang ging.
Aber genau das erleben wir ja heute auch, wenn wir Gott die Führung unseres Lebens anvertrauen. „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn“, sagt der Psalm, und ich halte das immer noch für den besten Rat, den ich jemandem geben kann, der Orientierung für sein Leben sucht. Doch die Wege, die mich Gott dann tatsächlich führt, sehen genauso aus wie Israels Weg durch die Wüste: Sackgassen, Umwege, Kehrtwendungen, Stillstand, kurz oder lang, und dann wieder weiter, fast am Ziel und dann wieder zurück, im Kreis herum und dann wieder geradeaus, Hilfe zur rechten Zeit und unverhoffte Rettung, aber auch böse Überraschungen, und für manchen Mitreisenden das vorzeitige Aus. Da ist man nicht immer überzeugt, dass die Fortsetzung des Psalmverses auch stimmt: „Er wird’s wohl machen.“
Auch wenn wir auf das vergangene Jahr 2017 zurückschauen, fragen wir uns: Wo ist da der rote Faden? Wo ist Gottes Führung, und wenn sie da ist, wieso geschah sie so und nicht anders? All die Toten und all die Zerstörung bei Stürmen und Erdbeben, bei Anschlägen und Kriegshandlungen. All die hohen Gewinne in der Wirtschaft und an den Börsen, die sprudelnden Steuereinnahmen – und trotzdem so viele Menschen selbst in unserem reichen Land, die da rein gar nichts von haben. All die Wahlerfolge von Rechts- und Linkspopulisten, all das autoritäre Gehabe von Trump über Erdogan bis Kim-Jong-Un, all die viel zu einfachen Antworten auf schrecklich komplizierte Probleme. Und dabei wächst die Unsicherheit allenthalben, wird es immer unklarer, wie es weiter geht. Es gibt immer mehr Gewissheiten, die zerbrechen, und immer weniger Anhaltspunkte, wie unsere Zukunft aussehen wird. Stattdessen viel Rauch um nichts, viel wolkiges Gerede, viele Strohfeuer, manche Irrlichter und keine Orientierung. Nirgends ist die eine große Rauch- und Feuersäule zu sehen, deren Führung wir uns anvertrauen könnten – und wenn es sie gäbe, würden wir ihre Wege genauso wenig begreifen wie Israel in der Wüste.
Aber was dann? Wie sollen wir hinein schreiten ins Jahr 2018, wenn wir gar nicht wissen, wie und wohin? Nun, manche Wege, die wir noch nicht übersehen können und nur mit Überwindung beschreiten, werden leichter, wenn wir einmal die ersten Schritte gemacht haben. Deshalb möchte ich uns allen auf dem Weg ins neue Jahr drei erste Schritte empfehlen:
Erster Schritt: Wir sollten uns eingestehen, dass von uns Menschen keiner den Durch- und Überblick hat – weder über die Vergangenheit, noch über die Gegenwart, noch über die Zukunft. Wir alle, auch unsere klügsten Köpfe, stecken eben mittendrin und können deshalb keine Orientierung geben wie ein Satellit, der hoch über der Erde schwebt. Was das Große, Ganze angeht, sind wir allesamt blind. Jedem, der behauptet er wisse mehr über unsere Zukunft als wir selber, sollten wir deshalb mit tiefstem Misstrauen begegnen. Demnach wäre es ein guter Vorsatz fürs nächste Jahr, keine Horoskope mehr zu lesen, und für unsere Politiker, keinen Wirtschaftsprognosen mehr zu trauen.
Zweiter Schritt: Wir sollten uns klar machen, dass den Überblick über Zeit und Welt nur haben kann, wer außerhalb von beidem steht. Und das kann nur Gott sein, der Welt und Zeit erschaffen hat. Er durchdringt alle Geheimnisse, die wir nicht durchschauen. Er weiß, was war, was ist und was sein wird, und er kennt uns durch und durch – oft besser, als wir uns selber kennen. Und was das Größte ist: Er liebt uns, seine Geschöpfe, jeden nach seiner Art. Wenn das so ist, und ich glaube, dass es so ist, dann ist er der einzige, dem wir wirklich in allen Dingen vertrauen können – blind vertrauen, weil wir nun einmal blind sind.
Und der dritte Schritt: Wir sollten uns bewusst werden, dass Gott über all unsere Wege nicht nur Bescheid weiß, sondern sie selber mitgeht. So wie damals, als er Israel aus Ägypten führte. So wie damals, als er Mensch wurde wie wir – als Kind armer Leute, unterwegs, fern von Zuhause. So wie damals, als er lebte und starb wie einer von uns und so den Tod für uns besiegte. Ein schlichtes, viel belächeltes und mit mancherlei theologischer Kritik bedachtes Weihnachtslied bringt es auf den Punkt: „Steht auch mir zur Seite / still und unerkannt / dass es treu mich leite / an der lieben Hand.“ Denn wer ist denn das „Christuskind“, das da besungen wird, anderes als der Mensch gewordene Gott?
Also: Ich weiß nicht, was das neue Jahr bringen wird, aber Gott weiß es, und er meint es gut mit mir. Wenn diese Gewissheit meine ersten Schritte ins Jahr 2018 prägt, dann muss mir um die weiteren Schritte nicht mehr bange sein. Denn dann kann ich darauf vertrauen, dass alle meine Wege auch ohne Rauch- und Feuersäule Gottes Wege sein werden, so seltsam oder furchtbar sie mir auch vorkommen mögen. Und am Ende wird er sagen: „Sei mir willkommen, du hast dein Ziel erreicht.“ Amen.

Ihr Pastor Martin Klein