Predigt Talkirche, Sonntag, 30. März 2014

 Gottesdienst für den Sonntag Laetare

Text: Jes 54,7-10

Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser. Ich halte es wie zur Zeit Noahs, als ich schwor, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde gehen sollten. So habe ich geschworen, dass ich nicht mehr über dich zürnen und dich nicht mehr schelten will. Denn es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.

„Nieder mit den Alpen – freie Sicht aufs Mittelmeer!“ So skandierte die Schweizer Punk-Jugend vor dreißig Jahren, und auch hierzulande wurde der Spruch damals populär. Das war natürlich nicht gegen die Alpen an sich gerichtet, sondern gegen geistige Enge und Spießbür­gertum, die – so das Vorurteil – in engen Bergtälern besonders gut gedeihen. Die Schweizer Berge haben sich denn auch nicht wirklich daran gestört. Sie stehen immer noch unver­rückt an ihrem Platz.

Und genau darin liegt ja ein Großteil ihrer An­ziehungs­kraft: Alle Lebewe­sen, Pflanzen, Tiere und Menschen, ha­ben eine begrenzte Zeit: sie werden gepflanzt oder ge­boren, sie wachsen, wer­den alt und sterben. Die Berge aber haben schon un­zählige Generati­onen von Lebewesen kommen und gehen sehen und sind doch immer noch an Ort und Stelle. Und so wird es weiter sein, auch dann noch, wenn es irgendwann gar keine Menschen mehr ge­ben sollte, die sich darüber Gedanken machen. Aber trotzdem: auch die Berge sind nicht ewig. Ganz langsam, für uns kurzlebige Men­schen kaum zu beo­bachten, rücken ihnen Wind und Wetter zu Leibe und lassen sie Mil­limeter um Milli­meter schrumpfen. Und wo Men­schen nachhelfen, Schneisen in den Fels sprengen, Bergwälder ab­holzen und für Glet­scherschmelze und Erdrutsche sorgen, da geht es noch etwas schnel­ler. Wenn die Erde nur lange genug besteht, wir­d der alte Sponti-Spruch irgend­wann doch in Erfüllung gehen – vor­ausgesetzt es gibt dann noch ein Mittelmeer.

Auf Erden ist nichts ewig, und scheinbar Unverrückbares kann doch zusammenbrechen – das hatten auch die Menschen erlebt, zu denen Gott hier durch seinen Propheten spricht. Sie oder zumindest noch ihre Eltern hatten einst in Jerusalem gelebt – in der Stadt, wo sich für die alten Israeliten Himmel und Erde berührten. Denn dort hatte da­mals der Tempel des Herrn gestanden, der eine Ort auf Er­den, den sich der Gott Israels als Wohnstätte erwählt hatte. Natürlich war ihnen klar gewesen, was König Salomo einst bei der Einweihung des Tempels gebetet hatte: „Der Himmel und aller Himmel Himmel kön­nen dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich ge­baut habe?“ Trotzdem waren sie überzeugt gewesen, dass man dem Gott des Himmels und der Erde an diesem Ort näher sein konnte als irgendwo sonst, und zwar, weil Gott selber es so gewollt hatte. Des­halb waren sie davon ausgegangen, dass Jerusalem mit dem Tempel des Herrn unter seinem besonderen Schutz stand: „Darum fürchten wir uns nicht“, so hatten sie mit dem 46. Psalm gesungen, „wenn­gleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sän­ken. Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein. Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie fest bleiben; Gott hilft ihr früh am Morgen.“ Und sie hatten sich immer wieder gern erzählt, wie Jerusalem damals die Belagerung des mächtigen Assy­rerheeres überstanden hatte: Der Engel des Herrn hatte die Belage­rer geschla­gen – 185 000 Mann auf einen Streich – da hatten die Üb­rigen ent­setzt die Flucht ergriffen, und Jerusalem war gerettet. So weit die Legende. Dass König Hiskia den Abzug der Assyrer in Wahrheit durch Unterwerfung und hohe Tributzahlungen erkauft hatte, das vergaß man lieber.

Aber dann war das Unmögliche doch geschehen: ein Jahrhundert nach den Assyrern waren die Babylonier gekommen, hatten Jerusa­lem samt Tempel erobert und dem Erdboden gleich gemacht und hatten die „oberen Zehntausend“ vom König bis zu den kriegswich­tigen Handwerkern nach Babel verschleppt. Kein Engel des Herrn war erschienen, kein Schlag hatte die Babylonier getroffen, als se ihre Hand an die heiligen Geräte des Tempels legten. Und Propheten wie Jeremia hatten auch noch dazu aufgefordert, sich zu fügen und das Ganze als gerechte Strafe Gottes anzunehmen. Aber das war nicht der Gott, an den die Leute in Jerusalem geglaubt hatten: Ein Gott der sich gegen die eigenen Leute wendet und ihre Feinde als Werkzeug gebraucht? Nein, das konnte nicht sein. Eher war das alles eine Illu­sion gewesen: das Vertrauen auf Gottes Schutz und Bei­stand, auf seine Erwählung und seine Liebe zu seinem Volk – nichts als Einbil­dung! Aber worauf war dann überhaupt noch Verlass? Wo­ran sollten sie sich noch festhalten, enttäuscht und entwurzelt, fern von der Heimat, fern von Gott? Es war in der Tat, als wären die Berge einge­stürzt und ins Meer gesunken.

Diese Erfahrungen der Leute von Jerusalem sind uns nicht fremd. Auch wir glauben ja an einen Gott, der es gut mit uns meint. An ei­nen Gott der Liebe, der in jedem von uns Wohnung nehmen will wie damals im Tempel. An einen Gott der vergibt und uns annimmt, wie wir sind. An einen Gott, unter dessen Schutz und Beistand wir durchs Leben gehen. Danach suchen wir unsere Tauf-, Trau- und Konfirma­tionssprüche aus. Davon zeugen all die vielen irischen und sonstigen Segenssprüche, die unsere Kalender und Glückwunschkarten zieren. Davon handeln unsere Lieder und Geschichten. Und davon reden demnach auch wir Pfarrer am liebsten und ausführlichsten.

Aber so ist es ja nicht immer. Wir alle kennen doch die Momente, wo unsere ganze heile Glaubenswelt zusammenbricht, wo auch das fel­senfesteste Gottvertrauen zu Staub zerbröselt. Wo wir lieber denken, dass es gar keinen Gott gibt, als uns vorstellen zu müssen, dass er uns zürnt, dass er uns im Stich lässt, dass er gleichgültig schweigt, wenn wir um Hilfe schreien. Und je fester unser Gottvertrauen ist, desto schlimmer empfinden wir es, wenn es dann doch ent­täuscht wird. Erspart bleiben solche Enttäuschungen wohl niemandem.

Es ist gut und wichtig, dass unser Predigttext diese dunklen Seiten Gottes nicht verschweigt, wie wir es oft tun. Denn von Gottes Zorn und Abwesenheit lieber nicht zu reden, ist zwar in der Regel gut ge­meint, aber auf Dauer nicht hilfreich. Hier dagegen sagt Gott nicht: „Ich war in Wirklichkeit immer da, auch wenn du dich verlassen ge­fühlt hast“, sondern schlicht: „Ich habe dich verlassen, ich habe mein Angesicht vor dir verborgen“. Er sagt nicht: „Ich war in Wirk­lichkeit gar nicht zornig, das kam dir nur so vor“, sondern er gibt zu: Ja, es hat einen „Augenblick des Zorns“ gegeben, und es gab auch Gründe dafür.

Damit will ich nicht sagen, dass es für alles Leid, das uns trifft, einen Grund geben muss, den wir selber zu verantworten haben. Nicht alles Übel, das uns widerfährt, ist Gottes Strafe für unsere Schuld. Der Nachweis dafür ist bekanntlich schon den Freunden Hiobs nicht ge­glückt. Aber die entgegengesetzte Aussage ist genauso falsch: Nicht alles Leid hat mit Gott nichts zu tun. Nicht jede Abwesenheit Gottes ist unverdient. Nicht immer darf man nur von der Liebe und nicht vom Zorn Gottes reden. Dabei verstehe ich Gottes Zorn nicht als Gefühlsausbruch, in dem ihm sozusagen mal die Hand ausrutscht. Nach der Bibel besteht Gottes Zorn eher darin, dass er uns Menschen die negativen Konsequenzen unseres Handelns tragen lässt.

Dass Jerusalem damals zerstört und die Bewohner verschleppt wur­den, das war die Folge einer leichtsinnigen und überheblichen Poli­tik, und die wiederum kam daher, dass man sich fälschlicher­weise in Sicherheit wiegte: „Gottes Tempel ist hier“, so beruhigte man sich, „also wird uns schon nichts passieren!“ Dafür trugen die Bewohner der Stadt selber die Verantwortung – je nach Rang und Einfluss na­türlich in unterschiedlichem Maße. Also hatten sie sich auch die Strafe selber zuzuschreiben.

Das sollten wir uns auch für heute zu Herzen nehmen. Wenn ein Un­glück passiert, sollten wir nicht gleich das große „Warum?“ gen Him­mel schreien, sondern erst einmal nachfragen, welche Menschen ganz konkret welche Verantwortung dafür tragen, dass dieses Un­glück geschehen ist. Also: Welche meiner Krankheiten habe ich durch ungesunden Lebenswandel selber verursacht? Welche Häuser sind beim Erdbeben eingestürzt, weil sie schlampig gebaut waren? Wer alles hat Hitler gewählt und ihm zugejubelt, ihm gehorcht und ihn gewähren lassen und ist so mitschuldig geworden an seinen Ver­brechen? Von der Klärung solcher Fragen ist es natürlich noch ein weiter Weg bis dahin, die schlimmen Folgen meines Tuns und Las­sens als Strafe Gottes zu akzeptieren und ihn um Vergebung zu bit­ten. Das kann ich auch immer nur für mich selber tun und anderen nicht vorschreiben. Aber ich bin überzeugt, dass Schuld nur so wirk­lich zu bereinigen ist. Und dazu ist es wichtig, auch von Gottes Zorn zu reden.

Eins allerdings ist noch wichtiger: Gottes Zorn ist nie sein letztes Wort. Seine Abwesenheit ist nie für immer. Denn das will unser Pre­digttext ja eigentlich sagen: „Ich habe dich einen kleinen Augenblick verlassen, aber mit großer Barmherzigkeit will ich dich sammeln. Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen, aber mit ewiger Gnade will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, dein Erlöser.“ Und dann erinnert er an das schlimms­te Strafgericht, von dem die Bibel erzählt: Selbst die Sint­flut zu Noahs Zeiten hatte ihre Grenze. Selbst da gab es einen neuen Anfang mit den Menschen und Tieren, die aus der Arche kamen. Verglichen mit Gottes großer Barmherzigkeit, mit seiner unendlichen Güte und grenzenlosen Liebe währt sein Zorn immer nur einen Au­genblick.

Nicht dass das für uns immer auf der Hand liegt! Für die Israeliten damals waren schon bald fünfzig Jahre vergangen, seit Jerusalem in Trümmer fiel. Und viele von denen, die es miterlebt hatten, waren bereits gestorben. Für sie persönlich hatte der „Augen­blick“ des Zorns nie geendet. Und so haben Menschen seitdem im­mer wieder erlebt, dass ihr Schicksal sich nicht gewendet hat – trotz aller Ein­sicht in eigene Schuld, trotz allem Vertrauen auf Gottes Barmherzig­keit. Dass sie trotzdem da ist und gilt, dass da ein ver­lässlicher Bund besteht zwischen Gott und den Menschen, das kön­nen wir uns nicht selber irgendwo herleiten, sondern wir müssen es uns sagen lassen. Und deshalb kann auch ich heute Morgen nichts ande­res tun, als es uns einmal mehr zuzusprechen: „Es sollen wohl Berge weichen und Hü­gel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“

Dass das stimmt, kann ich keinem beweisen. Aber ich kann sagen, dass es sich lohnt, sich darauf einzulassen. Denn nur dann, dann aber ganz gewiss, kann man erleben, dass diese Zusage Gottes hält, was sie verspricht. Die, von denen die Worte des Propheten überliefert wurden, haben das damals getan, und sie haben erlebt, dass der Per­serkönig Kyros ihnen die Heimkehr gestattete, nachdem er Babylon erobert hatte, und dass sie den Tempel wiederaufbauen durften. Das war noch nicht alles, was der Prophet ihnen angekündigt hatte, aber es war doch genug, um zu sagen: „Ja, es stimmt, unser Gott hat sich uns wieder zugewendet. Seine Gnade ist nicht von uns gewichen.“ Viele Menschen, mit denen ich spreche, wissen auch heute aus ihrem Leben Ähnliches zu berichten, haben Bewahrung und Hilfe erfahren, haben gelernt, dass auch schwierige Wege gute Wege Gottes sein können. Das eine oder andere fällt mir selber auch dazu ein. Und deshalb hoffe ich, dass wir die letzte Strophe von Benjamin Schmolcks Lied zu unserem Predigttext gleich aus vollem Herzen miteinander singen können:

Nun, es sei mein ganz Vertrauen

felsenfest ihm zugetan.

Auf ihn will ich immer bauen,

er ist’s, der mir helfen kann.

Erd und Himmel muss vergehn,

Gottes Bund bleibt ewig stehn. Amen.

(Pfarrer Dr. Martin Klein)